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Zu wessen Rettung kam Jesus auf die Welt?

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In Matthäus 1,20-21 sagt der Engel zu Josef: „Josef, Sohn Davids, fürchte dich nicht, Maria, deine Frau, zu dir zu nehmen! Denn das in ihr Gezeugte ist von dem Heiligen Geist. Und sie wird einen Sohn gebären, und du sollst seinen Namen Jesus nennen, denn er wird sein Volk retten von seinen Sünden.“

Im Hebräischen oder Aramäischen steht hier ein Wortspiel, das sich auf Griechisch oder Deutsch nicht wiedergeben lässt. „Jesus“ in seiner hebräischen Form ist Jēšûa‘ und das Verb „retten“ ist jāša‘. Wenn man Deutsch und Hebräisch in einem Satz kombiniert, kann man es so übersetzen: „Sein Name wird Jēšûa‘ sein, denn er wird sein Volk jāša‘.“

Im ersten Jahrhundert lebten die Juden im Heiligen Land unter römischer Besatzung. Vor den Römern stand das Land unter griechischer und davor unter persischer Herrschaft. Zur Zeit Jesu gehörte ein großer Teil des Landes Ausländern, Eigentümer ausgedehnter Ländereien. Die einheimischen Bauern waren gezwungen, Land zu pachten, und wurden oft ungerecht behandelt. Der jüdische Aufstand in den Sechzigerjahren des ersten Jahrhunderts entzündete sich teilweise an der wirtschaftlichen und politischen Unterdrückung des Volkes.

In einer Situation politischer und wirtschaftlicher Unterdrückung wünschen sich die Menschen natürlich Rettung – doch wovon? Natürlich ersehnen sie sich Befreiung von ihren Unterdrückern. Ein anschauliches Beispiel ist der prophetische Freudengesang über den Fall Babylons in Jesaja 47. Dort heißt es unter anderem:

Steig herunter und setz dich in den Staub,

Jungfrau, Tochter Babel!

Setz dich auf die Erde ohne Thron,

Tochter der Chaldäer! […]

Nimm die Mühle und mahle Mehl!

Schlage deinen Schleier zurück,

hebe die Schleppe, entblöße die Schenkel,

wate durch Ströme!

Deine Blöße soll aufgedeckt,

ja, deine Schande gesehen werden!

Ich werde Rache nehmen

und Menschen nicht verschonen.

Jesaja 47,1-3

Dieser Text bringt eine verständliche, unverhohlene (Schaden-)Freude über den Fall des verhassten Gegners zum Ausdruck. Wenn ein Prophet mit einem unter Besatzung stehenden Volk über Sünde und Rettung sprechen will, findet er diese Begriffe bereits schon definiert. Die Konzept von Sünde wird dadurch geprägt, was die Menschen von ihren Unterdrückern erleiden müssen, und das Wort Rettung verleiht ihrer Sehnsucht Ausdruck, von dieser Unterdrückung befreit zu werden. Solche Menschen haben nur wenig Verständnis für jemanden, der über ihre Sünden spricht und die Notwendigkeit, von diesen Sünden gerettet zu werden. Unterdrückte Menschen nehmen ihre eigenen Fehler angesichts dessen, was sie von anderen erleiden müssen, im Verhältnis viel kleiner wahr. Spricht man über ihre Sünden, wird dies als Relativierung der grausamen Umwelt wahrgenommen. Nur ein mutiger Mann oder eine mutige Frau kann solchen Menschen sagen, dass sie Rettung von ihren Sünden brauchen.

Während der Zeit der Apartheid gab der südafrikanische Erzbischof Desmond Tutu eine Sammlung seiner Predigten und Vorträge heraus. Ich las dieses ehrliche und bewegende Buch mit Dankbarkeit und Wertschätzung. Natürlich spricht Tutu von den Sünden der Unterdrücker und mahnt, Außenstehende sollten der Apartheid in Südafrika nicht „objektiv“ gegenüberstehen. Eine solche Haltung, schreibt er, gliche dem Betrachter, der einen Elefanten beobachtet, der auf dem Schwanz einer Maus steht. Es sei für eine Maus nicht besonders tröstlich, wenn man ihr mitteile, man sei unparteiisch, während auf ihrem Schwanz ein Elefant stehe. In diesem Fall unterstützte man in Wirklichkeit den Elefanten in seiner Grausamkeit.51

Zuerst muss der Außenstehende dem Elefanten befehlen, den Fuß von der Maus zu nehmen, bevor beide Standpunkte diskutiert werden können. Dem stimme ich voll und ganz zu. Doch was, wenn die Maus andere Mäuse unterdrückt? Der Beobachter darf den Elefanten nicht vergessen, doch muss er deshalb die Unterdrückung, die die Maus ausübt, ignorieren? Was für ein Licht werfen diese Überlegungen auf Jesu Wirken?

In der Geburtsgeschichte ist der Name des Kindes Jēšûa‘, Jesus (Retter), und der Text versichert, dass er jāša‘, sein Volk von ihren Sünden retten wird. Diese Botschaft ist gewiss ein wichtiger Grund, warum Jesus auf Widerstand stieß und sein irdisches Leben an einem Kreuz endete. Ebenso wie Johannes der Täufer bestand er darauf, kritische Dinge über sein eigenes Volk zu sagen, das tatsächlich unterdrückt war.

Das zeigt sich deutlich und eindrücklich in Lukas 13, wo Leute aus dem Volk zu Jesus kamen und berichteten, Pilatus habe einige Menschen töten lassen, während sie Opfer im Tempel darbrachten. Was könnte schlimmer sein, als dass eine Gruppe von Menschen im heiligsten Moment und am heiligsten Ort ihrer religiösen Pilgerreise von ausländischen Soldaten getötet wird?

Übertragen in einen christlichen Kontext wäre es so, als würden Terroristen eine Kirche stürmen und mitten im Abendmahlsgottesdienst den Pastor und seine Gemeinde erschießen! Mit solch einem Bericht über Pilatus wurde Jesus konfrontiert. Man berichtete ihm von Gräueltaten, und seine Gegner waren anwesend und konnten seine Reaktion sehen. Natürlich erwartete man von ihm, dass er sein Gewand zerriss, sich an die Brust schlug und ausrief: „Wie lange noch, o Herr? Wann wirst du kommen und dein Volk retten und uns von dieser brutalen Besatzung befreien?“

Jesus allerdings gab eine erstaunliche Antwort: „Wenn ihr nicht Buße tut, werdet ihr alle ebenso umkommen“ (V. 5). In einer Situation der Unterdrückung bedarf es außergewöhnlichen Muts, um den unterdrückten Menschen vor Augen zu halten, dass sie alle Sünder sind und alle Buße tun müssen, weil jeder auf Gnade angewiesen ist. Der Engel macht Josef diese theologische Wahrheit bereits vor der Geburt Jesu bewusst, als er verkündet: „Und du sollst seinen Namen Jesus nennen, denn er wird sein Volk retten von seinen Sünden.“ Das Hauptproblem des Volkes ist ihre Sünde – die römische Besatzung ist eine wichtige Frage, aber zweitrangig.

Das gleiche Thema in anderer Form begegnet dem Leser im Lobgesang des Zacharias. In Lukas 1,68-69 heißt es:

Gepriesen sei der Herr, der Gott Israels,

dass er sein Volk angesehen und ihm Erlösung geschaffen hat.

Er hat uns ein Horn des Heils aufgerichtet

im Hause Davids, seines Knechtes […]

Das ist eindeutig eine gute Nachricht für alle. Zacharias fährt in den Versen 70 bis 71 fort:

[…] wie er geredet hat durch den Mund seiner heiligen Propheten von Ewigkeit her:

Rettung von unseren Feinden und von der Hand aller, die uns hassen;

[Hervorhebung von mir]

Zacharias ist immer noch „politisch korrekt“. Diese Botschaft ist genau das, was das Volk hören wollte. Der Messias wird die römischen Unterdrücker und die kultisch unreinen Nichtjuden aus ihrer Mitte vertreiben. Durch den Messias wird Gott sie von ihren Feinden retten und von der Hand aller, die sie hassen.

Doch dann gibt Lukas 1,76-77 einige Worte von Zacharias über seinen Sohn Johannes wieder:

[…] denn du wirst vor dem Angesicht des Herrn hergehen,

seine Wege zu bereiten, um seinem Volk Erkenntnis des Heils zu geben

in Vergebung ihrer Sünden [Hervorhebung von mir]

Plötzlich sind die Rollen vertauscht. Jetzt besteht das Problem des Volkes nicht mehr in „denen, die uns hassen“, sondern darin, dass sie Rettung von ihren eigenen Sünden benötigen. Die Unterdrückten sind ebenfalls Sünder! Ein Retter für Sünder ist ein Retter für alle, denn alle sind Sünder.

Diese Sichtweise ist sehr alt. So heißt es bereits in Prediger 4,1:

Und ich wandte mich und sah all die Unterdrückungen,

die unter der Sonne geschehen.

Und siehe, da waren Tränen der Unterdrückten,

und sie hatten keinen Tröster.

Und von der Hand ihrer Unterdrücker ging Gewalttat aus,

und sie hatten keinen Tröster.

In diesem Text sitzen sowohl die Unterdrücker als auch die Unterdrückten in einem Gefängnis, aus dem sie nicht entkommen können. Beide sind auf Gnade von außerhalb des Gefängnisses angewiesen. Der Text im Lukasevangelium spricht von der Rettung vor den Feinden und von der Rettung vor dem inneren Dilemma der Sünde.

Jesus war kein Europäer

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