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Die dritte Seligpreisung

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Glückselig die Sanftmütigen,

denn SIE werden das Land erben.

Jesus bezeichnete sich selbst als Propheten und wurde auch von vielen anderen so genannt. Jeder Prophet Israels, der über „das Land“ spricht, meint damit vor allem das Heilige Land Israel bzw. Palästina. Das griechische Wort für „Land“ in diesem Text ist gē, das in der griechischen Version des Alten Testaments über zweitausend Mal als Übersetzung für das hebräische Wort ’arez verwendet wird. In der biblischen Literatur wird mit gē Folgendes bezeichnet:

1. Land im Allgemeinen

2. das Land der Verheißung

3. die bewohnte Erde

4. die Erde als Bühne der Geschichte.74

Aus dem Mund von Jesus bezeichnet das Wort ’eres (Land) in diesem Text zweifellos das „verheißene Land“. Es sind drei Verse aus Psalm 37, die Jesus hier zitiert und leicht umformuliert:

Denn die Übeltäter werden ausgerottet; aber die auf den Herrn hoffen, die werden das Land besitzen. […] Aber die Sanftmütigen werden das Land besitzen und werden ihre Lust haben an Fülle von Heil. […] Die Gerechten werden das Land besitzen und für immer darin wohnen.

Psalm 37,9.11.29

Der genannte Psalm bezieht sich auf Israel, und das „Land“ und das „Erbe“ sind das verheißene Land. Dieser Hintergrund ist für das Verständnis der Seligpreisung wichtig.

Wichtig ist auch die Reihenfolge der bisher betrachteten Seligpreisungen. Zuerst sagte Jesus den Jüngern, dass das Königreich Gottes den Armen im Geist gehört, nicht den Arroganten und Aggressiven. Dann erklärte er, dass die Trauernden glückselig sind. Im ersten Jahrhundert war die Gegend von Galiläa, Samarien und Judäa von Kriegen und Kriegsgeschrei heimgesucht, und Jesu Aussage musste bei den Zuhörern Jesu auf Resonanz stoßen, die selbst keine politische Macht besaßen. Hier nun verspricht Jesus, dass die Sanftmütigen das Land (Israel) erben werden, nicht die Mächtigen. Rom und die Zeloten sollten bald in einen uneingeschränkten Krieg um politische und militärische Kontrolle in diesem Land verwickelt werden. Allerdings besaß Jesus eine andere Vorstellung davon, wer ein Recht auf das Land habe. Es ging nicht darum, ethnisch von einem bestimmten Patriarchen abzustammen. Sich auf die Seite von Herodes’ Anhängern zu schlagen, die zu faulen Kompromissen bereit waren, nur um an der Macht zu bleiben, war keine Option. Sich den Zeloten anzuschließen war ebenso wenig empfehlenswert. Was für eine seltsame Behauptung: Über die Sanftmütigen heißt es, sie hätten bereits den ersten Platz in der Erbfolge des Landes, das Abraham verheißen war.

Natürlich wurden diese grundlegenden Aussagen von Jesus über die Grenzen der ursprünglichen Zuhörerschaft hinaus weitererzählt, und im Zuge dessen erweiterte sich ihre Bedeutung. Als Juden und Nichtjuden Jahrzehnte später das Matthäusevangelium auf Griechisch lasen, betrachteten sie „das Land“ als „die Erde“ und dachten an die gesamte erschaffene Welt. Paulus denkt in die gleiche Richtung, wenn er über der Verheißung des Landes an Abraham spricht, und weitet diese Verheißung universell auf die ganze Erde aus. Er redet von der „Verheißung …, dass er der Welt Erbe sein sollte“ (Röm 4,13). Später im gleichen Brief erklärt er, „dass die ganze Schöpfung bis zum heutigen Tag seufzt und in Geburtswehen liegt“ und darauf wartet, „dass wir mit der Erlösung unseres Leibes als Söhne offenbar werden“ (Römer 8,22-23; EÜ). In beiden Texten ist davon die Rede, dass die ganze Natur zum Erbe von Gottes Familie wird.

Jesu ursprüngliche Zuhörerschaft hörte ihn über „das Land“ sprechen und darüber, wer es als Erbe beanspruchen durfte: „die Sanftmütigen“ und nicht „die ethnischen Nachfahren eines bestimmten Menschen“ oder „gewalttätige Menschen“. Wir können davon ausgehen, dass Matthäus’ Leser den gleichen Text so verstanden, dass die ganze Erde als kostbares Erbe für die Kinder Gottes vorgesehen ist, die für sie sorgen und im Einklang mit ihr leben werden. Doch in beiden Fällen ist es wichtig zu fragen: Wer sind die Sanftmütigen?

Das hebräische bzw. aramäische Wort, das Jesus wahrscheinlich verwendete, und das griechische Wort, das im Neuen Testament erscheint, haben jeweils einen unterschiedlichen Schwerpunkt – eine Nuance, die das Textverständnis bereichert.

Das hebräische Wort ‘ānî (arm/bescheiden) beschreibt die Eigenschaft, Gottes Führung gehorsam anzunehmen. Der griechische Begriff praÿs meint dagegen nicht die Beziehung des Menschen zu Gott, sondern zu seinen Mitmenschen. In seiner Nikomachischen Ethik (4. Jh. v. Chr.) definiert Aristoteles praÿs als Tugend, die einen Mittelweg zwischen Leichtsinn und Feigheit findet. Für Aristoteles war der Weg der Tugend immer die „goldene Mitte“ zwischen zwei Extremen. Wer wahrhaft praÿs (sanftmütig) ist, wird aus den richtigen Gründen auf die richtige Person, auf die richtige Art und Weise, im richtigen Augenblick und für die richtige Zeitspanne wütend.75 Das dem Text zugrunde liegende hebräische Wort fordert uns dazu auf, Gottes Führung anzunehmen und gehorsam seinem Willen zu folgen. Das griechische Wort rät uns, Probleme, Dispute und Meinungsverschiedenheiten mit Augenmaß zu lösen und Extreme zu vermeiden. Beide Bedeutungsnuancen sind kleine Schätze in diesem Text.

Im Talmud diskutieren die frühen Rabbinen über die Gründe für die Zerstörung der beiden Tempel. Rabbi Johanan sagte: „Weswegen wurde der erste Tempel zerstört? – wegen dreier Sünden, die da begangen wurden: Götzendienst, Hurerei und Blutvergießen […]. Weswegen aber wurde der zweite Tempel zerstört […]? – Weil dann grundlose Feindschaft geherrscht hatte.“ Weiter erklärt er, dass „grundlose Feindschaft die drei Sünden, Götzendienst, Hurerei und Blutvergießen, aufwiegt“.76 Solche grundlose Wut ist das genaue Gegenteil der Sanftmütigkeit, um die es in unserem Text geht. Doch was ist mit gerechtem Zorn?

Der Prophet Habakuk beschreibt die schreckliche Macht der Chaldäer. Inmitten seiner Schilderung heißt es: „Von ihr selbst [d. h.: von dieser Nation] gehen ihr Recht und ihre Hoheit aus“ (Hab 1,7). Die Chaldäer schufen ihre eigene Definition von Gerechtigkeit. Für den Propheten war das schrecklich. Gott definiert Gerechtigkeit und verleiht ihr einen objektiven Wert. Begegnet den Gläubigen, was nach Gottes Maßstab Unrecht ist, ist Zorn sicher angebracht. Wer die Messlatte göttlicher Gerechtigkeit anlegt, gehört zu den Sanftmütigen (vor Gott) und setzt sich für Gottes Gerechtigkeit ein. Sie werden das Land bzw. die Erde erben.

Im Nachdenken über solche Dinge fühlt man sich ein wenig wie Paulus, der versuchte, Gottes Weisheit zu durchdringen, und schließlich ausrief: „Welche Tiefe des Reichtums, sowohl der Weisheit als auch der Erkenntnis Gottes! Wie unerforschlich sind seine Gerichte und unaufspürbar seine Wege!“ (Röm 11,33). Eine vorsichtige erste Zusammenfassung könnte folgendermaßen aussehen:

Jesus war kein Europäer

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