Читать книгу Rachedurst - Kerstin Schwarz - Страница 7
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-RÜCKBLICK-
Lilly war zehn Jahre alt. Vor sechs Wochen waren die Sommerferien zu Ende gegangen und Lilly in die fünfte Klasse gekommen. Leider kam sie mit der neuen Klassenlehrerin nicht so gut zurecht. Frau Meyer war eine Frau mittleren Alters. Schon ihr Aussehen verriet, dass sie keinen Widerspruch duldete. Ihr Haar war bereits leicht grau meliert und zu einem strengen Knoten zusammengebunden. Erste Fältchen zogen sich durch ihr Gesicht und nur selten drang ein Lächeln über ihre Lippen. Sie versuchte immerzu, die Kinder mit Strenge und Disziplin in ihre Schranken zu weisen.
Die Umstellung nach den Ferien fiel Lilly in diesem Jahr besonders schwer. Sie hatte fast die ganzen Ferien draußen verbracht. Entweder war sie allein über Felder und Wiesen getobt oder sie hatte sich mit Freundinnen zum Spielen getroffen. Auch mit ihrem Vater hatte sie sehr viel Zeit verbracht. Obwohl Kai meist lange arbeiten musste, hatte er sich immer wieder Zeit für seine Tochter genommen. Bei ihrer Mutter sah es dagegen leider anders aus. Obwohl Angelika nur halbtags arbeitete, war sie auch den restlichen Tag immer schwer mit sich selbst oder der Hausarbeit beschäftigt und fand nur selten Zeit, etwas mit Lilly zu unternehmen.
So konnte Lilly nie die volle Liebe und das starke Vertrauen zu ihrer Mutter aufbauen, wie sie es bei ihren Freundinnen neidvoll beobachten konnte. Doch solange Lilly wusste, dass sie sich auf ihren Vater verlassen konnte, war ihr das nicht so wichtig. Sie hatte schon früh gelernt, ihren Vater als Bezugsperson anzusehen. Und auf das Geschimpfe ihrer Mutter verzichtete das kleine Mädchen nur allzu gerne. Es war auch einzig ihr Vater, der das ungezügelte Temperament seiner Tochter verstehen konnte. Kai war als kleiner Junge genauso gewesen und selbst heute brauchte er immer noch seine Freiheiten. Dieses entgegengebrachte Verständnis und die Ähnlichkeit der beiden schuf eine starke Verbindung zwischen Lilly und ihrem Vater. Sie vergötterte diesen Mann und liebte ihn über alles. Auch wenn ihre Mutter mit ihr schimpfte und Kai in diesen Situationen hinter seiner Frau stand, wusste Lilly tief in ihrem Herzen, dass ihr Vater sie verstand und ihr niemals wirklich böse sein konnte.
Bei schönem Wetter gingen Lilly und ihr Vater immer gerne auf lange Wanderungen durch Wiesen und Wälder. Schon früh zeigte er ihr die Schönheit der Natur und lehrte Lilly auch, welche Pilze und Pflanzen sie meiden sollte. Lilly genoss diese Zeit mit ihrem Vater sehr. So lernte sie die Natur zu lieben und zu schätzen. Sie war schon immer ein richtiger Wildfang gewesen.
Doch leider eckte sie damit bei ihrer neuen Klassenlehrerin immer wieder an und wurde schnell als Unruhestifterin abgestempelt. So war es auch schon öfter vorgekommen, dass Frau Meyer ihre Eltern benachrichtigen ließ.
Heute war wieder ein Tag, an dem Lilly ganz und gar nicht still sitzen konnte. Es war ein herrlicher Spätsommertag und die Sonne schien unaufhaltsam vom Himmel. Lilly schaute lieber aus dem Fenster, als dem Unterricht zu folgen. Sie träumte davon, durch die Felder zu streifen und draußen herum zu toben.
„Lilly, hier spielt die Musik!“, schallte es vom Lehrerpult. Frau Meyer, die Klassenlehrerin trommelte ungeduldig mit ihren Fingern auf den Tisch.
Einen kurzen Augenblick schenkte Lilly ihr die gewünschte Aufmerksamkeit, ehe sie wieder aus dem Fenster sah.
„Lilly!“, schrie die Lehrerin und sprang auf. „Kannst du bitte meine letzte Frage wiederholen?“
Lilly schaute die Frau direkt an, doch sie antwortete nicht. Stattdessen wippte sie mit ihrem Stuhl und beobachtete mit einem leichten Schmunzeln im Gesicht, wie die Augen der Lehrerin immer schmäler wurden. Sie hoffte, endlich wieder den Blick aus dem Fenster richten zu können. Die ganze Zeit hatte sie den blauen Himmel beobachtet, an dem einige Schleierwölkchen langsam vorüber gezogen waren. Doch Frau Meyer ließ nicht locker und wollte Lillys Verhalten nicht weiter durchgehen lassen.
„Wenn du schon nicht aufpassen willst, dann stör’ gefälligst nicht auch noch deine Mitschüler“, sagte Frau Meyer, der es nicht entgangen war, dass sich langsam die Unruhe in der ganzen Klasse ausbreitete. „Es wird wohl am besten sein, wenn dich deine Eltern abholen“, fügte sie in bitter-bösem Tonfall hinzu. Sie verwies Lilly der Klasse und schickte sie auf direktem Wege zum Direktor.
Lilly schluckte hart, doch sie ließ sich ihr Unbehagen nicht anmerken. Gelassen erhob sie sich von ihrem Stuhl und verließ das Klassenzimmer. Trödelnd lief sie zum Sekretariat.
Die junge Sekretärin war gerade am Telefon und begrüßte Lilly mit einem wissenden Nicken. Es war nicht das erste Mal, dass Lilly hergeschickt worden war und sie kannten sich bereits. Ihr Name war Kelly. Sie hatte zu Beginn des neuen Schuljahres angefangen hier zu arbeiten. Ihr langes, blondes Haar war zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, der fröhlich um ihren Kopf hin- und herhüpfte. Kelly war wirklich nett und Lilly mochte sie sehr. Gerade beendete Kelly ihr Telefonat und fragte Lilly, ob sie wieder ihre Mutter anrufen sollte.
Lilly nickte und schaute verlegen zu Boden. Das würde eine weitere Standpauke bedeuten. Sie versuchte eine aufsteigende Träne zu unterdrücken.
„Lilly, sei doch nicht besorgt“, versuchte Kelly sie zu beruhigen. Lilly blickte auf und schaute Kelly an, die sie mit einem verständnisvollen Lächeln beobachtete.
„Ich kann deine Mutter nicht erreichen. Soll ich es stattdessen bei deinem Vater auf der Arbeit versuchen?“ - Lilly atmete erleichtert auf und gab dem Mädchen die Telefonnummer von der Kanzlei ihres Vaters. Er würde sie sicher verstehen und bei dem schönen Wetter etwas Gnade walten lassen, hoffte Lilly.
Zwanzig Minuten später traf Lillys Vater in der Schule ein. Seine kantigen Wangen waren leicht gerötet und seine dunklen Augen funkelten böse. Sein schwarzes Haar wirkte zerzaust. Er war in aller Eile hergekommen und versuchte gar nicht zu verbergen, wie ungünstig dieser Zwischenfall für ihn war. Kai trug ein kurzärmeliges Hemd mit Krawatte. Sein Jackett hatte er bei dieser Hitze im Auto gelassen. In seinem schicken Anzug strahlte er immer eine große Autorität aus. Lilly bewunderte die Art, wie er damit auf seine Mitmenschen wirkte. Auch wenn sie ihn ohne Anzug und Krawatte noch viel mehr liebte.
Der Direktor kam zur gleichen Zeit aus seinem Büro und begrüßte Kai freundlich. Der Direktor war ein älterer Mann mit einer sehr imposanten Ausstrahlung. Er war schon weit über fünfzig und hatte eine Glatze. Seine schmale, randlose Brille ließ ihn sehr intellektuell wirken. Jeder begegnete diesem Mann mit großem Respekt und Ehrfurcht. Manche Schüler hatten sogar regelrecht Angst vor ihm. Doch Lilly mochte diesen Mann. Sie hatte immer das Gefühl, hinter seiner harten Schale seine freundliche Art sehen zu können.
Ohne große Worte zu verlieren, führte er Vater und Tochter in sein Büro und schloss die Tür hinter den beiden. Der folgenden Standpauke des Direktors hörte Lilly nur mit einem Ohr zu. Es war doch immer das Gleiche. Sie hatte längst aufgehört, auf Verständnis seitens der Lehrer oder des Direktors zu hoffen.
Nachdem Lilly auch diese Rede über sich ergehen lassen hatte, wurde sie für den Rest des Tages vom Unterricht ausgeschlossen.
Bisher hatte nichts die starke Verbindung zwischen Lilly und ihrem Vater zerstören können. Doch heute schien es anders zu sein. Kai packte Lilly grob am Arm und bugsierte sie aus dem Büro des Direktors. Erst am Auto ließ er ihren Arm wieder los.
„Was hast du dir nur dabei gedacht?“, schrie er Lilly an. „Kannst du nicht einmal deiner Lehrerin gehorchen?“ - Er gab Lilly keine Chance zu antworten. „Wir haben heute in der Kanzlei so viel zu tun. Es war mir fast unmöglich herzukommen. Ich musste einen wichtigen Termin verschieben. Und das nur, weil du nicht aufpassen und still sitzen konntest?! Also wirklich, Lilly! Wie soll das weitergehen? In den letzten Wochen wurden wir schon mehrmals angerufen und in die Schule bestellt. Was ist nur los mit dir?“
Die Enttäuschung in der Stimme ihres Vaters schmerzte Lilly sehr. Dieser Tonfall ließ sie erkennen, dass er es diesmal wirklich ernst meinte. Er war wirklich böse auf sie.
„Tut mir leid, Daddy!“, entschuldigte sich Lilly. Doch ihr Vater war heute nicht so einfach zu besänftigen.
Er hielt ihr die Autotür auf. „Steig ein! Ich muss gleich wieder zurück in die Kanzlei. So langsam musst du wirklich lernen, dem Unterricht zu folgen und besser aufzupassen. Du bist doch kein Baby mehr!“
Jedes Wort, das ihr Vater sagte, schmerzte sehr. Lilly wollte ihren Vater nicht enttäuschen. Sie wollte seine Liebe nicht gefährden, denn er war doch alles, was sie hatte. Kai hatte es sehr eilig und fuhr ziemlich schnell. Lilly hielt sich krampfhaft am Türgriff fest. Diesen Fahrstil ihres Vaters kannte sie bisher nicht und er gefiel ihr noch weniger.
„Daddy, fahr doch nicht so schnell!“, rief sie vom Rücksitz. Doch ihr Vater ignorierte ihren Einwand.
„Ich bringe dich jetzt nach Hause und dann muss ich gleich wieder zurück in die Kanzlei. Dort wartet schon der nächste Klient auf mich. Du wirst direkt in dein Zimmer gehen und über dein Verhalten nachdenken. Und wenn ich heute Abend nach Hause komme, hast du hoffentlich begriffen, was du falsch gemacht hast!“
Kurz darauf bogen sie in ihre Straße ein. Mit einem harten Bremsmanöver brachte Kai das Auto direkt vor dem Haus zum Stehen. Es war ein freundliches Haus und lag mitten in einer ruhigen Straße. Die vier Fenster nach vorne wirkten einladend. Lilly hatte sich stets gefreut nach Hause zu kommen. Hier war sie aufgewachsen und verband viele schöne Erinnerungen mit diesem Haus. Im Vorhof hatte sie Fahrradfahren gelernt und im Garten hinter dem Haus das Klettern und Schaukeln. Es war ein idyllisches Haus, das zu ihrer kleinen, perfekten Welt gehörte. Es gab ihr eine gewisse Sicherheit und Lilly fühlte sich hier sehr wohl. Auch wenn sie heute Nachmittag mit einem mulmigen Gefühl im Bauch auf ihr Zuhause blickte.
Kai ließ Lilly aussteigen und beobachtete mit laufendem Motor, wie Lilly ins Haus ging und die Haustür hinter sich schloss. Mit quietschenden Reifen raste er davon.
Niemand war zu Hause. Da ihre Mutter wohl noch auf der Arbeit war, gehorchte Lilly den Worten ihres Vaters und ging in ihr Zimmer. Sie war traurig, ihren Vater enttäuscht zu haben und wünschte sich, ihr Vater hätte etwas mehr Verständnis für sie aufgebracht. Es war das erste Mal, dass er sie mit seinen strafenden Worten allein zurückgelassen hatte.
Auf dem Weg zurück in die Kanzlei fuhr Kai viel zu schnell. In einer scharfen Kurve verlor er die Kontrolle über sein Auto. Es brach aus und raste in ein entgegenkommendes Fahrzeug. Kai wurde aus dem Wagen geschleudert und blieb schwer verletzt auf der Straße liegen. Als die Rettungskräfte am Unfallort eintrafen, war er schon tot.
Zur gleichen Zeit lag Lilly auf ihrem Bett und weinte. Sie flehte um Verzeihung und hoffte, ihr Vater würde bald nach Hause kommen, damit sie sich wieder mit ihm versöhnen konnte. Doch er kam nie wieder nach Hause.