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Leere Worte

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Bevor Jesus seine Jünger dieses Gebet lehrt, gibt er ihnen einen Rat, wie sie beten sollen:

Beim Beten

sollt ihr nicht leere Worte aneinanderreihen

wie die Heiden, die Gott nicht kennen.

Sie meinen, sie werden erhört,

wenn sie viele Worte machen.

Matthäus 6,7 (NGÜ)

Das ist ein wenig rätselhaft. Einerseits sind Jesu Gebete, die uns in den Evangelien überliefert sind, meist relativ kurz. Andererseits berichten die gleichen Evangelien, dass Jesus gelegentlich die ganze Nacht hindurch betete. Das wirft die Frage auf, was Gebet eigentlich ist. Gehörten für Jesus zum Gebet auch lange Zeiten stiller Gemeinschaft mit Gott im Heiligen Geist, in denen keine Worte nötig waren?

Die Väter der Ostkirchen zumindest waren davon überzeugt. Im siebten Jahrhundert schrieb Isaak von Ninive über das „Stillesein“, das er in seinen Schriften folgendermaßen zusammenfasste: Man entsage „bewusst der Gabe der Worte, um innere Stille zu erreichen, inmitten derer ein Mensch die Gegenwart Gottes hören kann. Es [Stillesein] bedeutet, unermüdlich, schweigend und betend vor Gott zu stehen“.86

Man geht oft davon aus, ein langes Gebet sei ein gutes Gebet und ein kurzes Gebet ein Zeugnis von Unreife. Die Evangelien widersprechen diesem Gedanken. In Matthäus 6,7-8 kritisiert Jesus die „Heiden, die Gott nicht kennen“, für ihre langen Gebete. Wenn sie ihre Götter anriefen (zu denen meist auch der aktuelle Herrscher zählte), gebrauchten sie lange Anredeformeln. Sie wollten sich sicher sein, alle korrekten Titel aufgezählt zu haben, damit ihr Gott (der Kaiser?) nicht beleidigt war. Wie umständlich sich das gestalten konnte, zeigt sich in den Titeln für Kaiser Galerius. Im frühen vierten Jahrhundert zitierte der christliche Geschichtsschreiber Eusebius ein Dekret von Galerius, das kurz vor der konstantinischen Epoche die Verfolgung der Christen beenden sollte. Es beginnt mit folgenden Worten:

Imperator Cäsar Galerius Valerius Maximianus, der Unbesiegte, Augustus, oberster Priester, Besieger der Germanen, Besieger der Ägypter, Besieger der Thebais, fünfmal Besieger der Sarmaten, zweimal Besieger der Perser, sechsmal Besieger der Carpi, Besieger der Armenier, Besieger der Meder, Besieger der Adiabener, zwanzigmal Inhaber der tribunizischen Gewalt, neunmal Imperator, achtmal Konsul, Vater des Vaterlandes, Prokonsul …87

So verstand der Kaiser sich, und so erwartete er zweifellos auch angesprochen zu werden. Eine solche Art der Anrede wurde als angemessen erachtet und war im Nahen Osten noch bis zum Ende des neunzehnten Jahrhunderts verbreitet.

Im Jahr 1891 schrieb ein persischer Gelehrter einen Brief an einen amerikanischen Missionar und Gelehrten, Dr. Cornelius van Dyke, der damals ein hoch angesehener Professor der Medizin in Beirut im Libanon war. Der Brief lag einem Geschenk zur Erinnerung an seinen Besuch bei dem Mediziner als Begleitschreiben bei:

Ein Andenken, dem hochgeschätzten, geistlichen Arzt und Religionsphilosophen, Seiner Exzellenz, dem einzigen und höchst gelehrten, in seiner Generation ohne Seinesgleichen, Dr. Cornelius van Dyke, dem Amerikaner. Als Andenken, geschenkt seiner Erhabenheit und Güte, ihm, der das vorab Genannte verkörpert; einem Vermittler von Wissen und Begründer von Vollkommenheit und einem Besitzer hoher Auszeichnungen und Eigner eines rühmenswerten Charakters, die Säule des Firmaments der Tugenden und Angelpunkt des Kreises der Wissenschaften, Verfasser herrlicher Werke und verlässlicher Grundlagen, vertraut mit dem Verständnis der inneren Wirklichkeiten der Seele und Horizonte, der es verdient, dass sein Name mit Licht auf die Augen der Menschen geschrieben werde anstatt mit Gold auf Papier, in Beirut im Monat Rabia, im Jahr 1891, von [Ihrem] untertänigsten [Diener].88

Ich gehe davon aus, dass Dr. van Dyke angemessen beeindruckt war. Jesus verkündet, dass Gott nichts davon braucht oder will. Wer betet, so lehrte Jesus, muss einfach und direkt mit Gott sprechen. Sie sollten nicht „leere Worte aneinanderreihen wie die Heiden, die Gott nicht kennen“.

Der Prediger (Kohelet) streift in seinem Buch das gleiche Thema und gibt einen guten Rat, wie man beten soll, wenn man Gottes Haus betritt. Er schreibt: „Sei nicht vorschnell mit deinem Mund, und dein Herz eile nicht, ein Wort vor Gott hervorzubringen! Denn Gott ist im Himmel, und du bist auf der Erde; darum seien deine Worte wenige“ (Pred 5,1).

In unserer modernen Welt ertrinken wir in Worten. Täglich werden wir mit Tausenden von Werbeplakaten, Anzeigen, Briefen, Zeitschriften, Zeitungen, Werbespots, Radiosendungen, Spam-Mails, Katalogen, Flyern, Anrufen, SMS- oder Fax-Nachrichten und unzähligen E-Mails bombardiert. Man kann nicht mehr in einer Arztpraxis sitzen, ohne dass einem ungebeten Tausende Worte in die Ohren dringen. Vor Kurzem saß ich in der Abflughalle eines internationalen Flughafens und wurde mit Worten überschwemmt. Gleichzeitig konnte ich deutlich sieben Telefongespräche über Handys, zwei Fernseher, eine Lautsprecherdurchsage und drei Abflugansagen hören. Es war der Vorhof der Hölle.

Wir sind von Worten überflutet, und dadurch sind Worte billig geworden. Selten nur hören wir Worte, die wie Perlen sind, sorgfältig ausgewählt und kunstvoll zu einem goldenen Faden aufgereiht, der den Namen Satz verdient. Jesus lädt den Leser ein, eine Welt zu betreten, in der es wenige Worte gibt, die jedoch voller Kraft sind. In solch einer Welt muss jedes Wort mit der Sorgfalt untersucht werden, die es verdient. So ist es nur angemessen, in aller Kürze über den Gebetsstil und die Gebetssprache nachzudenken, wie die Jünger sie kannten.

Jesus war kein Europäer

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