Читать книгу WEG - WEISE - R Spiritualität - Kerstin Reichl - Страница 5
Vom höchsten Berg in die tiefste Tiefe
ОглавлениеJeder, der schon einmal eine Bergwanderung gemacht hat, weiß, wie beglückend es ist, auf dem Gipfel zu stehen und die Aussicht zu genießen, in dem Bewusstsein, dass man selbst über die Kraft, den Mut, die Ausdauer und den Willen verfügt, die einen bis auf die Spitze des Berges geführt haben.
Und wer schon einmal eine Höhlentour unternommen hat, die über eine Touristenführung hinausging, weiß, wie hart man es sich erarbeiten muss, bis zu den schönsten Stellen der Höhle vorzudringen. Wie man sich durch enge Schlitze und Schlufe quetschen und dabei kletternd oder sich abseilend felsige Hindernisse überwinden muss - und auch die eigene Angst! Und wie dankbar und erleichtert man schließlich ist, wenn der Ausgang der Höhle sichtbar wird. Wie farbenprächtig und geräuschvoll die Natur plötzlich erscheint.
Einen Berg auf dem Rundwanderweg zu umkreisen erscheint dagegen langweilig. Erstaunlicherweise entscheiden sich die meisten Menschen jedoch genau dafür. Ein Rundwanderweg, auf der Karte eingezeichnet und im Gelände markiert, bietet keine besondere Herausforderung. Die Länge des Weges und der für seine Beschreitung benötigte Zeitaufwand sind kalkulierbar, der Schwierigkeitsgrad steht bereits fest. Um diesen Weg gehen zu können bedarf es keiner speziellen Ausrüstung und auch keines vorbereitenden Trainings. Jedoch wird er kaum Gelegenheit bieten, sich selbst besser kennen zu lernen, denn der Wanderer kommt auf ihm höchstwahrscheinlich weder mit seiner Angst noch mit den in ihm angelegten Fähigkeiten und Potentialen in Berührung. Und wenn er die Augen schließt und ihn ein Mitwandernder an die Hand nimmt, kann er sich sogar frei von jeder Verantwortung führen lassen, ohne dass ihm Gefahr droht.
Entscheiden Sie sich für den mühevollen, vielleicht sogar gefährlichen Aufstieg zum Gipfel, dann werden Sie für Ihre Strapazen mit einem Gipfelrausch, der Erkenntnis über ihre eigenen Fähigkeiten und im besten Falle auch mit einer beeindruckenden Fernsicht belohnt. Allerdings müssen Sie zwangsläufig vom Gipfel über den steinigen Rückweg wieder ins Tal zurückkehren.
Wagen Sie sich bei einer anstrengenden, riskanten Höhlentour in dunkle Tiefen, so werden Sie dort vielleicht mit dem Anblick von wunderschönen, uralten Tropfsteinen belohnt. Bei Ihrer Rückkehr ins Tageslicht verspüren Sie gewiss Freude über die Schönheit der Natur.
Beschreiten Sie hingegen den Rundwanderweg, werden Sie ihre Kräfte geschont, aber wahrscheinlich auch nichts Außergewöhnliches erlebt haben, wovon Sie noch Ihren Enkeln berichten könnten.
Die hier aufgezeigten Bilder stellen eine gute Analogie für unser Leben dar: Wenn wir uns erst einmal in die Höhen von Freude und Glückseligkeit begeben haben, ist der unabdingbare Abstieg oftmals schwierig. Vielleicht finden wir uns nach geglücktem Aufstieg sogar im Tal unserer Ängste und unserer Unbewusstheit wieder. Wagen wir uns in die dunklen Abgründe unseres Unterbewusstseins hinab, so können wir erfahren, was uns bislang verborgen blieb. Und wir werden nach unserer Rückkehr in die Realität des Alltags das uns umgebende, nährende Licht mit anderen Augen betrachten. Denn gerade die Kontraste zwischen hoch und tief, hell und dunkel, heiß und kalt, zwischen oben und unten regen unser seelisches Wachstum an. Wählen wir den Weg des Extremen, so bewirkt das ein erhebliches Wachstum durch Erfahrung. Dieser Weg ist nicht immer leicht, und wir könnten uns verletzen oder vielleicht sogar scheitern. Doch gerade die Herausforderung, die er zu bieten hat, erfüllt und bereichert unser Leben durch Freude und Lebendigkeit.
Der Rundwanderweg hingegen lässt sich in gleichförmiger Routine beschreiten. Kein Schritt kostet mehr Kraft als der andere, keine Abgründe müssen überwunden werden, kein Hindernis versperrt den Weg. Aber die Möglichkeiten, das eigene seelische Wachstum voranzutreiben, Lebensfreude zu empfinden, Herausforderungen zu meistern und sich dabei selbst kennen zu lernen, sind auf diesem Weg sehr begrenzt.
Wir alle wünschen uns, den „Gipfel“ mühelos erreichen zu können, ohne ins „Tal“ zurückkehren zu müssen. Wir hoffen, die Schönheiten einer Höhle entdecken zu können, ohne uns dabei in die Dunkelheit und Tiefe unseres Unterbewusstseins zu begeben. Dieses Wunschdenken widerspricht allerdings dem Gesetz der Harmonie, welches besagt, dass letztlich alles energetisch wieder ausgeglichen werden muss. Einer Sinuskurve gleich können wir den Gipfel von Freude und Lust nur erreichen, wenn wir auch bereit sind, den Abstieg zu meistern und uns in die Tiefe unseres Seins zu begeben.
Vermeiden wir aber jedes Risiko, planen all unsere Schritte und gehen jeglicher Herausforderung aus dem Weg, so wird die Sinuskurve zur Nulllinie der Leblosigkeit. Es gibt keinen Wellenberg und kein Wellental mehr, alles ist gleichförmig und einheitlich.
Entscheiden Sie nun, welchen Weg Sie zukünftig beschreiten möchten. Wägen Sie ab, welche Vor- und Nachteile er bietet. Prüfen Sie Ihr Herz, ob sie mutig genug sind, die ausgetretenen Pfade zu verlassen und ihr Abenteuer zu beginnen. Sie haben zu jedem Zeitpunkt die freie Wahl!