Читать книгу Rachedurst - Kerstin Schwarz - Страница 4
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Lilly starrte aus dem Fenster. Sie nahm die vorbeiziehende Landschaft nicht wahr. Selbst das gleichmäßige Rattern des Zuges drang nicht zu ihr durch. Sie war in Gedanken versunken und viel zu sehr damit beschäftigt, ihren Rucksack fest zu umklammern. Ihr ganzes, und ab jetzt auch einziges, Hab und Gut war darin verstaut.
Sie konnte es immer noch nicht glauben. Sie hatte es wirklich getan. Ein breites Lächeln zeichnete sich in ihrem Gesicht ab.
Endlich frei, dachte sie und erfreute sich an diesem Gedanken. Wie lange hatte sie diesen Tag schon herbeigesehnt? Die Schulzeit war zu Ende und Lilly hatte es geschafft.
Mit ihrem Abschlusszeugnis in der Tasche war sie heute früher nach Hause gekommen. Doch niemand war daheim gewesen. Wann war Lilly das letzte Mal allein zu Hause gewesen? Es war schon so lange her, dass sie sich gar nicht mehr daran erinnern konnte. Irgendwo lungerte immer ihr Stiefvater Joe herum, stets darauf bedacht, Lilly das Leben schwer zu machen. Ihre Mutter Angelika war in diesen Momenten leider auch keine Hilfe, meist schaute sie einfach nur weg. Viel zu groß waren der Respekt und die Angst vor dem zweiten Mann an ihrer Seite.
Da heute niemand mit Lilly so früh gerechnet hatte, war Joe wohl noch mal weggegangen. Das kam Lilly sehr gelegen. Es vereinfachte ihren längst geschmiedeten Plan endlich in die Tat umsetzen zu können. Schon am Abend zuvor hatte sie angefangen, ein paar Sachen in ihren Rucksack zu packen. Doch jetzt konnte sie in aller Ruhe auch noch den Rest in ihrer Tasche verstauen. Kleidung zum Wechseln, etwas zu essen und zu trinken, ihre Ersparnisse, alle notwendigen Papiere und ihr Zeugnis. Die Noten waren zwar nicht die besten, aber immerhin hatte sie ihren Abschluss geschafft.
Sie wollte ab jetzt alles richtig machen. Ein Neuanfang, weit weg von ihrem bösen Stiefvater. Diesen Plan hatte sie sich schon vor einiger Zeit überlegt. Sobald sie mit der Schule fertig war, wollte sie einfach nur weg von zu Hause. Die Sommerferien waren der perfekte Zeitpunkt, um zu verschwinden. Sie war schon siebzehn und hoffte, sich das eine Jahr bis zur Volljährigkeit allein durchschlagen zu können. Sie träumte von Berlin, einem glücklichen Leben in der goldenen Hauptstadt. 2001 – das sollte ihr Jahr werden!
„Fräulein, ihre Fahrkarte bitte!“ - Überrascht blickte Lilly auf. Ein junger Mann hatte sie aus ihren Gedanken gerissen und grinste sie nun erwartungsvoll an. Er hatte ein aufgeschlossenes Lächeln, das sich in seinen grünen Augen widerspiegelte. Trotz seines kleinen Bartes wirkte seine leicht gebräunte Haut zart und gepflegt. In aller Eile und Vorfreude war Lilly in den nächsten Zug gesprungen, ohne sich vorher ein Ticket zu kaufen. Gute zweieinhalb Stunden war sie bereits mit dem Zug unterwegs, als sie nun nach ihrer Fahrkarte gefragt wurde.
„Oh, einen Moment bitte“, bat sie den Kontrolleur, der nur wenige Jahre älter als Lilly zu sein schien. Sie schenkte ihm ihr süßestes Lächeln und strich sich schüchtern die Haare zurück. Geduldig lächelte er Lilly an, während sie weiter in ihrer Tasche kramte und nicht wusste, was sie nun tun sollte. In ihrer Panik wurde Lilly leicht rot im Gesicht, doch es schien niemand zu bemerken.
„Suchen sie in aller Ruhe nach ihrem Ticket. Ich komme gleich noch mal bei ihnen vorbei“, sagte er und ging weiter, um die anderen Passagiere zu kontrollieren.
Puh, dachte Lilly und atmete erleichtert auf. Das war knapp. Wie konnte sie nur so dumm sein und vergessen, ein Ticket zu kaufen? Auf diese Weise würde sie niemals in Berlin ankommen.
Lilly schaute aus dem Fenster und sah eine schöne, ländliche Gegend. Im Großen und Ganzen erinnerte es sie an ihre Heimat, ein verschlafenes Zweitausend-Seelen-Kaff, in das sie so schnell nicht wieder zurückkehren wollte.
Der Zug rollte gerade in den nächsten Bahnhof ein. Lilly ergriff diese Chance und erhob sich vorsichtig von ihrem Sitz. Sie schlich zu den vorderen Türen und hoffte, der Kontrolleur würde ihr Verschwinden nicht gleich bemerken. Den Zug vorzeitig zu verlassen, schien ihr die beste Lösung, auch wenn sie heute ihrem Ziel nicht viel näher kommen würde.
Ohne noch einmal von dem jungen Schaffner gesehen worden zu sein, verließ Lilly den Zug.