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Ein christlicher Roman

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Die Quelle dieser Fehlinterpretation stammt aus einer Zeit etwa zweihundert Jahre nach der Geburt Jesu, als ein anonymer Christ eine ausgeschmückte Erzählung über das große Ereignis schrieb. Dieses sogenannte Protevangelium des Jakobus23 ist erhalten geblieben. Der aus dem Neuen Testament bekannte Jakobus hatte damit nichts zu tun. Der Autor war auch kein Jude und hatte keine Ahnung von der Geografie Palästinas und von jüdischen Traditionen.24 In dieser Zeit schrieben viele Menschen Bücher, für die sie berühmte Personen als Autor angaben.

Dieser besondere „Roman“ enthält zahlreiche fantasievolle Details. Hieronymus, der berühmte lateinische Gelehrte, kritisierte das Werk, ebenso viele Päpste.25 Es wurde ursprünglich auf Griechisch verfasst und ins Lateinische, Syrische, Armenische, Georgische, Äthiopische, Koptische und Altslawische übersetzt. Zwar hatte der Verfasser eindeutig die Evangelienberichte gelesen, kannte jedoch, wie erwähnt, die Geografie des Heiligen Landes nicht. Zum Beispiel beschreibt der Autor in seinem Roman die Straße zwischen Jerusalem und Bethlehem als Wüste. Allerdings liegt sie nicht in einer Wüste, sondern ist von fruchtbarem Ackerland umgeben.26

In dem Roman sagt Maria kurz vor Bethlehem zu Josef: „Joseph, hebe mich vom Esel herunter, denn das (Kind) in mir bedrängt mich und will herauskommen.“27 Daraufhin lässt Josef Maria in einer Höhle zurück und eilt nach Bethlehem, um eine Hebamme zu suchen. Nachdem er auf dem Weg sonderbare Visionen empfangen hat, kehrt Josef mit der Hebamme (das Kind ist übrigens inzwischen geboren) zur Höhle zurück, die zuerst von einer dunklen Wolke und dann von einem hellen Licht umgeben ist. Eine Frau namens Salome taucht aus dem Nichts auf und die Hebamme erklärt ihr, eine Jungfrau habe ein Kind zur Welt gebracht, ohne ihre Jungfräulichkeit zu verlieren. Als Salome an diesem Wunder zweifelt, wird ihre Hand von Aussatz befallen. Eine Untersuchung bestätigt Marias Behauptung. Dann steht plötzlich ein Engel vor Salome und sagt ihr, sie solle das Kind berühren. Als diese der Aufforderung nachkommt, wird ihre kranke Hand geheilt …

Auf diese Weise spinnt der Roman seine Geschichte fort. Autoren, die beliebte Romane schreiben, haben meistens eine blühende Fantasie. Dass Jesus geboren wurde, noch bevor seine Eltern Bethlehem erreichen, bildete einen wichtigen Teil der Handlung. Die Vorstellung, dass Jesus in der Nacht geboren wurde, als Maria und Josef nach oder in die Nähe Bethlehems gelangten, begegnet uns in diesem Roman zum ersten Mal. Die meisten Christen sind, selbst wenn sie noch nie von diesem Roman gehört haben, dennoch von seinen Vorstellungen beeinflusst.28 Der Roman ist eine fantasievolle Ausschmückung des Evangelienberichts, unterscheidet sich jedoch von diesem.

Die Probleme in der traditionellen Interpretation von Lukas 2,1-7 kann man wie folgt zusammenfassen: Josef kehrte in seinen Heimatort zurück, wo er leicht eine Unterkunft gefunden hätte. Als Nachkomme König Davids hätten ihm fast alle Türen offen gestanden. Ferner hatte Maria Verwandte in der Nähe, die sie hätte aufsuchen können. Die Zeit hätte ausgereicht, eine angemessene Unterkunft zu organisieren. Warum hätte eine jüdische Stadt einer jungen jüdischen Mutter, die kurz vor der Niederkunft stand, nicht helfen sollen? – Wie sollen wir also im Licht dieser kulturellen Realitäten den Text verstehen? Diese Frage führt uns zu zwei weiteren: Wo stand die Futterkrippe? Was war die „Herberge“?

Verschiedene Beobachtungen verhelfen hier zu einer Antwort. Zunächst stellen wir fest, dass der Bericht im Lukasevangelium tatsächlich der Geografie und Geschichte des Heiligen Landes entspricht. Der Text berichtet, dass Maria und Josef von Nazareth nach Bethlehem „hinaufgingen“. Bethlehem ist auf einem Gebirgskamm erbaut und liegt wesentlich höher als Nazareth.29 Zweitens war die Bezeichnung „Stadt Davids“ wohl eher in der Gegend dort gebräuchlich, sodass Lukas für die nicht ortskundigen Leser den Zusatz „die Bethlehem heißt“ hinzufügt. Drittens informiert der Text den Leser darüber, dass Josef „aus dem Haus und Geschlecht Davids“ stammte. Im Nahen Osten ist „das Haus von XYZ“ gleichbedeutend mit „die Familie von XYZ“. Griechische Leser dieses Berichts hätten sich bei dieser Formulierung vielleicht ein Gebäude vorgestellt. Möglicherweise setzte Lukas den Begriff Geschlecht hinzu, um ganz sicherzugehen, dass seine Leser ihn verstanden. Er veränderte den offenbar schon ausgebildeten Text nicht, als er ihn erhielt (Lk 1,2). Doch besaß er die Freiheit, einige erläuternde Anmerkungen einzufügen. Viertens erwähnt Lukas, das Kind sei in Windeln gewickelt gewesen. Dieser alte Brauch wird schon in Hesekiel 16,4 erwähnt und wird von der ländlichen Bevölkerung Syriens und Palästinas immer noch praktiziert. Und schließlich bezeugt der Bericht eine davidische Christologie. Diese fünf Punkte unterstreichen, dass der Text schon sehr früh im Leben der Urgemeinde von einem messianischen Juden verfasst wurde.

Wenn ein Mensch aus der westlichen Welt das Wort [Futter]krippe hört, denkt er zunächst an Stall oder Scheune – jedenfalls an ein Gebäude, in dem auch Tiere gehalten werden können. Im Gleichnis vom reichen Kornbauern (Lk 12,16-21) werden im griechischen Grundtext „Lagerhäuser“ erwähnt, aber keine Scheune im üblichen Sinn. Sehr reiche Menschen hatten natürlich abgetrennte Räumlichkeiten für die Tiere.30 Doch in einfachen Dorfhäusern in Palästina gab es oft nur zwei Räume. Einer davon war ausschließlich für Gäste bestimmt. Dieser Raum konnte an das Hauses angebaut oder eine „Prophetenkammer“ auf dem Dach sein, wie in der Geschichte von Elia (1Kö 17,19). Der Hauptraum war ein „Familienzimmer“, in dem die sich die gesamte Familie aufhielt. Hier wurde gekocht, gegessen, geschlafen und gewohnt. Die Seite, auf der man den Raum betrat, lag entweder um einiges tiefer als der Rest des Bodens oder war mit schweren Holzbalken abgeteilt. Jeden Abend wurden die Kuh der Familie, der Esel und ein paar Schafe in diesen abgetrennten Bereich getrieben, und jeden Morgen wurden die Tiere wieder hinausgeführt und im Hof angebunden. Dann wurde der Tierverschlag für den Tag gesäubert. Solche einfachen Häuser gab es von der Zeit des Königs David an bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts. Ich habe sie sowohl in Obergaliläa als auch in Bethlehem gesehen. Abbildung 1.1 zeigt ein solches Haus schematisch von der Seite.


Abbildung 1.1: Typisches Dorfhaus in Palästina, Seitenansicht

Manchmal ist auf dem Flachdach ein Raum für Gäste erbaut, oder dieser liegt als Anbau neben dem Haus. Die Tür im Erdgeschoss dient als Eingang für Menschen und Tiere. Der Bauer will die Tiere jede Nacht im Haus haben, weil sie im Winter eine Wärmequelle bieten und so außerdem vor Dieben sicher sind. Abbildung 1.2 zeigt das gleiche Haus von oben.


Abbildung 1.2: Typisches Dorfhaus in Palästina, Grundriss

Die länglichen Kreise stellen die Futterkrippen dar, die in den niedriger gelegenen Teil des Wohnraumes gegraben sind. Das „Wohnzimmer“ der Familie ist in Richtung des Tierverschlags leicht abschüssig, was das Fegen und Waschen erleichtert. Schmutz und Wasser bewegen sich natürlicherweise „bergab“ zum Stellplatz für die Tiere hin und können zur Tür hinausgefegt werden. Wenn die Kuh der Familie nachts Hunger bekommt, kann sie aufstehen und aus den Futterkrippen fressen. Für die Schafe kann es hölzerne Futterraufen geben, die man auf den Boden des niedriger gelegenen Raumes stellt.

Diese traditionelle Hausbauweise passt ganz natürlich zum Bericht der Geburt Jesu. Doch auch in den Berichten des Alten Testaments treten solche Häuser indirekt in Erscheinung. In 1. Samuel 28 war Saul zu Gast im Haus der Totenbeschwörerin von Endor, und es wird berichtet, dass der König sich weigerte zu essen. Da nahm die Frau ein gemästetes Kalb, das sie „im Haus“ (V. 24) hatte, schlachtete es und bereitete eine Mahlzeit für den König und seine Diener. Sie holte das Kalb nicht von der Wiese oder aus dem Stall, sondern aus dem Inneren des Hauses.

Die Geschichte von Jeftah in Richter 11,29-40 setzt die gleiche Art Einraumhaus voraus. Auf seinem Weg in den Krieg legte Jeftah einen Eid ab, das Erste zu opfern, das ihm bei seiner Rückkehr aus dem Haus entgegenlaufe, sollte Gott ihm den Sieg schenken. Jeftah gewann die Schlacht, doch als er nach Hause zurückkehrte, war es – tragischerweise und zu seinem großen Entsetzen – seine Tochter, die ihm als Erste aus dem Haus entgegenkam. Höchstwahrscheinlich kehrte er in den frühen Morgenstunden zurück und erwartete zweifellos, ihm komme eines der Tiere aus dem Haus entgegengesprungen, wo es die ganze Nacht über mit allen anderen eingepfercht gewesen war. Der Bibeltext erzählt uns nicht von einem brutalen Schlächter, sondern der Leser muss annehmen, dass Jeftah nie der Gedanke kam, er würde zuallererst auf ein Familienmitglied treffen. Nur unter dieser Voraussetzung ergibt die Geschichte überhaupt einen Sinn. Wäre das Haus nur von Menschen bewohnt gewesen, hätte Jeftah niemals einen solchen Eid geleistet – denn wen hätte er ermorden wollen oder warum? Die Geschichte wird zur Tragödie, weil Jeftahs ein Tier erwartet hatte.

Die gleichen einfachen Häuser treten im Neuen Testament in Erscheinung. In Matthäus 5,15 sagt Jesus: „Man zündet auch nicht eine Lampe an und setzt sie unter den Scheffel, sondern auf das Lampengestell, und sie leuchtet allen, die im Hause sind.“ Natürlich geht Jesus hier von einem typischen Dorfhaus mit einem Raum aus. Wenn eine einfache Lampe allen im Haus Licht spendet, kann dieses Haus nur einen Raum haben.

Ein weiteres Beispiel für die gleiche unausgesprochene Annahme findet sich in Lukas 13,10-17, als Jesus eine Frau am Sabbat heilte, die „zusammengekrümmt und völlig unfähig [war], sich aufzurichten“. Jesus rief sie und sprach sie an: „Frau, du bist gelöst [wörtlich: losgebunden] von deiner Schwäche.“ Der Synagogenvorsteher war wütend, weil Jesus am Sabbat „gearbeitet“ hatte. Jesus antwortete: „Heuchler! Bindet nicht jeder von euch am Sabbat seinen Ochsen oder Esel von der Krippe los und führt ihn hin und tränkt ihn?“ (V. 15). Was Jesus sagen wollte: Heute, am Sabbat, habt ihr ein Tier losgebunden. Ich habe eine Frau „losgebunden“. Wie könnt ihr mir da Vorwürfe machen? Der Text berichtet, dass „alle seine Widersacher beschämt“ waren (V. 17).

Offensichtlich wusste Jesus, dass seine Gegner jede Nacht wenigstens ein Rind oder einen Esel in ihrem Haus hatten. Am Morgen hatte jeder im Raum Tiere aus dem Haus gebracht und sie draußen angebunden. Der Synagogenvorsteher antwortete nicht: „Ich fasse am Sabbat niemals Tiere an.“ Es ist undenkbar, Tiere tagsüber im Haus zu lassen, und es gab keinen Stall. Eine der frühesten und am sorgfältigsten übersetzten arabischen Versionen des Neuen Testaments wurde – wahrscheinlich in Palästina – im 9. Jahrhundert angefertigt. Nur acht Exemplare existieren noch. Diese (aus dem Griechischen übersetzte) hervorragende Version gibt den Vers folgendermaßen wieder: „Bindet nicht jeder von euch sein Rind oder seinen Esel von der Futterkrippe im Haus los und bringt ihn nach draußen und tränkt ihn?“31 Kein griechisches Manuskript enthält in diesem Text die Worte „im Haus“. Doch der arabischsprachige christliche Übersetzer im 9. Jahrhundert verstand den Text richtig. Hat nicht jeder eine Futterkrippe im Haus? In seiner Welt war dies bei allen Dorfbewohnern des Nahen Ostens der Fall!

Auch moderne Wissenschaftler haben über diese Dorfhäuser geschrieben, in deren einzigem Raum Futterkrippen vorhanden waren. William Thompson, ein arabischsprachiger presbyterianischer Missionar und Gelehrter des 19. Jahrhunderts, hatte Dorfhäuser in Bethlehem gesehen und gab seine Beobachtungen wieder:

„Mein Eindruck ist, dass die Geburt tatsächlich in einem gewöhnlichen Haus eines einfachen Bauern stattfand und der Säugling in eine der Futterkrippen gelegt wurde, wie sie noch immer in den Behausungen von Bauern in dieser Gegend zu finden sind.“32

Der anglikanische Gelehrte Eric F. F. Bishop, der von 1920 bis 1950 in Jerusalem lebte, schrieb:

Vielleicht … nahmen sie Zuflucht zu einem der Häuser in Bethlehem, in dem der untere Teil für die Tiere abgetrennt ist und in dem Futterkrippen aus dem Gestein ausgehöhlt sind, während der höher gelegene Teil der Familie vorbehalten ist. Solch eine unbewegliche Futterkrippe würde, gefüllt mit gehäckseltem Stroh, den Zweck einer Wiege erfüllen.33

Seit über hundert Jahren gehen im Nahen Osten ansässige Geisteswissenschaftler davon aus, dass in Lukas 2,7 von einem Familienwohnraum die Rede ist, in dem an einer Seite Futterkrippen in den Boden gehauen sind. Wenn man dieser Auslegung folgt, bleibt noch die Frage, worin die „Herberge“ bestand. Wo genau war „kein Raum“ mehr?

Wenn Josef und Maria in einem Privathaus untergebracht waren und Jesus nach seiner Geburt in diesem Haus in eine Futterkrippe gelegt wurde, wie ist dann das Wort „Herberge“ in Lukas 2,7 zu verstehen? Die meisten (deutschen) Übersetzungen besagen, dass das Kind nach seiner Geburt in eine Futterkrippe gelegt wurde, „weil in der Herberge kein Raum für sie war“. Das klingt so, als hätten die Bewohner von Bethlehem die Familie abgewiesen. War das wirklich der Fall?

Die Entwicklung der Sprache hat ihre Tücken. „Kein Raum in der Herberge“ hat im Lauf der Zeit die Bedeutung „die Herberge hatte mehrere Zimmer und alle waren belegt“ angenommen. Das „Zimmer belegt“-Schild hing bereits draußen, als Josef und Maria in Bethlehem eintrafen. Doch das griechische Wort bedeutet nicht „ein Zimmer (Raum) in einer Herberge“, sondern viel mehr „Platz“ (topos) wie in „Auf meinem Schreibtisch ist kein Platz (Raum) für meinen neuen Computer“. Das müssen wir berücksichtigen, wenn wir das Wort betrachten, das uns als „Herberge“ bekannt ist.

Das griechische Wort in Lukas 2,7, das meistens mit „Herberge“ übersetzt wird, heißt katalyma. Dies ist nicht das übliche Wort für eine kommerzielle Herberge. Im Gleichnis vom barmherzigen Samaritaner (Lk 10,25-37) bringt der Samaritaner den verletzten Mann in eine Herberge. Das dort verwendete griechische Wort ist pandocheion. Der erste Teil dieses Wortes bedeutet „alle“, der zweite Teil ist von dem Wort für „aufnehmen“ abgeleitet. Ein pandocheion ist somit der Ort, der alle aufnimmt, also eine kommerzielle Herberge. Dieser geläufige griechische Begriff für Herberge war im Nahen Osten so bekannt, dass er über die Jahrhunderte als griechisches Lehnwort mit der gleichen Bedeutung – kommerzielle Herberge – ins Armenische, Koptische, Arabische und Türkische übernommen wurde.

Wenn Lukas ausdrücken wollte, dass Josef aus einer „Herberge“ weggeschickt wurde, hätte er das Wort pandocheion verwendet, das eindeutig eine kommerzielle Herberge bezeichnet. Doch in Lukas 2,7 ist ein katalyma überfüllt. Was also bedeutet dieses Wort?

Buchstäblich bedeutet katalyma einfach „Bleibe“ und kann viele verschiedene Arten von Unterkunft bezeichnen. Die drei für unsere Geschichte denkbare sind Herberge (wie üblicherweise in deutschen Bibelübersetzungen verwendet), Haus (wie es seit mehr als tausend Jahren in arabischen Bibelübersetzungen verwendet wird) und Gästezimmer (Bedeutung bei Lukas). Tatsächlich verwendete Lukas diesen wichtigen Begriff noch an anderer Stelle in seinem Evangelium, wo er im Text selbst definiert wird. In Lukas 22 sagt Jesus zu seinen Jüngern:

Er aber sprach zu ihnen: Siehe, wenn ihr in die Stadt kommt, wird euch ein Mensch begegnen, der einen Krug Wasser trägt. Folgt ihm in das Haus, wo er hineingeht! Und ihr sollt zu dem Herrn des Hauses sagen: Der Lehrer sagt dir: Wo ist das Gastzimmer [katalyma], wo ich mit meinen Jüngern das Passahmahl essen kann? Und jener wird euch einen großen, mit Polstern ausgelegten Obersaal zeigen. Dort bereitet! (Lk 22,10-12)

Hier wird das Schlüsselwort katalyma erklärt; es ist ein „Obersaal“, eindeutig ein Gästezimmer in einem Privathaus. Diese Bedeutung ist absolut einleuchtend, wenn man sie auf die Geburtsgeschichte anwendet. In Lukas 2,7 teilt Lukas seinen Lesern mit, dass Jesus in eine Futterkrippe (im Familienzimmer) gelegt wurde, weil in diesem Haus das Gästezimmer bereits belegt war.

Wenn das Wort katalyma am Ende des Lukasevangeliums ein Gästezimmer bezeichnet, das an ein Privathaus angebaut war (22,11), warum sollte es am Anfang des Evangeliums nicht die gleiche Bedeutung haben? Das Familienzimmer mit angebautem Gästezimmer hätte etwa wie in Abbildung 1.3 ausgesehen.


Abbildung 1.3: Typisches Dorfhaus in Palästina mit angebautem Gästezimmer

Diese Übersetzung für katalyma wurde von Alfred Plummer in seinem wegweisenden Kommentar gewählt, der Ende des 19. Jahrhunderts erschien. Plummer schreibt: „Es ist ein wenig zweifelhaft, ob die bekannte Übersetzung ‚in der Herberge‘ korrekt ist … Möglicherweise hat Josef die Gastfreundschaft eines Freundes in Bethlehem in Anspruch genommen, dessen ‚Gästezimmer‘ allerdings bereits belegt war, als Josef und Maria ankamen.“34

I. Howard Marshall trifft die gleiche Feststellung, erläutert ihre Bedeutung jedoch nicht weiter.35 Fitzmyer nennt das katalyma eine lodge, was für ihn „eine öffentliche Karawanserei oder ein Chan“ meint.36 Ich dagegen bin der Überzeugung, dass Plummer recht hat. Wenn dem so ist, warum wurde diese Bedeutung dann nicht von der – orientalischen und abendländischen – Kirche übernommen?

In der westlichen Welt hat die Kirche die von mir geschilderte Problematik nicht bemerkt. Wenn das traditionelle Verständnis der Erzählung nicht „kaputt“ ist, braucht man es auch nicht zu „reparieren“. Doch wenn die Probleme mit der traditionellen Auslegung klar hervortreten, muss man sie lösen. Im Orient gehören die meisten Christen zur hochverehrten orthodoxen Kirche. Was sagen denn die orthodoxen Überlieferungen dazu?

In der Christenheit des Nahen Ostens herrscht die Vorstellung vor, die Geburt habe in einer Höhle stattgefunden. Viele einfache Häuser in traditionellen Dörfern im Heiligen Land bestehen aus Höhlen, die weiter ausgebaut wurden. Die Überlieferung der Geburt in einer Höhle lässt sich bis zu Justin dem Märtyrer zurückverfolgen, der seine Werke in der Mitte des zweiten Jahrhunderts verfasste. Wie bereits angedeutet, ging die orientalische Überlieferung stets davon aus, dass Maria allein war, als das Kind geboren wurde. Im Gottesdienst der orientalischen Kirche wird sogar der Altar vor den Augen der Gläubigen verdeckt, und die Transsubstantiation, die Verwandlung der Elemente beim Abendmahl in Fleisch und Blut des Herrn, findet „hinter den Kulissen“ statt. Wie viel mehr musste dann die „Fleischwerdung des Wortes“ ohne Zeugen stattfinden? Pater Matta al-Maskin, ein koptisch-orthodoxer Gelehrter und Mönch des zwanzigsten Jahrhunderts, der sechs gewichtige Kommentare zu den Evangelien in arabischer Sprache verfasste, reflektiert voller Staunen über die heilige Maria allein in der Höhle. Er schreibt:

Mein Herz fühlt mit dieser einsamen Mutter.

Wie hat sie die Schmerzen der Wehen allein ertragen?

Wie hat sie ihr Kind mit ihren eigenen Händen empfangen?

Wie hat sie es in Windeln gewickelt, obwohl ihre Kraft gänzlich erschöpft war?

Was hatte sie zu essen oder zu trinken?

O Frauen der Welt, seht diese Mutter des Retters.

Wie viel litt sie und wie viel Ehre verdient sie

… ebenso wie unsere Zärtlichkeit und Liebe?37

Diese echte und rührende Frömmigkeit ist natürlich nicht an einer Geburt interessiert, die in einem Privathaus stattfand, mit all der Fürsorge und Unterstützung, die andere Frauen der werdenden Mutter hätten zukommen lassen. Daher gibt es unter den Christen der östlichen und westlichen Kirche verständliche Gründe, aus denen ein neues Verständnis dieses Textes bisher vernachlässigt wurde.

Zusammenfassend lässt sich Folgendes sagen: Lukas berichtet unter anderem über die Geburt Jesu, dass die Heilige Familie nach Bethlehem reiste, wo sie in einem Privathaus aufgenommen wurden. Das Kind wurde geboren, in Windeln gewickelt und im Wohnraum in der Futterkrippe „zu Bett gebracht“ (so wörtlich; griech.: anaklinō), die entweder in den Boden eingelassen war oder aus Holz bestand und in den Familienwohnraum geholt wurde. Nun fragt sich der Leser natürlich, warum sie nicht im Gästezimmer untergebracht wurden? Weil es bereits mit anderen Gästen belegt war. Die Gastfamilie nahm Maria und Josef freundlich im Familienzimmer ihres eigenen Hauses auf.

In diesem Fall hätte man die Männer während der Geburt selbstverständlich hinausgeschickt und die Hebamme und andere Frauen aus dem Ort hätten bei der Geburt geholfen. Nachdem das Kind geboren und gewickelt war, legte Maria es in einer Futterkrippe mit frischem Stroh schlafen und deckte es mit einer Decke zu. Als Erwachsener wurde Jesus später von den einfachen Menschen gern gehört (Mk 12,37). Schon bei seiner Geburt erfuhr er diese Annahme. – Und was war mit den Hirten?

Die Geschichte von den Hirten untermauert das Bild, das ich bisher gezeichnet habe. Hirten im Palästina des ersten Jahrhunderts waren arm, und rabbinische Überlieferungen stigmatisierten sie als unrein.38 Das mag seltsam erscheinen, da Psalm 23 mit den Worten beginnt: „Der HERR ist mein Hirte.“ Es ist nicht klar, wie es zu dem Bedeutungswandel kam: vom Hirten als positives Sinnbild zu einem Berufsstand, der als unrein angesehen wurde. Der Hauptgrund scheint darin zu bestehen, dass die Herden Privateigentum auffraßen.39 In der rabbinischen Literatur gibt es fünf Aufzählungen „geächteter Berufe“, und Schafhirten tauchen in drei dieser fünf Aufzählungen auf.40 Diese Listen stammen aus nach-neutestamentlicher Zeit, könnten jedoch Gedankengut widerspiegeln, das schon zur Zeit Jesu vorhanden war. Auf jeden Fall waren Hirten ungebildete Menschen aus einer niedrigen sozialen Schicht.

In Lukas 2,8-14 waren die ersten, die die Botschaft der Geburt Jesu hörten, gewöhnliche Hirten: Menschen der untersten sozialen Schicht. Sie hörten die Botschaft und fürchteten sich. Anfangs jagte ihnen wahrscheinlich der Anblick der Engel Angst ein, doch später wurde ihnen aufgetragen, das Kind zu besuchen! Wäre das Kind tatsächlich der Messias, würden die Eltern sie als Hirten sicherlich abweisen, wenn sie das Kind besuchen wollten. Wodurch würden die Hirten sich davon überzeugen lassen, dass sie willkommen waren?

Die Engel rechneten mit dieser Angst und teilten den Hirten mit, sie würden das Kind in Windeln gewickelt finden (genauso, wie einfache Hirten ihre neugeborenen Kinder versorgten). Außerdem erfuhren sie, es werde in einer Futterkrippe liegen! Das heißt, sie würden das Christuskind in einem gewöhnlichen Bauernhaus vorfinden. Er lebte nicht im Haus eines Statthalters oder im Gästezimmer eines wohlhabenden Händlers, sondern in einem einfachen Haus mit zwei Zimmern, wie sie es selbst bewohnten. Das waren wirklich gute Nachrichten! Vielleicht würde man ihnen dort nicht sagen: „Ihr seid unrein! Macht euch aus dem Staub!“ Dies war ihr Zeichen, ein Zeichen für arme Schafhirten.

Mit dieser besonderen Ermutigung machten sich die Hirten auf den Weg nach Bethlehem, trotz ihrer Niedrigkeit (vgl. Lk 1,52). Beim Eintreffen erzählten sie ihre Geschichte, und alle staunten darüber. Als sie wieder gingen, „priesen und lobten [sie] Gott für alles, was sie gehört und gesehen hatten“ (Lk 2,20). Das Wort alles umfasste sicherlich auch die Qualität der Gastfreundschaft, die sie bei ihrer Ankunft erlebt hatten. Anscheinend hatten sie die Heilige Familie in einer völlig angemessenen Unterkunft vorgefunden, nicht in einem schmutzigen Stall. Wenn sie bei ihrem Eintreffen einen stinkenden Stall, eine verängstigte junge Mutter und einen verzweifelten Josef vorgefunden hätten, hätten sie gesagt: „Das ist unerhört! Kommt mit zu uns nach Hause! Unsere Frauen werden sich um euch kümmern!“ Und binnen fünf Minuten hätten die Hirten die kleine Familie in ihre eigenen Häuser gebracht. Die Ehre des gesamten Dorfes hätte auf ihren Schultern gelegen und sie hätten die Verantwortung gespürt, ihre Pflicht zu tun. Der Umstand, dass sie wieder von dannen zogen, ohne die junge Familie mitzunehmen, bedeutet wohl, dass die Hirten den Eindruck hatten, keine bessere Gastfreundschaft bieten zu können, als sie der Familie bereits entgegengebracht worden war.

Die Menschen des Nahen Ostens haben eine außergewöhnliche Fähigkeit, ihre Gäste zu ehren. Das wird bereits in der Geschichte von Abraham und seinen Gästen klar (1Mo 18,1-8) und setzt sich bis in die Gegenwart fort. Die Hirten verließen die Heilige Familie und lobten Gott für die Geburt des Messias und für die Gastfreundschaft in dem Haus, in dem er geboren worden war. Das ist die Krönung der Geschichte der Hirten. Das Kind wurde für Menschen wie die Schafhirten geboren – für die Armen, Niedrigen, Abgelehnten. Er kam aber auch für die Reichen und Weisen, die später mit Gold, Weihrauch und Myrrhe erscheinen.

Matthäus informiert seine Leser, dass die Weisen das Haus betraten, wo sie Maria und das Kind sahen (Mt 2,1-12). Matthäus bestätigt die Annahme, dass Lukas’ Bericht eine Geburt in einem Privathaus beschreibt.

Wenn man die Berichte so versteht, sind alle kulturellen Probleme gelöst, auf die ich hinwies. Josef war nicht gezwungen, eine kommerzielle Herberge aufzusuchen. Er erscheint nicht als ein unfähiger und unzulänglicher Ehemann, der nicht für Marias Bedürfnisse sorgen kann. Ebenso wenig verärgerte Josef die Verwandten seiner Frau, indem er sich in einer Krise nicht an sie wandte. Das Kind wurde einige Zeit, nachdem sie in Bethlehem eintrafen, in der normalen Umgebung eines Bauernhauses geboren, und sie mussten sich auch nicht mit einem herzlosen Herbergswirt auseinandersetzen. Es wurde nicht ein Mitglied des Hauses Davids durch Ablehnung gedemütigt, als er in den Ort zurückkehrte, aus dem seine Familie stammte. Die Bewohner von Bethlehem boten das Beste, was sie hatten, und wahrten ihre Ehre als Gemeinschaft. Die Hirten waren keine hartherzigen Tölpel ohne genug Geistesgegenwart, um einer bedürftigen fremden Familie zu helfen.

Wir können unsere Weihnachtskrippe daheim so belassen, wie sie ist, denn „Ochs und Esel“ waren bestimmt in der Nähe. Doch die Krippe stand in einem warmen, freundlichen Haus, nicht in einem kalten, einsamen Stall. Wenn wir die Geschichte in diesem Licht betrachten, lösen sich zahlreiche Schichten von Auslegungs-Mythologie auf, die sich darum gebildet haben. Jesus wurde in einem einfachen Zweizimmerhaus in einem Dorf geboren, wie sie im Nahen Osten seit mindestens dreitausend Jahren zu finden sind. Ja, wir müssen unsere Krippenspiele umschreiben, doch die Geschichte wird dadurch nur bereichert, nicht abgewertet.41

Jesus war kein Europäer

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