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Rhetorische Muster in hebräischen Texten

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Die vorliegenden Aufsätze thematisieren nicht nur die Kultur, sondern auch die Sprachkunst der antiken und neuzeitlichen Völker des Nahen Ostens, die seit Jahrtausenden in ihren Dichtungen und teilweise ihren Erzählungen mit Parallelismen arbeiten. In der westlichen Welt sind sie als „hebräische Parallelismen“ bekannt, die im Alten Testament häufig anzutreffen sind. Doch in der frühen hebräischen Literatur wurden diese Parallelismen zu einem Sprachkunstwerk verwoben, das ich als „prophetische Redegänge“ bezeichne. Die Bausteine dieser Redegänge sind verschiedene Kombinationen hebräischer Parallelismen. Manchmal werden Gedanken paarweise nacheinander präsentiert und erscheinen in geschriebener Form als AA-BB-CC-Muster. In anderen Fällen werden Gedanken vorgetragen und dann von hinten nach vorn als A-B-CC-B-A wiederholt. Dies kann man als „gespiegelten Parallelismus“ bezeichnen (andere gebräuchliche Bezeichnungen sind Ringkomposition oder Chiasmus). Ein drittes rhetorisches Stilmittel bezeichne ich als Stufenparallelismus, da es einem ABC-ABC-Muster folgt. Diese drei Grundformen sind häufig in einem einzigen Redegang vereint. Ein meisterhaftes frühes Beispiel einer solchen Kombination rhetorischer Stilmittel findet sich in Jesaja 28, wie in Abbildung 0.1 zu sehen ist.

Darum hört das Wort des HERRN, ihr Männer der Prahlerei,
Beherrscher dieses Volkes, das in Jerusalem ist!
Denn ihr sagt:
1. a) Wir haben einen Bund mit dem Tod geschlossenb) und mit dem Scheol einen Vertrag gemachtc) Wenn die einherflutende Geißel hindurchfährtd) wird sie uns nicht erreichen, Bund geschlossen mitTod, Scheol
2. a) denn wir haben Lüge zu unserer Zuflucht gemachtb) und in Trug uns geborgen. ZufluchtsortSchutz gesucht
3. Darum, so spricht der Herr, HERR:Siehe, ich lege in Zion einen Grundstein,einen bewährten Stein,einen kostbaren Eckstein, felsenfest gegründet. bauenMaterial
4. Wer [an ihn – LXX] glaubt,wird nicht ängstlich eilen. Inschrift
5. Und ich werde das Recht zur Richtschnur machen und die Gerechtigkeit zur Waage. bauenWerkzeug
6. a) Hagel wird die Zuflucht der Lüge hinwegfegen,b) und das Wasser wird das Versteck wegschwemmen. ZufluchtsortSchutz zerstört
7. a) Und euer Bund mit dem Tod wird aufgehoben werden,b) und euer Vertrag mit dem Scheol wird nicht bestehen bleiben.c) Wenn die einherflutende Geißel hindurchfährt,d) dann werdet ihr von ihr zertreten werden. Bund aufgehoben mitTod, Scheol

Abbildung 0.1: Jesajas Gleichnis von den zwei Bauherren (Jes 28,14-18)10

In diesem Redegang fallen mehrere rhetorische Merkmale auf.

Es gibt sieben Strophen. Diese Strophen sind spiegelbildlich angeordnet: Strophe 1 gehört zu Strophe 7, Strophe 2 zu Strophe 6, Strophe 3 zu Strophe 5. Die mittlere, 4. Strophe bildet den Höhepunkt, in welcher der Prophet das Volk dazu aufruft, zu glauben und nicht ängstlich davonzueilen. Dieser typische rhetorische Stil mit seinen sieben Strophen ist so alt und weit verbreitet, dass er einen Namen verdient. Ich habe mich für die Bezeichnung „prophetisch-rhetorische Form“ entschieden. Sie taucht zum ersten Mal in Psalm 23 auf. Im Markusevangelium findet man 17 Beispiele dafür. Zur Zeit des Neuen Testaments war dieses Stilmittel also mindestens tausend Jahre alt.

Strophe 1 hängt mit Strophe 7 zusammen und setzt einen „Stufenparallelismus“ ein. Im direkten Vergleich wird der Zusammenhang deutlich.

1 a) Wir haben einen Bund mit dem Tod geschlossen
b) und mit dem Scheol einen Vertrag gemacht. Bund geschlossen mit
c) Wenn die einherflutende Geißel hindurchfährt Tod, Scheol
d) wird sie uns nicht erreichen,

7 a) Und euer Bund mit dem Tod wird aufgehoben werden,
b) und euer Vertrag mit dem Scheol wird nicht bestehen bleiben. Bund aufgehoben mit
c) Wenn die einherflutende Geißel hindurchfährt, Tod, Scheol
d) dann werdet ihr von ihr zertreten werden.

Die vier Aussagen in Strophe 7 sind mit denen in Strophe 1 verknüpft und widersprechen ihnen direkt. Zeile 1c und 7c sind identisch.

Ein rascher Blick auf Strophe 2 und 6 zeigt die gleiche Verbindung. Nur gebraucht Jesaja in diesem Fall in seinem Stufenparallelismus je zwei Gedanken, die mit „Zufluchtsort“ und „Schutz“ zu tun haben. In Strophe 2 sind Zufluchtsort und Schutz intakt; in Strophe 6 sind sie zerstört.

Strophe 3 und 5 gehören ebenfalls zusammen, jedoch auf andere Art und Weise. Strophe 3 nennt den verheißenen neuen Grundstein; Strophe 5 beschreibt die zum Bau zu verwendenden Werkzeuge. „Recht“ wird die „Richtschnur“ sein und „Gerechtigkeit“ die „Waage“. Um ein Haus aus Stein zu bauen, muss der Maurer Baumaterialien (3) und Werkzeuge zum Bau (5) haben. Diese zwei Strophen gehören also offensichtlich zusammen.

Der Höhepunkt in der mittleren Strophe konzentriert sich auf den verheißenen Segen des Glaubens. Das Gebäude, das sie aufgebaut haben (Zufluchtsort und Schutz), wird erschüttert werden und einstürzen. Doch mit Glauben (an Gott) werden sie nicht flüchten müssen. Zudem hat die Mitte üblicherweise (und so auch hier) eine Verbindung mit dem Anfang und dem Ende. Die Herrscher von Jerusalem haben einen „Bund mit dem Tod“ (1), der nicht standhalten kann (7). Nur wer „glaubt“ (4), wird standhalten können. Die Mitte (4) besteht aus zwei Zeilen, und 4a gehört zu 1, während 4b in Verbindung mit 7 steht. Man kann es folgendermaßen betrachten.

4 a) Wer glaubt (Bezug zu 1 mit seinem „Bund“/„Vertrag“, der von der Natur der Sache her ein gewisses Maß an „Glauben“ erfordert)
b) wird nicht ängstlich eilen (steht in Verbindung zu 8, wo „nicht bestehen bleiben“ und „zertreten werden“ den wertlosen Bund charakterisieren, der aus den Angeln gehoben werden wird)

Manch einer mag diese Art von Betrachtung für „interessant“ und „künstlerisch ansprechend“ halten, doch hat sie auch eine Bedeutung für die Auslegung? Jahrhundertelang hat die Kirche die meisten Texte, die in diesem Buch untersucht werden, als linear betrachtet: ein Punkt folgt auf den nächsten. Doch selbst wenn man die Darstellung dieser rhetorischen Muster nur in manchen Fällen überzeugend findet, hat dies Konsequenzen für die Auslegung. Dazu einige Hinweise:

1. Wenn der Autor seine Argumentation in einer ABC-CBA-Struktur vorbringt, erscheint die Hälfte von dem, was er über „A“ zu sagen hat, in der ersten Zeile; die zweite Hälfte muss in Zeile 6 nachgelesen werden. Das Gleiche gilt für die zweite Zeile (B) und die fünfte Zeile (B), die wiederum ein Paar bilden. Wenn man diese Gedankenpaare übersieht, entgeht einem ein wichtiger Teil der Argumentation des Sprechers.

2. „Gespiegelte Parallelismen“ stellen den Höhepunkt in die Mitte, nicht ans Ende. Wie bereits angemerkt, wird dieses rhetorische Stilmittel oft als „Ringkomposition“ bezeichnet, weil die Gedanken des Autors im Kreis verlaufen und wieder zum Ausgangspunkt zurückkehren. Ein einfaches Beispiel für dieses Phänomen findet sich in Lukas 16,13.

Kein Haussklave kann zwei Herren dienen;

denn entweder wird er den einen hassen

und den anderen lieben,

oder er wird dem einen anhängen

und den anderen verachten.

Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon.

Die erste und letzte Zeile zusammengenommen machen deutlich, dass es sich bei den zwei Herren, von denen Jesus hier spricht, um Gott und um materiellen Besitz handelt. Beide erheben Anspruch auf das Leben des Glaubenden und dieser muss die grundlegende Entscheidung treffen, wem er dieses Recht gewährt. Zudem wird im Höhepunkt in der Mitte die Liebe und Hingebung zu einem Herrn (Gott) betont. Der auf lineare Logik geschulte Verstand geht davon aus, dass der Höhepunkt immer am Ende steht. Wenn das jedoch nicht der Fall ist, muss der Ausleger wissen, wie er den Klimax findet.

3. Es lässt sich oft viel genauer feststellen, wo eine bestimmte Erzählung beginnt und endet, wenn ihre rhetorische Form erkannt wird. In 1. Korinther 1,17–2,2 schreibt Paulus einen großen Hymnus auf das Kreuz. Die in der westlichen Welt übliche Trennung zwischen Kapitel 1 und 2 findet jedoch an der falschen Stelle statt. Der Hymnus eröffnet mit dem Hinweis auf die Verkündigung Christi, des Gekreuzigten. Er wird in der Mitte und am Ende noch einmal erwähnt.11 Die rhetorische Form kennzeichnet den Anfang und das Ende dieses Meisterstücks und ermöglicht, es im Ganzen zu betrachten.

4. Eine rhetorische Analyse legt kleinere Abschnitte frei, die als Einheiten erkannt werden können, anstatt sie zu übersehen oder in einzelne Teile zu zerlegen.

5. Eine rhetorische Betrachtung befreit den Leser auch von der Tyrannei des Zahlensystems. Sie erlaubt dem Text, seine Gedanken selbst anzuordnen. Zahlen, so nützlich sie auch zur Orientierung sein mögen, führen den Leser unbewusst dazu, die Gedanken oder Geschichten linear, der Zahlenabfolge entsprechend zu verstehen. Eine rhetorische Betrachtung befreit uns von 1650 Jahren Herrschaft der Kapitelüberschriften und 450 Jahren unterschwelliger Steuerung durch Verszahlen.

6. Manchmal ist die rhetorische Anordnung des Materials eine wichtige Entscheidungshilfe für die Wahl der griechischen Lesart, wenn es mehrere davon gibt. Äußere Belege dafür, welche Texte die ältesten und zuverlässigsten sind, besitzen große Wichtigkeit. Doch auch die inhärenten Belege durch die rhetorischen Stilmittel verdienen Beachtung.

7. Die Parallelen zwischen den Strophen (linear, spiegelverkehrt oder in Stufen) erschließen oft wichtige Bedeutungsebenen, die andernfalls im Dunkeln blieben. In Jesaja 28,14-18 spricht der Prophet über die Gefahr für die Nation durch das assyrische Heer unter dem gefürchteten Sanherib. Die „Beherrscher dieses Volkes, das in Jerusalem ist“ (V. 14) hatten einen Bund mit Ägypten geschlossen und versicherten dem Volk, es sei in Sicherheit. Jesaja war nicht davon überzeugt. Die ägyptische Welt drehte sich um einen Totenkult. Jesaja bezeichnet diesen Bund mit Ägypten als „Bund mit dem Tod“ (lies: Ägypten). In Strophe 1 stellt der Prophet die Position der Regierung dar und widerlegt sie in Strophe 7 Zeile für Zeile. Der Leser sollte in der Lage sein, ihm in seiner vernichtenden Kritik zu folgen.

8. Hin und wieder finden sich in den Evangelien kunstvoll gestaltete Textstellen, zu denen „Fußnoten“ hinzugefügt wurden. Dies ist in Lukas 12,35-38 der Fall, wo die Formulierung „wenn er in der zweiten Wache und wenn er in der dritten Wache kommt“ das Gleichgewicht der Zeilen stört. Eine weitere „Fußnote“ taucht in der zweiten Hälfte von Lukas 4,25 auf. Diese Anmerkungen lassen sich erkennen, wenn man die rhetorische Grundstruktur freilegt. Solche „Fußnoten“ sind ein Beleg für das hohe Alter des zugrunde liegenden Textes.

9. Wie bereits erwähnt, sind diese rhetorischen Stilmittel typisch jüdisch und lassen sich nicht nur bis zu den Schriften der Propheten zurückverfolgen, sondern auch darüber hinaus. Ihr erneutes Erscheinen im Neuen Testament zeigt, dass diese Texte der jüdischen und nicht der griechischen Welt entstammen – ein weiterer Beleg für die historische Authentizität des zugrunde liegenden Textes.

10. Nicht erst im zwanzigsten Jahrhundert wurden intelligente Menschen geboren. Angesichts dieser durchdachten und kunstvollen rhetorischen Stilmittel wird unser Respekt vor ihren Verfassern weiter zunehmen.

Mit der rhetorischen Betrachtung biblischer Texte ist es wie mit dem Saxofon: Schlecht spielen lässt es sich leicht.12 Die hier vorgetragene rhetorische Analyse ist ein Anfang, und ein weiterer Feinschliff ist unverzichtbar.

Jesus war kein Europäer

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