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Josef, der Gerechte

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Eine zweite Überraschung in der Geburtsgeschichte findet sich direkt nach der Ahnentafel in Matthäus 1,18-19:

Mit dem Ursprung Jesu Christi verhielt es sich aber so: Als nämlich Maria, seine Mutter, dem Josef verlobt war, wurde sie, ehe sie zusammengekommen waren, schwanger befunden von dem Heiligen Geist. Josef aber, ihr Mann, der gerecht war und sie nicht öffentlich bloßstellen wollte, gedachte sie heimlich zu entlassen.

Die Frage ist: Was hat es zu bedeuten, dass Josef hier „gerecht“ genannt wird? Dieser Ausdruck bezieht sich normalerweise auf einen Menschen, der das Gesetz hält und gleiches Recht für alle herrschen lässt. Der Schuldirektor, der gerecht mit seinen Schülern umgeht, umgeht keine Vorschriften für seine Lieblingsschüler. In 5. Mose heißt es, wenn eine verlobte Jungfrau einen Mann in der Stadt trifft und mit ihm schläft, sollen beide gesteinigt werden (5Mo 22,23 f). Doch Matthäus 1,18-19 behauptet, weil Josef „gerecht“ war, beschloss er, das Gesetz des Mose zu brechen und sich in aller Stille von Maria zu trennen, anstatt sie öffentlich bloßzustellen. Über eine so mutige Tat lohnt es sich, ernsthaft nachzudenken.

Offenbar wendete Josef eine außergewöhnliche und unerwartete Definition von Gerechtigkeit auf diese Krise mit Maria an. Gerechtigkeit war für ihn mehr als nur „gleiches Recht für alle“. Hatte sich ihm ein umfassenderes Verständnis von Gerechtigkeit eröffnet?

Im Jahr 1843 schrieb der berühmte dänische Theologe und Philosoph Søren Kierkegaard ein Buch mit dem Titel Furcht und Zittern. Darin argumentiert er, dass bei echtem Glauben „der Einzelne als Einzelner in einem absoluten Verhältnis zum Absoluten steht“.46 Der Glaubende steht nackt und bloß vor Gott, ohne dass das Gesetz dazwischen stünde. Kierkegaards wichtigstes Beispiel für diese Blöße vor Gott ist die Geschichte von Abraham, der bereit war, Isaak zu opfern (1Mo 22), um Gott gehorsam zu sein. Alle Gesetze aus alter und neuer Zeit verbieten die Tötung des eigenen Sohnes. Abrahams Gehorsam Gott gegenüber verlangte von ihm, etwas zu tun, das gegen jegliches Gesetz ging. Kierkegaard erwähnt auch Maria, die in einem „absoluten Verhältnis zum Absoluten“ Gottes Willen akzeptierte und dabei „die Not …, die Angst, das Paradox“ erlebte.47 Als drittes Beispiel hätte Kierkegaard Josef anführen können, der in seinem Gehorsam gegen eine höhere Gerechtigkeit über die ethischen Erwartungen des Gesetzes hinausging. Diese erhabene Sicht von Gerechtigkeit konnte er bei Jesaja finden.

In den Prophezeiungen Jesajas findet sich ein Bild eines besonderen „leidenden Knechts“, durch den Gott eines Tages rettend in die Geschichte eingreifen würde. Es gibt vier einzigartige Lieder im Buch Jesaja, die diesen Knecht beschreiben. Das erste steht in Jesaja 42,1-9; dort heißt es in Vers 3:

Das geknickte Rohr wird er nicht zerbrechen,

und den glimmenden Docht wird er nicht auslöschen.

In Treue bringt er das Recht hinaus.

Gerechtigkeit, so, wie sie von diesem besonderen Knecht Gottes verstanden wird, ist weder „vergeltende Gerechtigkeit“ (du schadest mir und ich sorge dafür, dass dir auch geschadet wird) noch „gleiches Recht für alle“ (ich zahle meine Steuern und du musst das auch). Vielmehr bedeutet Gerechtigkeit hier Barmherzigkeit den Schwachen und Erschöpften gegenüber. Die Bildsprache in diesem Text ist auffällig und eindrücklich. Schilfrohr wurde in der antiken Welt als Schreibwerkzeug verwendet. Im südlichen Irak wurde es bis vor Kurzem zum Bau für Häuser und Boote eingesetzt – natürlich nur, wenn es unbeschädigt war. Doch was kann man mit einem zerdrückten Rohr anfangen? Man kann es nur zerbrechen und zum Kochen oder Heizen ins Feuer zu werfen.

Jedes Haus braucht Beleuchtung. Dazu wurden früher kleine Tonlampen mit Olivenöl gefüllt. Die Dochte solcher Lampen hingen aus einer Tülle an der Seite der Lampe heraus. Wenn das Öl zur Neige ging, bestand die Gefahr, dass der Docht durchbrannte und das brennende Ende aus der Tülle fiel und einen Brand verursachte. Um das zu verhindern, wurde oft eine Schale Wasser unter die Lampe auf den Boden gestellt. Doch der Gottesknecht, der in Jesaja 42 beschrieben wird, wird weder das Rohr zerbrechen noch den Docht auslöschen. Er wird in Treue Gerechtigkeit bringen.

Josef blickte über die vom Gesetz vorgeschriebenen Strafen hinaus, um einer jungen Frau, die zweifellos verletzt und erschöpft war, zart und liebevoll zu begegnen. Vielleicht betrachtete er Maria als „glimmenden Docht“. Diese prophetische Definition von Gerechtigkeit erforderte eine barmherzige Sorge um die Schwachen, Unterdrückten und Ausgestoßenen in ihrer Not. In seinem Umgang mit Maria handelte Josef aus dieser prophetischen Definition von Gerechtigkeit heraus. Wäre sie nicht in Josefs Denken verankert gewesen, wäre Jesus nicht geboren worden. Darum ist Josef keine passive, stumme Figur. Vielmehr handelt er als starker, umsichtiger Mensch, dessen mutige Entscheidung in einer Krisensituation das Leben der Mutter und des ungeborenen Kindes rettet.

Jesus war kein Europäer

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