Читать книгу Jesus war kein Europäer - Kenneth E. Bailey - Страница 64
Abba, der im Himmel ist
ОглавлениеErstaunlicherweise ist das wunderbare Wort abba hier mit einem krassen Gegensatz verbunden. Dieser „liebende Vater“ ist im Himmel. Das moderne Leben führt dazu, dass Mitglieder einer Familie oft räumlich sehr weit voneinander entfernt leben. Doch in traditionellen Gemeinschaften im Nahen Osten ist dies nicht der Fall. Mutter und Vater wohnen bis zu ihrem Lebensende in nächster Nähe ihrer Kinder. Kurz gesagt: Der Vater ist in der Nähe und wohnt normalerweise im gleichen Haus. Im Gegensatz dazu ist der Abba des christlichen Gebetes gleichzeitig nah und doch so fern; er ist im Himmel. Die Gemeinschaft der Gläubigen gehört zur erschaffenen Welt. Abba ist der Schöpfer. Christen sind Diener und abba ist der Herr. Sterbliche werden geboren und sterben, während abba der Ewige ist. Abba, der liebende Vater, ist zum Greifen nah, und doch wohnt er in Ehrfurcht gebietender Majestät im Himmel, in all seiner Herrlichkeit.
Amida, wie die Tefilla auch genannt wird, bedeutet „stehend“, und aus Respekt vor Gott beteten die Gläubigen die Segenssprüche im Stehen. Die älteste Sammlung der Aussprüche der Rabbiner berichtet: „Die ersten Frommen warteten eine Stunde und beteten [dann erst], um ihr Herz auf Gott zu richten“ (Mischna Berakoth 5,1). Das Treten in Gottes Ehrfurcht gebietende Gegenwart geschah nicht lässig oder leichtfertig.
In jüngerer Vergangenheit hatte ich zweimal das außerordentliche Vorrecht, Ihre Majestät Königin Elizabeth II. persönlich zu begrüßen, einmal in der anglikanischen Kathedrale auf Zypern und einmal in ihrer Privatresidenz in Windsor Castle in London. Ganz erwartungsgemäß waren alle Beteiligten tadellos gekleidet, angemessen aufmerksam, konzentriert und vorbereitet auf das, was und wie sie es zu sagen hatten. Wie viel mehr sollten wir spüren, dass unser Treten in die Gegenwart „unseres Vaters im Himmel“ etwas Ehrfurcht Gebietendes ist, und uns angemessen darauf einstellen, ihn anzusprechen?