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Das Wesen der Gerechtigkeit

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Die großen Worte ṣědāqâh (hebräisch) und dikaiosynē (griechisch) sind in der Bibel theologische Schwergewichte. Der Artikel im Theologischen Wörterbuch zum Neuen Testament zu diesen und den damit verwandten Begriffen erstreckt sich über 53 dicht gefüllte Seiten.77 Der Schlüssel zu alledem liegt darin, dass ṣědāqâ nicht eine „absolute ideelle ethische Norm“78 bezeichnet, sondern „durchaus ein Verhältnisbegriff ist und eine Beziehung bezeichnender Begriff“ ist. „Jedes Verhältnis bringt bestimmte Ansprüche an das Verhalten mit sich, und die Befriedigung dieser Ansprüche, welche sich aus dem Verhältnis ergeben und bei welcher allein das Verhältnis bestehen kann, wird mit unserem Begriff [ṣædæq] bezeichnet.“79

Angesichts eines so fundamentalen Begriffes ist klar, dass Gerechtigkeit wie ein Diamant mit vielen Facetten ist. Vier davon wollen wir kurz näher betrachten.

Erstens bezieht sich Gerechtigkeit in der biblischen Literatur häufig auf die mächtigen Heilstaten Gottes. Auch hier ist von Rads Einsicht hilfreich: „Von den ältesten Zeiten an hat Israel Jahwe als den gefeiert, der seinem Volk die universelle Gabe seiner Gerechtigkeit zuwendet. Und diese Israel zugewandte [ṣědāqâ] ist immer Heilsgabe.“80 Eine der Stellen, an denen dies deutlich zum Ausdruck kommt, findet sich in Micha 6,3-5:

„Mein Volk, was habe ich dir angetan,

und womit habe ich dich ermüdet? Sage aus gegen mich!

Ja, ich habe dich aus dem Land Ägypten heraufgeführt

und aus dem Haus der Sklaverei erlöst;

und ich habe Mose,

Aaron und Mirjam vor dir hergesandt.

Mein Volk, denk doch daran, was Balak, der König von Moab, beratschlagt,

und was Bileam, der Sohn des Beor, ihm antwortete,

denk an den Übergang von Schittim bis Gilgal,

damit du die gerechten Taten [wörtlich: die Gerechtigkeiten] des HERRN erkennst!“

In diesem Text erinnert Gott noch einmal an seine mächtigen Taten zur Rettung Israels und ruft das Volk dazu auf, sich an diese zu erinnern. Das erklärte Ziel dieser Erinnerung ist, „damit du die ṣědāqôt [‚Gerechtigkeiten‘] des HERRN erkennst“. Die Einheitsübersetzung schreibt für ṣědāqôt richtigerweise „die rettenden Taten“. Genau das ist in diesem Text gemeint. Denn diese rettenden Heilstaten brachten Israel nicht nur in Sicherheit, sondern verliehen ihm auch einen neuen Stand.

Gerechtigkeit hat zweitens die Bedeutung, „für gerecht erklärt“ zu werden. Rudolf Bultmann schreibt:

Er [der Gerechtigkeitsbegriff] meint nicht die ethische Qualität, überhaupt nicht eine Qualität der Person, sondern eine Relation; d. h. δικαιοσύνη hat die Person nicht für sich, sondern vor dem Forum, vor dem sie verantwortlich ist.

Weiter schreibt er:

Mit […] Mt 5,6 sind offenbar nicht diejenigen gemeint, die sich „immer strebend“ um sittliche Vollkommenheit „bemühen“, sondern diejenigen, die sich danach sehnen, dass Gottes Spruch im Gericht über sie das Urteil „gerecht“ fällt.81

Dieses Verständnis von Gerechtigkeit als „gerecht gesprochen zu sein“ taucht auch in Jesaja 54,10-17 auf, wo es heißt (V. 10.14.17):

Aber meine Gnade wird nicht von dir weichen

und mein Friedensbund nicht wanken […]

Durch Gerechtigkeit [ṣědāqâ] wirst du fest gegründet sein. […]

Das ist das Erbteil der Knechte des HERRN

und ihre Gerechtigkeit [ṣědāqâ] von mir her, spricht der HERR.

Schrenk schreibt: „Gottes Gerechtigkeit nimmt als sein richterliches Walten die Gestalt an, dass sie in Bundes- und Vertragstreue seinem Volke Recht schafft und dadurch Heil.“82

Wenn Gott also in Gerechtigkeit handelt, um seinem Volk einen neuen Stand zu geben, wie muss es dann darauf antworten? Wie bereits angemerkt, stellt jede Beziehung Ansprüche an das Verhalten. Wenn Gottes Heilstaten seine Gerechtigkeit ausmachen, worin bestehen dann die Ansprüche Gottes an das Verhalten seines Volkes?

Drittens ist Gerechtigkeit ebenfalls eine Reaktion des Menschen auf das Urteil „unschuldig/gerecht“, das als unverdiente Gnade Gottes angenommen wird. Dieses überwältigende Geschenk der Annahme durch Gott erfordert von den Gläubigen eine Antwort. In Erinnerung an die Bedeutungsüberschneidung zwischen Recht und Gerechtigkeit ist klar: Ein gerechter Mensch ist jemand, der sich recht verhält. Dieses rechte Verhalten erschöpft sich wiederum ebenfalls nicht darin, jedem zu geben, was ihm zusteht, sondern begegnet den Ausgestoßenen, Unterdrückten, Schwachen, Witwen und Waisen barmherzig und mitfühlend.

Hiob ist ein klassisches Beispiel für einen gerechten Menschen. Als er angegriffen wird, verteidigt er sich mit den Worten:

Ich kleidete mich in Gerechtigkeit,

mich bekleidete wie ein Oberkleid und Kopfbund mein Recht.

Auge wurde ich dem Blinden,

und Fuß dem Lahmen war ich!

Ein Vater war ich für die Armen,

und den Rechtsstreit dessen, den ich nicht kannte, untersuchte ich.

Hiob 29,14-16

Hier, wie auch an anderer Stelle, greifen Recht und Gerechtigkeit ineinander; manchmal tragen sie sogar die gleiche Bedeutung. Und die Gerechtigkeit, die Hiob für sich in Anspruch nimmt, besteht in barmherzigem Handeln den Schwachen und Verletzlichen gegenüber, nicht in der objektiven Anwendung des Gesetzes. Jesaja beschreibt den leidenden Gottesknecht folgendermaßen:

Das geknickte Rohr wird er nicht zerbrechen,

und den glimmenden Docht wird er nicht auslöschen.

In Treue bringt er das Recht hinaus.

Jesaja 42,3

Das Wesen der Gerechtigkeit, die dieser einzigartige Knecht Gottes an den Tag legt, besteht in barmherzigem Verhalten gegenüber Zerbrochenen und Erschöpften. Micha erläutert diese Definition eingehender, indem er an Gottes „Gerechtigkeiten“ bei der Befreiung seines Volkes aus Ägypten erinnert. Der Prophet fragt, wie Gottes Volk nun reagieren solle?

Womit soll ich vor den HERRN treten,

mich beugen vor dem Gott der Höhe?

Micha 6,6

Das personifizierte Israel will wissen, ob Gott Brandopfer, Tausende von Widdern, Zehntausende von Bächen Öls oder sogar das Opfer seines Erstgeborenen fordert. Die unausgesprochene Antwort lautet Nein! Dann spricht der Prophet Israel an: „Man hat dir mitgeteilt, Mensch, was gut ist“ (Mi 6,8). Wo hat Gott gezeigt, welche Reaktion er von Israel erwartet? Wo hat er ihnen mitgeteilt, „was gut ist“? Die Antwort liegt auf der Hand: in den Heilstaten Gottes gegenüber seinem Volk (die in den vorangegangenen Versen noch einmal aufgeführt wurden). Gottes große Barmherzigkeit gegenüber Israel beim Auszug aus Ägypten und in der Folgezeit bildet das Muster für barmherziges Verhalten, das er auch von ihnen erwartet. Ein „Konzentrat“ dieser Erwartungen erscheint dann in den letzten Zeilen des Abschnitts, in denen es heißt:

Und was fordert der HERR von dir,

als Recht zu üben und Güte zu lieben

und einsichtig zu gehen mit deinem Gott? (V. 8)

Wie Gott mit Israel umging in seiner Not wird zum Vorbild für Israels Verhalten gegenüber anderen.

Schließlich ist Gerechtigkeit auch mit Frieden verbunden. Diesen Gedanken finden wir in Jesaja 32, wo es heißt (V. 17-18.20):

Und das Werk der Gerechtigkeit wird Friede sein

und der Ertrag der Gerechtigkeit Ruhe und Sicherheit für ewig.

Dann wird mein Volk wohnen an einer Wohnstätte des Friedens

und in sicheren Wohnungen und an sorgenfreien Ruheplätzen […]

Glücklich [’ašrêkem] ihr, die ihr an allen Wassern sät

und Rind und Esel freien Lauf lasst!

Wo Gerechtigkeit und Friede walten, sind sogar die Haustiere frei.

Zusammenfassend lässt sich sagen: Glückselig ist, wer ebenso intensiv nach Gerechtigkeit strebt wie Hungrige und Durstige nach Essen und Trinken suchen. Gottes Gerechtigkeit zeigt sich in seinen rettenden Taten. Diese Rettung schenkt seinem Volk die Möglichkeit, als Angenommene vor ihm zu stehen. Sie wiederum bemühen sich unermüdlich um einen Lebensstil, der dieser ihnen geschenkten Beziehung entspricht. Ihre Antwort auf Gottes Geschenk gestalten sie so, wie Gott in seinen mächtigen Taten mit ihnen umgegangen ist. Zu dieser Antwort gehören auch Gerechtigkeit und Barmherzigkeit für die Schwachen.

Unsere Seligpreisung schließt mit den Worten: „denn sie werden gesättigt werden“. Dies ist ein weiterer Fall des „göttlichen Passivs“. Gott ist derjenige, der sie „sättigen“ oder zufriedenstellen wird. Für viele ist das ein seltsamer Gedanke. Landläufig versteht man unter Gerechtigkeit nichts weiter als die Einhaltung einer ethischen Norm. Wer das Gesetz hält, den allgemein akzeptierten Maßstäben der Gesellschaft folgt und ein vorbildliches persönliches Leben führt, wird von der Gesellschaft respektiert und damit zufriedengestellt. Doch wenn Gerechtigkeit eine von Gott geschenkte Beziehung beschreibt, die Frieden bringt, dann kann nur Gott die Sehnsucht nach dieser Gerechtigkeit stillen und die Anerkennung oder Missbilligung der Gesellschaft ist irrelevant. Wir sind nicht gerecht, um unsere Mitmenschen zufriedenzustellen, sondern um Gott unsere Dankbarkeit zu zeigen und unsere Beziehung zu ihm zu pflegen.

Weil alle Menschen hungrig und durstig werden, suchen sie jeden Tag nach Nahrung und Wasser in der Hoffnung, dass ihre Bedürfnisse gestillt werden. Doch für wie lange? Nach einigen Stunden kehrt das Bedürfnis zurück. Unsere Seligpreisung macht deutlich, dass die, die glückselig genannt werden, sich so sehr und immer wieder nach Gerechtigkeit verzehren wie die tägliche Sehnsucht nach Essen und Trinken. Der Hunger und Durst nach dieser Gerechtigkeit kann nur von Gott gestillt werden.

Wer abnehmen will, wird sich darum bemühen, das Verlangen nach Essen und Trinken im Zaum zu halten. Im Kampf gegen dieses Verlangen werden Tabletten, mentale Übungen, Sport, Selbstbeherrschung, Gruppenzwang und Ähnliches zu Hilfe gezogen. Bei den Seliggepriesenen kann das Verlangen nach Gerechtigkeit ebenso stark sein, doch dieses Begehren muss nicht gezügelt werden. Vielmehr darf man ihm nachgeben – und es wird von unserem gnädigen Gott befriedigt werden. In Gerechtigkeit kann man ohne negative Nebenwirkungen schwelgen!

Von Rad fasst das Thema mit folgenden Worten zusammen: „ [ṣědāqâ] kann man ohne Weiteres als den höchsten Lebenswert bezeichnen, als das, worauf alles Leben, wenn es in Ordnung ist, ruht.“83

Jesus war kein Europäer

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