Читать книгу Rachedurst - Kerstin Schwarz - Страница 9
Оглавление6
-RÜCKBLICK-
Der Tod ihres Vaters hatte Lilly sehr zugesetzt. Innerhalb weniger Monate war aus dem fröhlichen, frechen Mädchen ein sehr in sich gekehrtes, scheues Wesen geworden. Sie gab sich selbst die Schuld an dem Unglück, das ihrem Vater zugestoßen war. Ihr ungestümes Verhalten hatte diese ganze Ereigniswelle ausgelöst und sie konnte nicht begreifen, dass ihr Vater jetzt weg war und nie wieder zurückkommen würde.
Nie wieder würde sie ihm vom Fenster aus zuwinken, wenn er zur Arbeit ging und nie wieder würde sie ihm stürmisch um den Hals fallen können, wenn er abends nach Hause kam. Er würde nie wieder mit ihr durch die Felder streifen. Diese Zeiten waren vorbei, ein für alle Mal.
Und obwohl Lilly das wusste, saß sie jeden Abend zur gleichen Zeit in ihrem Zimmer und starrte aus dem Fenster hinunter zur Straße. Sie hoffte ganz fest, dass alles nur ein großer Irrtum war und dass ihr Vater wieder heimkommen würde. Doch es geschah nicht. Und in dieser schweren Zeit, in der Lilly trauerte, wartete und weiterhin hoffte, war ihre Mutter Angelika keine große Stütze. Sie war immerzu mit sich selbst beschäftigt. Anfangs trauerte sie auch, flüchtete sich in Arbeit oder versuchte sich auf anderen Wegen abzulenken. Doch schon bald wurde die Trauer von Wut und Enttäuschung abgelöst. Und die kleine Lilly konnte bald nicht mehr nur so tun, als würde sie sich die bösen, hassvollen Blicke ihrer Mutter einbilden. Lilly verstand diese Blicke und Gesten der Mutter nur allzu gut.
Angelika gab ihrer Tochter die Schuld am Tod ihres Mannes und verstärkte damit nur noch mehr Lillys eigene Schuldgefühle. Lilly zog sich immer mehr in sich zurück. Diese Veränderung blieb auch in ihrer Schule nicht unbemerkt.
Obwohl die Lehrer eine Zeit lang Verständnis zeigten, wurden die Anrufe zu Hause bei Lillys Mutter immer häufiger und drängender. Doch Angelika scherte sich nicht um die Sorgen der Lehrer, sie wischte sie beiseite und nach ein paar Gläsern Wein waren die besorgten Anrufe schnell vergessen.
Leider vergaßen die Mitschüler von Lilly nicht so schnell und es dauerte nicht lange, bis Lilly immer mehr ausgegrenzt wurde. Nach und nach entfernten sich auch ihre besten Freundinnen immer mehr von ihr und Lilly stand ganz allein da. Ohne Vater, ohne Mutter und ohne Freunde.
Noch nie im Leben hatte sie sich so einsam gefühlt. Sobald sie zu Hause war, verkroch sie sich in ihrem Zimmer. Oft saß sie auf ihrem Bett, starrte ins Leere und verstand die ganze Welt nicht mehr. Ihr Kummer war so groß, dass Lilly oft wünschte, sie wäre tot. Sehr oft heulte sie sich die Augen aus und hoffte, sie würde von diesem Elend erlöst. Sie betete zu Gott und flehte, zu ihrem Vater zu dürfen, doch nichts geschah. Niemand kam und half ihr.
Mittlerweile genügte es auch ihrer Mutter nicht mehr, nur am Abend ein paar Gläser Wein zu trinken. Sie wollte ausgehen und Spaß haben. Sie war noch jung und ihr Leben war noch nicht vorbei.
Nach fast zwei Jahren in Trauer ging Angelika wieder aus. Sie verbrachte die Wochenenden in Bars und Clubs. Schon bald erkannte Lilly ihre Mutter gar nicht mehr wieder. In den letzten Wochen hatte sie sich komplett verändert. Sie schien ihre verpasste Jugend nachholen zu wollen. Dass Lilly nicht wirklich ein Wunschkind gewesen war, hatte sie sich schon früh ausrechnen können. Mit 22 war ihre Mutter noch viel zu jung gewesen, um schon an die Gründung einer eigenen Familie zu denken. Sie hatte zwar ihre Ausbildung zur Laborassistentin erfolgreich abgeschlossen, doch hatte sie ihre beruflichen Träume bis dahin noch nicht verwirklichen können.
Und jetzt, mit 34 schien sie lebendiger denn je. Angelika hatte sich eine neue Frisur und Haarfarbe zugelegt. Aus den braven langen Haaren war eine kesse Kurzhaarfrisur in peppigem rot geworden. Sie hatte auch ihre gemütlichen, ausgewaschenen T-Shirts und Hosen gegen neue, hautenge und vor allem sexy Jeans und Blusen getauscht. Natürlich fiel es ihr so nicht schwer, neue Männer kennenzulernen und diese bei beidseitigem Wohlgefallen auch mit nach Hause zu bringen.
Vielleicht hätte Lilly das Ganze besser verstanden, wenn ihre Mutter mit ihr darüber gesprochen hätte. Über die Situation, über den Tod ihres Vaters oder einfach nur über irgendetwas. Doch Angelika redete so gut wie gar nicht mehr mit ihrer Tochter. Und so verschloss sich Lilly immer mehr in ihrer eigenen Welt und in ihrem Inneren wuchs etwas heran. Es war Hass. Blanker Hass auf ihre Mutter, ihre Mitmenschen und die ganze Welt.
Doch das neue Leben schien ihrer Mutter Angelika gut zu tun. Nach ein paar Monaten hatte sie jemanden kennengelernt und die wechselnden Männer hörten auf. Lilly bemerkte diese Veränderung sofort. Die Augen ihrer Mutter strahlten und sie hatte seit langer Zeit mal wieder ein Lächeln im Gesicht. Ein echtes, ehrliches Lächeln, mit dem sie sogar Lilly begegnete. Kurz darauf fing sie auch an, wieder mit ihrer Tochter zu reden.
„Lilly, ich habe einen ganz tollen Mann kennengelernt und ihn heute Abend zum Essen eingeladen. Er möchte dich unbedingt auch kennenlernen. Ich hoffe, du bist nett zu ihm!“, ermahnte die Mutter zum Ende.
Natürlich ging es nur darum. Wie hatte Lilly denn auch etwas anderes erwarten können? Aber sie wollte ihrer Mutter diesen Abend nicht ruinieren. Viel zu lange war es her, dass solches Glück und Freude im Gesicht ihrer Mutter geschrieben stand. Viel zu lange hatte ihre Mutter immer wieder andere Männer mit nach Hause gebracht und Lilly musste die Abende allein in ihrem Zimmer verbringen. Lautlos hatte sie sich in den Schlaf geweint. Nur manchmal war sie heimlich hinunter geschlichen, um zu lauschen oder einen Blick auf die Freunde ihrer Mutter zu werfen. Jetzt endlich sollte sie den besonderen Freund ihrer Mutter kennenlernen.
Lilly freute sich wirklich und ließ sich von der Aufregung ihrer Mutter anstecken, die sich bemühte, ein gelungenes Abendessen aufzutischen. Schließlich wollte Angelika das Herz dieses Mannes erobern. Das Radio wurde aufgedreht und die beiden sangen gemeinsam zu der fröhlichen Musik, die aus den Lautsprechern drang.
Es war wirklich schon lange her, dass solch eine gute Stimmung in diesem Hause geherrscht hatte. Lilly half ihrer Mutter noch den Tisch zu decken und gerade in dem Moment, als die letzte Gabel ihren Platz gefunden hatte, läutete es an der Haustür.