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Bedeutung und Wert des Wortes abba

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Die Segenssprüche der Tefilla beginnen unterschiedlich. Einige werden mit den Worten „Gott Abrahams, Gott Isaaks und Gott Jakobs“ oder „Gott unserer Väter“ eingeleitet. An anderer Stelle in der Tefilla wird Gott mit anderen Wendungen angesprochen: „heiliger Gott“, „starker Gott“, „Erbauer Jerusalems“, „Ewiger, der Israel erlöst“, „unser Vater“ oder „gnädiger und barmherziger König“. Aus den zahlreichen Titeln wählte Jesus „unser Vater“, das in der Tefilla zweimal als das hebräische abinu erscheint.92 Gott als den „Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs“ anzusprechen, bedeutet, das Gebet eines bestimmten Volkes mit einer bestimmten Geschichte zu sprechen. Natürlich sind die Christen in diese große Familie aufgenommen, und damit haben diese Titel auch eine tiefe Bedeutung für alle Christen. Indem Jesus seine Jünger lehrte, abba zu beten, bekräftigte er gleichzeitig die Vision einer Glaubensfamilie, die über ethnische Verbundenheit mit Abraham hinausging. Jeder Mensch in jedem Stamm oder Volk hat einen Vater. Wenn Gott „unser Vater“ ist, können ihn alle Menschen gleichermaßen ansprechen. Bei dem Wort abba gibt es keine ethnischen oder historischen „Insider“ und „Outsider“.

Neben der Feststellung über die integrierende Wirkung dieses Wortes ist es auch nötig, das Wort selbst näher zu betrachten. Was meinte Jesus, wenn er Gott abba nannte, und wie wurde dieses Wort zu seiner Zeit gebraucht? Das aramäische Wort abba (Vater) wurde von aramäischsprachigen Personen verwendet, wenn sie mit ihrem irdischen Vater sprachen. Es war auch eine Anrede für angesehene, hochrangige Personen. Ein Schüler konnte mit diesem Wort einen Lehrer ansprechen oder ein Kind seinen Vater.

Abba erscheint im Neuen Testament an drei Stellen: Jesus verwendet es in Markus 14,36, und es erscheint in Römer 8,15 und Galater 4,6. In jedem Fall folgt gleich darauf der griechische Ausdruck ho patēr (der Vater). Der Schreiber gibt das aramäische Wort abba wieder und übersetzt es dann für seine griechischen Leser, die vielleicht kein Aramäisch konnten. Daher heißt es im griechischen Grundtext in jedem Fall Abba, ho patēr; Aramäisch und Griechisch tauchen also in einem einzigen Ausdruck nebeneinander auf. Warum dieser zweisprachige Ausdruck?

Es wäre viel einfacher gewesen, sich mit ho patēr (der Vater) zufriedenzugeben. Offenbar war das Wort abba der Gemeinschaft der Apostels so wichtig, dass es beibehalten wurde, auch wenn sie auf Griechisch schrieben und wussten, dass einige Leser das Aramäische nicht verstehen würden. Alle drei Stellen, an denen dieses Wort im Neuen Testament auftaucht, sind eindringliche Gebete, darunter Jesu Gebet im Garten Gethsemane (Mk 14,36).

Am besten lässt sich verstehen, warum dieses aramäische Wort ins Griechische übernommen wurde, wenn man sich klarmacht, dass Jesus selbst seinen himmlischen Vater mit abba anredete und seine Jünger lehrte, seinem Beispiel zu folgen. Jesus war damit in der jüdischen Tradition übrigens nicht der Erste. Im Alten Testament wird das Wort Vater zwölf Mal in Verbindung mit Gott gebraucht: manchmal als Vergleich (d. h.: „dies ist wie jenes …“; vgl. Ps 103,13) und gelegentlich als Metapher (d. h.: „dies ist jenes“; vgl. Jes 63,16; 64,7), doch nie als direkte Anrede. In den jüdischen Schriften zwischen dem Alten und Neuen Testament (die unter der Bezeichnung „Apokryphen“ bekannt sind) erscheint das Wort Vater (im Griechischen) als direkte Anrede Gottes (Weisheit Salomos 14,3), wenn auch selten. Der Unterschied lässt sich in jeder Sprache erkennen. Es ist eine Sache, zu sagen: „Du sorgst für uns wie ein Vater“ (Vergleich) oder sogar: „Du bist unser Vater“ (Metapher); doch zu sagen: „Guten Morgen, Vater“ ist etwas ganz anderes. Die ersten beiden Varianten sind Beschreibungen, die dritte ist eine Anrede. Im Alten Testament wird Vater als Beschreibung dafür gebraucht, wie Gott ist. Jesus gebrauchte es im Aramäischen als Anrede. Jesu Verwendung dieses Wortes ist nicht einzigartig, aber, wie jemand sagte, „bezeichnend“. Davies und Allison erklären:

Daher scheint es – trotz legitimer Vorbehalte bezüglich der Einzigartigkeit –, dass Jesus, wenn er seine Gebete an ‚abba‘ richtete, sich in gewissem Maß von der üblichen Praxis unterschied; und vielleicht empfanden viele, wenn nicht sogar die meisten Juden es als unpassend oder sogar als beinahe gotteslästerlich, Gott einfach als ‚abba‘ anzusprechen.93

Letzten Endes hätte Jesus aus vielen Möglichkeiten eine Anrede für Gott auswählen können; er entschied sich für das aramäische Wort abba.

In mindestens vier Ländern des Nahen Ostens ist abba noch heute das erste Wort, das ein kleines Kind lernt. Vor einigen Jahren hatte ich das Vorrecht, einer Gruppe von Frauen in einem Dorf in den libanesischen Bergen das Vaterunser auf Arabisch beizubringen. In einer Stunde beschrieb ich abba als aramäisches Wort aus dem ersten Jahrhundert, doch während ich sprach, bemerkte ich, wie die Teilnehmer verlegen reagierten und unruhig wurden. Schließlich unterbrach ich meinen Vortrag und fragte sie, ob sie Bemerkungen zu meinen Ausführungen hätten. Eine Frau ganz hinten hob schüchtern die Hand und erklärte mir armem Ausländer ganz behutsam: „Dr. Bailey, abba ist das erste Wort, das wir unseren Kindern beibringen.“ Bei meinen Nachforschungen stellte ich fest, dass dies nicht nur im Libanon, sondern auch in Syrien, Palästina und Jordanien der Fall ist. In allen diesen Ländern wurde früher Aramäisch gesprochen, und dieses wertvolle Wort hat überlebt, obwohl die Menschen dort heute Arabisch sprechen.94

Das lange „a“ am Ende des Wortes ist der bestimmte aramäische Artikel. Abba bedeutet wörtlich übersetzt „der Vater“, kann im Zusammenhang aber auch „mein Vater“ oder „unser Vater“ bedeuten.95 Lukas’ Version des Vaterunsers beginnt mit dem Wort „Vater“, während Matthäus mit „unser Vater“ beginnt. Beides sind legitime Übersetzungen von abba.

Dieses großartige aramäische Wort drückt sowohl Respekt vor einem Höhergestellten aus als auch eine zutiefst persönliche Beziehung zwischen Sprecher und Angesprochenem. Es ist verständlich, warum die frühe christliche Gemeinde es weiter verwendete, auch wenn sie auf Griechisch beteten. Abba erinnert an die besondere Art der Beziehung, die der Gläubige durch Christus zu Gott hat. Der frühchristliche Gebrauch des Vaterunsers bestätigt diese Bedeutung.

Einige der noch erhaltenen frühchristlichen Kirchengebäude wurden mit zwei getrennten Bereichen erbaut, einem für die Gläubigen und einem für die Menschen, die man Katechumenen nannte. Letztere hatten noch keinen eigenen Glauben an Jesus bekannt und waren daher noch nicht getauft. Die Katechumenen saßen in einem besonderen Bereich hinten im Raum. Sie durften am Gottesdienst teilnehmen, auch wenn sie sich noch nicht ganz dem christlichen Glauben verpflichtet hatten. Sie nahmen teil, sangen die Lieder mit, hörten die Predigt und wurden dann höflich hinausgeführt. Diejenigen, die den Glauben an Christus angenommen hatten und getauft waren, blieben und nahmen an der Feier des heiligen Abendmahls teil. Es galt als unangemessen, dass Ungetaufte das heilige Mahl empfingen. Das Vaterunser wurde immer direkt vor dem Abendmahl gebetet.96 Offenbar war die Gemeinde der Meinung, dass diese Anrede für Gott nur von denen gebraucht werden sollte, die glaubten und getauft waren.

Der deutsche Bibelwissenschaftler Joachim Jeremias befand sich im Irrtum, als er schrieb, diese aramäische Anrede aus dem Mund Jesu sei einmalig gewesen.97 Allerdings brachte sie eine besondere Beziehung zu dem Angesprochenen zum Ausdruck. Menschen, die nicht dem christlichen Glauben angehörten, wurden offenbar nicht ermutigt, Gott als Abba anzureden. Doch es gibt noch mehr zu sagen.

In der westlichen Kirche wurde die Anrede „Vater“ für Gott in den vergangenen fünfzig Jahren weithin diskutiert. Zwei Aspekte dieses Themas sind beachtenswert. Als Erstes ist festzustellen, dass der Islam die Bezeichnung „Vater“ und die Assoziation einer Verbindung zwischen Schöpfer und Geschöpf mit aller Entschiedenheit ablehnt. Wenn der Beter die Bezeichnung „Vater“, „mein Vater“ oder „unser Vater“ für Gott wählt, wendet er damit ein menschliches Beispiel auf Gott an. Der Islam behauptet, diese Praxis würde ihn unweigerlich in den Götzendienst führen. Gott sei Gott und solle nicht mit menschlichen Begriffen beschrieben werden und dadurch auf die Ebene eines Geschöpfes herabgezogen werden – undenkbar in Bezug auf den Allmächtigen. Menschliche und göttliche Sphäre sind nach islamischer Vorstellung vollkommen getrennt. Die Anrede Gottes kann mit Adjektiven erfolgen, aber nicht durch Metaphern, die Gott menschliche Eigenschaften zuschreiben. Gott ist rahman (gnädig) und rahim (barmherzig), akbar (am größten), ‘alim (allwissend), aber niemals „Vater“. Von den berühmten neunundneunzig Namen Gottes im Islam wurden in der islamischen Theologie im weitesten Sinne drei als Metaphern gedeutet. Bei den übrigen sechsundneunzig handele es sich dagegen um Adjektive. Was lässt sich auf diese islamische These erwidern?

Die Warnung sollte von Christen gehört werden. Bei der Verwendung von Metaphern als Anrede für Gott kann man, ohne es zu wollen, Gott auf eine menschliche Ebene herabziehen. Wenn Christen das Wort Vater verwenden, damit nichts weiter als die Vorstellung eines unvollkommenen irdischen Vaters verbinden und meinen, Gott sei dadurch vollkommen umschrieben, schaffen sie ein menschliches Bild von Gott. Das halte ich für eine Form von „Bilderverehrung“.

Andererseits ist Gott tatsächlich ein personaler Gott, und Personen sind männlichen oder weiblichen Geschlechts. Man könnte ihn also sowohl mit einer männlichen als auch einer weiblichen Anrede ansprechen. Doch dieser Weg würde zurück in den alten Nahen Osten führen – mit seinen Göttern und Göttinnen.98 Es ist also zu fragen, wie Jesus den Begriff Vater in seiner Lehre definiert hat.

An dem bekannten Gleichnis vom verlorenen Sohn lässt sich wohl am besten sehen, wie Jesus selbst das Wort Vater verstand. In dieser Geschichte durchbricht Jesus alle Grenzen des menschlichen Patriarchats und präsentiert das Bild eines Vaters, das über alles hinausging, was seine Kultur von einem menschlichen Vater erwartete, wie wir noch sehen werden. Er beschrieb keine Väter, wie er sie kannte, sondern schuf ein neues Vaterbild, das Gottes Wesen illustrieren sollte. Der Ausgangspunkt für Jesus war wahrscheinlich Hosea 11,1-9, wo der Prophet Gott als barmherzigen Vater Israels beschreibt, der voller Schmerz ausruft:

Denn ich bin Gott und nicht ein Mensch

heilig in deiner Mitte.

Darum komme ich nicht im Zorn.

Hosea 11,9b (LUT)

In den vorausgehenden Versen stellt Hosea Gott als zärtlichen, liebevollen Vater eines rebellischen Kindes vor. Der Vater (Gott) hat das Recht, zornig zu sein und zu strafen, doch stattdessen entscheidet er sich für Liebe. Jesus übernahm von Hosea dieses Verständnis des Wesens seines göttlichen Vaters, und es ist durchaus vorstellbar, dass er auf Hosea 11 zurückgriff, das Bild von Gott als Vater erweiterte und dazu das bekannte Gleichnis erzählte. Jesus beschrieb Gott nicht als Kaiser, der absolute Macht über seinen Besitz ausübt (manche Väter und Mütter verhalten sich so ihren Kindern gegenüber). Vielmehr nannte Jesus Gott „Vater“ und definierte diesen Begriff durch das Gleichnis vom verlorenen Sohn. Darin sehen wir das einzig zulässige Verständnis „unseres Vaters“, und jede andere Definition bedeutet eine Ablehnung der Lehre Jesu und Verrat an seiner Person. Die Warnung des Islam gilt; doch wenn die Gemeinschaft der Gläubigen sich an die Definitionen hält, die Jesus selbst ausgesprochen hat, wird sie nicht der Gefahr der „Bilderverehrung“ erliegen, die bei Metaphern für Gott besteht.

Auch unter einem zweiten Blickwinkel wird das Wort abba (Vater) oft kritisiert, weil es angeblich das „orientalische Patriarchat“ mit seiner Unterdrückung der Frau widerspiegelt. Es würde den Rahmen sprengen, hier das Für und Wider der verschiedenen Strukturen von Gesellschaft und Familie im Nahen Osten zu beschreiben und zu diskutieren. Nach welchem Muster diese auch immer aufgebaut waren: Jesus spiegelt sie in seinem Gleichnis vom verlorenen Sohn nicht wider. Die westliche Kirche geht oft von folgenden Annahmen aus:

1. Im orientalischen Patriarchat werden Frauen schlecht behandelt.

2. Jesus nannte Gott „Vater“ und untermauerte damit die Gültigkeit dieses Patriarchats und seines Umgangs mit Frauen.

3. Daher ist es nicht länger hinnehmbar, Gott „Vater“ zu nennen.

Ibrahim Sa‘id, ein ägyptischer protestantischer Theologe des zwanzigsten Jahrhunderts, legte mit seinem Kommentar zum Lukasevangelium eine sorgfältige Arbeit vor. In seinen Gedanken zum Gleichnis vom verlorenen Sohn schreibt er:

Der Hirte, der nach seinem Schaf sucht, und die Frau, die ihre Münze sucht, unternehmen nichts Außergewöhnliches; jeder andere würde an ihrer Stelle das Gleiche tun. Doch wie der Vater in der dritten Geschichte handelt, ist einzigartig, wunderbar, göttlich und bis dahin ohne menschliches Vorbild.99

Und Henri Nouwen schrieb über den Vater in diesem Gleichnis:

… alle Grenzen patriarchalischen Verhaltens sind durchbrochen. Dies ist nicht das Bild eines bemerkenswerten Vaters. Es ist das Porträt Gottes, dessen Güte, Liebe, Vergebung, Fürsorge und Mitgefühl keine Grenzen haben. Jesus stellt Gottes Großzügigkeit mit allen Bildern dar, die seine Kultur ihm bietet, und verändert diese Bilder dabei fortwährend.100

Jesus entscheidet sich in diesem Gleichnis und in dem Gebet, das er seine Jünger lehrt, bewusst für das Bild des Vaters. Es ist kein patriarchalisches Bild. Sofern die menschliche Sprache die Geheimnisse des Wesens eines liebenden Gottes überhaupt durchdringen kann, übertrifft dieses Gleichnis alle anderen mir bekannten Versuche. Es zeichnet das einzige Bild, welches das Wort abba im Vaterunser angemessen illustriert.

Schließlich sei noch angefügt, dass es in dem Gebet „unser Vater“ heißt, nicht „mein Vater“. In den Psalmen taucht häufig die Formulierung „mein Gott“ auf, und die persönliche Beziehung zwischen dem biblischen Gott und dem einzelnen Gläubigen darf natürlich nicht außer Acht gelassen werden. Doch wie wir noch sehen werden, betont das Vaterunser eine Familie Gottes, die einen Vater hat; dieses Gebet sieht alle Nachfolger Jesu als Glieder dieser Familie. Was lässt sich nun über die angeblich männliche Schlagseite der Anrede „Vater“ sagen?

Jesus war kein Europäer

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