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Josef kochte vor Wut …
ОглавлениеMatthäus erzählt seinen Lesern nicht nur, was Josef tut, sondern auch, was er fühlt. Josef erfuhr aus seinem Umfeld, dass seine Verlobte schwanger war (Mt 1,20). Die Vision des Engels, in der ihm mitgeteilt wurde, dass Marias Schwangerschaft von Gott gewirkt war, empfing er erst später. Was empfand Josef also, als er die vernichtende Nachricht erhielt? Die übliche Übersetzung eines entscheidenden griechischen Wortes ist zwar zulässig, führt jedoch in die Irre. In deutschen Bibelübersetzungen heißt es: „Während er dies aber überlegte …“ (ELB) oder „Während er darüber nachdachte …“ (HFA). Das griechische Wort, das mit „überlegen“ oder „nachdenken“ übersetzt wird, lautet enthymēomai und hat zwei Bedeutungen. Eine davon ist tatsächlich „er überlegte“ bzw. „bedachte“. Eine zweite Bedeutung ist aber „er wurde wütend“.48 Und ist es nicht natürlich, dass er Wut empfand?
Vielleicht hat die jahrhundertelange Verehrung des „heiligen Josef“ zu der Annahme geführt, dass er nicht wütend gewesen sein konnte – schon gar nicht auf Maria! Doch damit würde man völlig darüber hinwegsehen, dass er ein normaler Mensch war. Erwartete man von ihm, dass er still dasaß und über die Sache „nachdachte“, als er von der Schwangerschaft seiner Verlobten erfuhr? Wäre er nicht vielmehr natürlicherweise zutiefst enttäuscht und durchaus wütend? Wie bereits angemerkt, führte ihn sein Verständnis von Gerechtigkeit dazu, „das Richtige zu tun“ und Maria auf menschliche Art und Weise zu behandeln. Doch hielt ihn das davon ab, sich betrogen zu fühlen und wütend darüber zu sein? Die Wurzel des hier verwendeten griechischen Verbs ist thymos, das in den Evangelien noch einmal auftaucht, um die „Wut“ der Versammlung in der Synagoge zu beschreiben, als sie sich erhob und Jesus steinigen wollte (Lk 4,28 f). Im gesamten Neuen Testament kommt der gleiche Begriff wortgenau nur noch ein einziges Mal vor, nämlich im Bericht über die Weisen aus dem Morgenland: Dort heißt es, Herodes „ergrimmte sehr“ als er entdeckte, dass die Weisen Bethlehem verlassen hatten, ohne ihm den Aufenthaltsort des kleinen Kindes mitzuteilen (Mt 2,16).
In Apostelgeschichte 10,19 taucht das Verb aus Matthäus 1,20 wieder auf, als Petrus in einer Vision den Auftrag erhält, eine nicht jüdische Familie zu besuchen. Juden betrachteten Nichtjuden als unrein, und natürlich war Petrus aufgebracht über diese Vision. Auch hier heißt es in den Übersetzungen meist, dass er über die Vision „nachdachte“; doch die Wurzeln des hier verwendeten griechischen Begriffs legen nahe, dass er wütend war, weil die Vision seine lange vertretenen Ansichten auf den Kopf stellte. Sie zwang Petrus, seine gesamte Sichtweise auf das Handeln Gottes in der Welt zu ändern. Sein Leben lang hatte Petrus geglaubt, es sei seine Pflicht als Jude, nichts mit Nichtjuden zu schaffen zu haben. Sollte er nun plötzlich diese Sichtweise, die jahrhundertelang gang und gäbe war, über den Haufen werfen? Man erwartet geradezu, dass er aufgebracht war. Vielleicht fragte er: „Wie kann Gott mir das antun?“
Auch in unserem Text ist dem Wort die Präposition en vorangestellt, sodass en-thymēomai entsteht. Diese besondere Form des Wortes findet sich nur noch an einer anderen Stelle im Neuen Testament (ebenfalls bei Matthäus), in Verbindung mit dem Wort böse: „Als aber Jesus ihre Gedanken sah, sprach er: Warum denkt ihr so Böses in euren Herzen?“ (Mt 9,4 LUT). Auch hier wird wieder Wut unterstellt. Eine Analyse des Wortes zeigt, dass es mit Wut in (griech.: en) dem Menschen zu tun hat. Das passt sehr gut zu Josefs Gefühlen bei Erhalt der schockierenden Nachricht.
Dieses Textverständnis ist übrigens nicht unbelegt. Die älteste arabische Übersetzung dieses Textes, die aufs achte Jahrhundert oder sogar noch früher datiert werden kann, gibt diesen Satz folgendermaßen wieder: „Während er wegen dieser Sache beunruhigt war …“49 Der unbekannte Übersetzer dieser bedeutenden frühen arabischen Fassung wusste, dass Josef aufgebracht war. Wenn man all diese Aspekte zusammenfasst, ist „während er wegen dieser Sache vor Wut kochte“ vielleicht eine treffendere Übersetzung des griechischen Wortes und erfasst besser die Echtheit dieser menschlichen Szene.50
In Josefs Kurzauftritt beschreibt Matthäus ihn als einen Menschen mit bemerkenswertem geistlichem Profil. Er besitzt die Tapferkeit, die Kühnheit, den Mut und die Charakterstärke, sich gegen sein gesamtes Umfeld zu stellen und Maria zur Frau zu nehmen – all denen zum Trotz, die sie zweifellos steinigen wollten. Seine Sicht von Gerechtigkeit hinderte ihn daran, sich von seiner Wut leiten zu lassen, und er konnte sie in Gnade ummünzen.
Zwei Gleichnisse Jesu handeln von der gleichen bemerkenswerten Fähigkeit. Im Gleichnis vom großen Festmahl wird ein Mann öffentlich beleidigt. Im Zorn beschließt er, den unwürdigen Außenseitern der Gesellschaft Gnade zu erweisen (Lk 14,16-24). Im zweiten Gleichnis legt ein Mann einen Weinberg an und verpachtet ihn. Als der Verpächter seine Diener losschickt, um den Pachtzins einzusammeln, werden die Diener von den Pächtern misshandelt, beleidigt, geschlagen und getötet. Der Herr entscheidet sich, statt Zorn seine Gnade walten zu lassen, und sendet seinen Sohn – allein und namenlos. Er hofft, dass die Pächter dieser Ausdruck vollkommener Verletzlichkeit beschämen würde (Mk 12,1-12). Hatte Jesus lebende Vorbilder vor Augen, als er die Gleichnisse des Gastgebers und des Verpächters erzählte?
Schließlich ist zu bedenken, dass im Nahen Osten normalerweise die Männer ihre Familien in offiziellen oder rechtlichen Sachen vertreten. Warum nahm Josef Maria mit sich nach Bethlehem zur Volkszählung? Die einfachste Erklärung ist, dass er nicht genau wusste, was ihr in Nazareth zustoßen würde, wenn er nicht da war, um sie zu beschützen. Wir tun gut daran, Josef als Held der Geschichte zu sehen, ohne dessen Mut und Verständnis der Propheten es keine Weihnachtsgeschichte zu erzählen gäbe.