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Simeon und Hanna – Mann und Frau
ОглавлениеEs gibt noch eine andere Facette der Geschichte, die oft übersehen wird. Als Säugling wurde Jesus im Tempel Simeon vorgestellt (Lk 2,25-32). Die Aussage des ehrwürdigen Simeons über Jesus ist überwältigend: Dieses Kind sei gekommen, um Israel und die nicht jüdischen Völker zu retten. Dann tritt plötzlich und unerwartet eine alte Frau namens Hanna auf und „lobte Gott und redete von ihm [Jesus] zu allen, die auf die Erlösung Jerusalems warteten“ (Lk 2,38). Offenbar konnte Lukas keinen Zeugen finden, der die genauen Worte Hannas berichtete. Wir haben nichts weiter als einen Hinweis auf die Hoffnungen ihrer Zuhörer. Klar ist, dass Lukas beschloss, ihr keine Worte in den Mund zu legen. Warum wird sie also überhaupt erwähnt?
In seinem ganzen Evangelium betont Lukas immer wieder einen beachtenswerten Aspekt: Er macht deutlich, dass dieser Retter für Männer und Frauen gekommen ist. Eine sorgfältige Untersuchung des Lukasevangeliums ergibt mindestens siebenundzwanzig Geschichtenpaare, bei denen ein Mann und in der parallelen Erzählung eine Frau die tragende Rolle spielt.65
Darunter befinden sich das Gleichnis vom guten Hirten und dem verlorenen Schaf auf der einen Seite und das Gleichnis einer guten Frau mit einer verlorenen Münze auf der anderen (Lk 15,3-10). Das erste stellt ein Beispiel aus der Männerwelt, das zweite aus der Erfahrungswelt der Frauen dar. Weiterhin lesen wir die Geschichten des Bauern, der ein Senfkorn in seinem Garten aussät, sowie von der Frau, die Sauerteig unter ihren Brotteig mengt (Lk 13,18-21). Auch hier stammt das eine Beispiel aus der Erfahrungswelt der Männer und das andere aus dem Alltag einer Frau. So enthalten auch die Geschichten um Jesu Geburt, die Lukas aufzeichnete, drei solche Paare:
1. Gabriel erscheint zwei Menschen: Zacharias und Maria.
2. Zwei Lieder werden gesungen: eines von Zacharias und das andere von Maria.
3. Im Tempel gibt es zwei Zeugen: Simeon und Hanna bezeugen den Erlösungsplan Gottes, der sich durch Jesus erfüllt.
Zugegebenermaßen wird Simeon mehr Aufmerksamkeit gewidmet als Hanna. Doch wenn man Zacharias und Maria vergleicht, spielt Maria die prominentere Rolle. Ihre Reaktion auf die gute Nachricht von Gabriel besitzt eine höhere Qualität als die von Zacharias. Die Verheißung eines Sohnes für Zacharias schenkte ihm die Erfüllung seines Traumes, die ihn jedoch nichts kostete. Trotzdem glaubte er diese gute Nachricht nicht, weil seine Frau über das gebärfähige Alter hinaus war. Infolgedessen sah er sich einem zweiten Wunder gegenüber: Bis zur Geburt des Kindes blieb er stumm.
Im Gegensatz dazu erfuhr Maria, dass sie durch Gottes Wirken einen Sohn zur Welt bringen würde. Anders als bei Zacharias hätte das Geschenk, das ihr angeboten wurde, ihren Tod bedeuten können. Doch im Gegensatz zu Zacharias akzeptierte sie diesen Preis der Nachfolge still und antwortete demütig: „Es geschehe mir nach deinem Wort.“ Dann wurde auch sie Zeugin eines zweiten Eingreifens Gottes. Doch ihr zweites Wunder bestand in der guten Nachricht, dass ihre Cousine ein Kind erwartete. Statt eines Gerichtswunders wurde sie Zeugin eines Segenswunders.