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Zur Inspiration der biblischen Texte
ОглавлениеIn der westlichen Welt wird bei der Auseinandersetzung mit der Bibel nur selten über die Inspiration der Schrift gesprochen. Paul Achtemeier schreibt, dass die Lehre von der Inspiration „in den letzten zwei oder drei Jahrzehnten eher durch ihre Abwesenheit als durch ihre Gegenwart auffiel. In vielen Kreisen wurde sie durch Nichtbeachtung gewürdigt“.13 Die Kirchen des Nahen Ostens leben seit über tausend Jahren als Minderheit in einem Meer des Islam. In einer solchen Welt kann man der Frage nach der Inspiration der Schrift nicht aus dem Weg gehen. Die islamische Welt glaubt, der Koran sei dem Propheten Mohammed durch den Engel Gabriel diktiert worden, kapitelweise über einen Zeitraum von zehn Jahren hinweg, und zwar im beduinischen Arabisch des siebten Jahrhunderts. Der Stoff selbst gilt sowohl als unerschaffen wie auch als ewig und kann daher nicht übersetzt werden. Dieses Ereignis wird mit dem Ausdruck „nuzūl al-Qur’an“ (das Herabkommen des Koran) bezeichnet. Das gleiche Verb beschreibt den „Abstieg“ eines Bergsteigers von einem hohen Gipfel. Im Islam ist der Koran ein präexistentes Ganzes, das aus der Höhe „herabkommt“.
Frühe kolorierte Manuskripte der Evangelien zeigen auf der ersten Seite häufig eine Abbildung, wie ein Engel dem Schreiber des Evangeliums die Worte diktiert.14 In manchen Kreisen herrscht eine unausgesprochene Sehnsucht nach der Gewissheit, die dem islamischen Verständnis von Inspiration nahesteht.
Doch der griechische Grundtext des Neuen Testaments lässt für eine solche Auffassung keinen Raum. Stattdessen sind vier Stufen zu berücksichtigen, die unsere kanonischen Evangelien durchlaufen haben:
1. das Leben und die Lehre Jesu von Nazareth auf Aramäisch,
2. die aramäischen Augenzeugenberichte zu diesem Leben und dieser Lehre,15
3. die Übersetzung dieser Zeugenberichte ins Griechische,
4. die Auswahl, Anordnung und Bearbeitung dieser griechischen Texte zu Evangelien.
In Anbetracht dieser Stufen ist es notwendig, über die Inspiration der Evangelien als Prozess zu sprechen, der bis zu seiner Fertigstellung mehr als fünfundreißig Jahre dauerte. Wenn wir uns nur für die erste Stufe interessieren, entscheiden wir uns für einen „Kanon im Kanon“. Während der vergangenen fünfzig Jahre habe ich die Debatten in der westlichen Welt zu diesen Fragen sehr sorgfältig und mit großem Interesse verfolgt.16 Doch wenn man den Prozess übersieht und nur der ersten Stufe Bedeutung beimisst, leugnet man damit gleichzeitig den Weg, auf dem jedes bedeutsame geschichtliche Ereignis erinnert und verschriftlicht wird.
Der renommierte anglikanische Islamwissenschaftler Kenneth Cragg erörterte das Wesen der Evangelien in einer Predigt, die er am 16. Januar 1977 in der All Saints Episcopal Cathedral in Kairo (Ägypten) hielt. Unter anderem sagte er:
Ein großer Teil der westlichen wissenschaftlichen Mentalität ist versucht, allem den Status des Faktums (und somit der Wahrheit) abzusprechen, was nicht in Reagenzgläsern nachweisbar oder empirisch zu „verifizieren“ ist. Dieser instinktive Reduktionismus vieler zeitgenössischer Philosophen hindert sie leider daran, mit der historischen Bedeutung des Glaubens und der tiefen Wechselbeziehung von Ereignis und Geheimnis zu rechnen.
Ein Vergleich kann helfen. Es ist der 22. November 1963 in Texas. Nehmen wir an, ich äußerte mich wie folgt: „Ein Mann schoss mit einem Gewehr aus dem Fenster eines Lagerhauses auf einen Mann in einem vorbeifahrenden Auto und tötete ihn.“ Jedes Wort hier ist wahr (angenommen, dass wir die Ergebnisse der Warren-Kommission akzeptieren). Doch wie kahl und mager sind doch die Fakten – so spärlich, dass sie beinahe keine Fakten sind. Vom eigentlichen Ereignis wird gar nicht erzählt. Aber nehmen wir an, ich fahre fort und sage: „Auf den Präsidenten der Vereinigten Staaten wurde ein Mordattentat verübt.“ Diese Äußerung ist viel sachgerechter, weil sie weit mehr aussagt. Das Opfer wird benannt, der Mord als politisch identifiziert und die Perspektive ist wahrheitsgetreuer. Doch wir haben noch lange nicht die Bedeutung der Tragödie erfasst. Versuchen wir es mit einer weiteren Aussage. „Menschen überall spürten, dass sich ein Abgrund des Bösen aufgetan hatte, und begannen, auf offener Straße zu weinen.“
Diese dritte Aussage berührt das Herz. Sie ist wahr, aber es ist eine andere Art von Wahrheit. Sie setzt den Inhalt der anderen Aussagen voraus, dringt aber darüber hinaus in Dimensionen vor, die ansatzweise das Wesen dieses schrecklichen Ereignisses erfassen. Ohne etwas wie diese dritte Aussage bliebe das Ereignis im Halbdunkel und so schemenhaft, dass es quasi falsch dargestellt wäre.
Betrachten wir nun die Evangelien und das gesamte Neue Testament im Licht dieses Vergleichs. Sie gehören eindeutig zur dritten Art von Aussage, weil sie Herz und Verstand zutiefst ansprechen und ein Bekenntnis von erlebter Sinnhaftigkeit ablegen – einer Sinnhaftigkeit, die aufs Engste mit der Geschichte und dem Ereignis verbunden ist. So ist es mit Jesus: nicht Neutralität, bloßer Bericht, leere Chronologie, sondern lebendige Teilnahme und Herzensbeteiligung. Jesu Geschichte kann – so wie alle bedeutenden geschichtlichen Ereignisse – nicht ohne Beteiligung von Verstand und Seele erzählt werden.
Der christliche Glaube ist ein Faktum, aber kein bloßes Faktum; er ist Poesie, doch nicht Einbildung. Wie der Bogen in einem Bauwerk, der durch das ihm auferlegte Gewicht erst recht an Festigkeit gewinnt, so trägt die Botschaft der Evangelien mit beruhigender Stärke die Hingabe der Jahrhunderte an Jesus als Christus. Was ist Musik anderes, fragte Walt Whitman, als was in uns erwacht, wenn wir dem Instrument lauschen? Und Jesus ist die Musik der Wirklichkeit Gottes, und Glaube ist, was erwacht, wenn wir zuhören.17
Im Einklang mit Kenneth Craggs Worten und aus dem Blickwinkel des hier deutlich werdenden Inspirationsverständnisses sollen die biblischen Texte in den folgenden Betrachtungen „ganzheitlich“ untersucht werden.
Die Redakteure von Fernsehdokumentationen sind vielleicht am ehesten das moderne Gegenstück zu den Autoren bzw. Redaktoren der Evangelien. Der Redakteur einer Fernsehdokumentation muss alles Material, das er präsentiert, vorher auswählen, anordnen, schneiden und mit Begleitkommentaren versehen. Ein unvoreingenommener Redakteur wird ernsthaft versuchen, das Thema fair zu präsentieren. „Fair“ im Sinne „im Einklang mit dem, was der Redakteur zutiefst wahrnimmt und als Wahrheit des Themas ansieht“.
Viele zeitgenössische Kommentare zu den Evangelien verwenden verständlicher- und richtigerweise enorme Energie auf die Diskussion, ob das Material „primär“ oder „sekundär“ ist. Ist dieses oder jenes Wort auf Jesus zurückzuführen oder auf seine jüdischen Nachfolger oder auf die griechische Gemeinde? Ich bin überzeugt davon, dass die Evangelien theologisch interpretierte Geschichtsschreibung sind. Im Einklang mit dem, was bereits über Inspiration gesagt wurde, bin ich der Auffassung, dass der Geist Gottes sowohl Jesus gegeben wurde (Mk 1,9-11) als auch der Gemeinde (Apg 2,1-4), die sich an ihn erinnerte. Mit den folgenden Betrachtungen habe ich also nicht vor, die exakten Worte Jesu von der sorgfältigen Redaktionsarbeit der Evangelienschreiber zu unterscheiden. Stattdessen soll die theologisch-historische Dramatik des Textes wird als kreatives Ganzes untersucht werden.