Читать книгу Rachedurst - Kerstin Schwarz - Страница 6
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Ruckartig schoss Lilly in die Höhe. Ich war wohl kurz eingeschlafen, dachte sie und blickte nach oben in die Baumkrone. Dort entdeckte sie ein Baumhaus im Geäst.
Lilly überlegte kurz und kletterte dann vorsichtig hinauf. Das Baumhaus war schon alt, doch wirkten die Bretter weder morsch noch instabil. Sie zog sich hoch auf die schmale Brüstung und kletterte in das alte Häuschen. Es roch modrig und überall waren Spinnweben, die bestätigten, dass es schon lange nicht mehr betreten worden war. Auf dem Boden hatte sich eine Menge Dreck und Morast angesammelt. Wahrscheinlich hatte der Erbauer das Baumhaus längst vergessen oder war mittlerweile zu alt geworden, um sich regelmäßig hierher zurückzuziehen. Aber immerhin war es mit größter Sorgfalt und Liebe zusammengebaut worden.
Lilly versuchte ein paar der Spinnweben zu entfernen und den Dreck am Boden etwas zur Seite zu schieben. Schließlich machte sie es sich auf dem Holzboden gemütlich. Doch der Schlaf war diesmal alles andere als erholsam.
Unruhig warf sich Lilly hin und her. Sie wurde von Alpträumen geplagt. Knack! Was war das? Lilly schreckte hoch. Knack! Da war es wieder. Es klang, als würde jemand den Baum hochklettern. Lilly starrte angsterfüllt auf die Öffnung des Baumhauses. Gleich war es so weit. Wer auch immer versuchte, das Baumhaus zu erklimmen, würde es jede Sekunde geschafft haben.
Lilly war gebannt und konnte sich nicht rühren. Sie konnte den Blick nicht abwenden. Was sollte sie nur tun? Einen zweiten Ausgang gab es nicht. Noch immer war Lilly wie gelähmt, als eine Hand in der Öffnung erschien. Erst das Antlitz ihres Stiefvaters befreite sie aus dieser Starre.
„Nein, nein!“, schrie Lilly. „Wie hast du mich gefunden?“
Doch Joe antwortete nicht, er kam geradewegs auf sie zu. Während Lilly rückwärts kroch, funkelte reine Mordgier in Joes Augen. Er zückte ein Messer. Lilly war mittlerweile in der Ecke des Baumhauses angelangt. Sie saß nun in der Falle.
„Nein, nein, nein!“, wimmerte sie wehleidig. Joe machte den letzten Schritt und stand nun direkt vor ihr. Noch immer sprach er kein Wort. Sein Mund verzog sich zu einem grausigen Grinsen, als er Lilly das Messer in die Brust rammte. Fassungslos starrte Lilly an sich herab, auf die klaffende Wunde direkt neben ihrem Herzen. Das Blut rann ihren Bauch hinunter. Sie konnte sich immer noch nicht rühren.
Joe holte aus und trieb das Messer noch einmal in Lillys Oberkörper hinein. Erst als das Messer Lilly zum zweiten Mal berührte und ihr Fleisch unter seiner Klinge teilte, gewann sie die Kontrolle zurück. Lilly schrie aus Leibeskräften. Sie schrie aus Schmerz, aus Wut und Verzweiflung. Diese Schreie brachten sie zurück in die Realität und ließen sie auch aus ihrem Albtraum entkommen.
Schweißgebadet wachte Lilly auf. Es war mittlerweile schon dunkel geworden und Lilly lag noch immer unter dem Baum. Sofort untersuchte sie ihren Körper nach Stichwunden und Verletzungen. Doch sie konnte keine entdecken. Lilly stöhnte auf. So laut, dass sie ein Käuzchen aufscheuchte. Total erleichtert atmete Lilly tief ein und aus und versuchte sich wieder zu beruhigen. Es war zum Glück nur ein Traum gewesen. Ein schrecklicher Albtraum, der so real und echt gewirkt hatte. Ein Traum im Traum.
Lilly schaute auf ihre Uhr, es war bereits kurz nach 23 Uhr. Der Mond stand hoch am Himmel und erhellte das ganze Tal. Alles wirkte immer noch so schön und idyllisch, selbst in der Nacht war es ruhig und friedlich. Nur hin und wieder drangen Geräusche der nachtaktiven Tiere an ihr Ohr, die sie aber weder beunruhigten noch verängstigten.
So beschloss Lilly, auch noch die restliche Nacht unter diesem Baum zu verbringen. Sie drehte sich auf die andere Seite. Dieser Traum hatte es wirklich in sich gehabt! Sie fühlte sich innerlich noch immer aufgewühlt und wusste nicht recht, wie sie das Ganze deuten sollte. Wieder rollte Lilly sich herum. Sie dachte darüber nach, wann ihre schöne Bilderbuchwelt ins Wanken geraten und wie eine Seifenblase zerplatzt war. Bisher hatte sie immer gerne an die Zeit von früher zurückgedacht. An ihre Kindheit, in der die Welt noch in Ordnung gewesen war. Diese Erinnerungen hatten ihr immer Trost gespendet und sie beruhigt. Doch jetzt wollten diese Gedanken sie nicht beruhigen. Sie fragte sich stattdessen zum ersten Mal, wann dieses Leben, das heute so weit weg schien, eigentlich aufgehört hatte zu existieren. War es durch den Autounfall ihres Vaters geschehen? Oder hatten es die darauf folgenden Männer ihrer Mutter zerstört? Vielleicht war aber auch die zweite Hochzeit ihrer Mutter schuld daran gewesen.
Tief im Inneren wusste Lilly, dass all diese Gründe und noch weitere dazu beigetragen hatten. Es war so vieles passiert, womit die kleine Lilly nicht zurechtgekommen war. Viel zu schnell hatte sie erwachsen werden müssen und lernen, mit Schmerzen und großen Verlusten klarzukommen. Immer noch von diesen schrecklichen Erinnerungen geplagt, warf Lilly sich unruhig hin und her, bis der Schlaf sie zum zweiten Mal übermannte.