Читать книгу Clans von Cavallon (2). Der Fluch des Ozeans - Kim Forester - Страница 11

Kapitel 3

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Die Pegasus glitten gemeinsam durch die Lüfte. Aquilla schlug mit den Flügeln und genoss das Rauschen des Windes, während sie mit den anderen sechsundneunzig Mitgliedern ihrer Herde in Formation flog.

Nein, dachte sie voller Zuneigung. Siebenundneunzig.

Das siebenundneunzigste Mitglied saß auf ihrem Rücken, hielt sich an ihrer Mähne fest und stieß gelegentlich ein übermütiges Johlen aus: Jaren, ihr menschlicher Freund. Die anderen Pegasus bedachten ihn mit freundlichen Blicken. Er war jetzt einer von ihnen. Die Ältesten hatten ihn offiziell in ihre Herde aufgenommen, weil er ihnen geholfen hatte, das Heer von Zentauren, Einhörnern und Menschen zu besiegen, das zu ihnen in den Norden Cavallons gekommen war, um die Pegasus zu vernichten.

Nun verwandelten sie die Geschichte ihres Sieges in eine ihrer vielen Erzählungen, die die Pegasus von Generation zu Generation weitergaben – die Saga von der Schlacht in den Splittern. Die Stimmung war ausgelassen, was nach dem Erfolg nicht verwunderlich war. Aquilla hätte sich gerne mit ihnen gefreut, doch es gelang ihr nicht recht.

Nicht solange Aquoro nicht bei uns ist. Die Sorge um ihren Bruder saß Aquilla wie ein Stein im Huf und ließ ihr keine Ruhe. Was ihr am meisten zu schaffen machte, war die Tatsache, dass sie nicht die geringste Ahnung hatte, wo er steckte. Er war einfach verschwunden, wie vom Erdboden verschluckt.

»Die Saga vom Krieg von Cavallon!«, rief Zadia, ein junges Fohlen mit weißen Flügeln, als die Saga von der Schlacht in den Splittern zu Ende war. »Papa, erzählst du sie uns?«

Ihr Vater – Baros, ein imposanter Pegasus mit gelbem Fell – stimmte die Geschichte an. Aquilla versuchte, ihre anhaltende Sorge beiseitezudrängen, und passte ihren Flügelschlag dem Rhythmus seiner tiefen Stimme an. Er erzählte von der Dürre und der Hungersnot und von den gewaltigen Anstrengungen, die die Pegasus auf sich genommen hatten, um den Rest Cavallons mit Wasser aus den Bergen zu versorgen – ein nobles Ansinnen, das letztlich jedoch zum Scheitern verurteilt war.

»Die saftigen grünen Landschaften verdorrten zu unfruchtbaren Einöden«, trug Baros vor. »Unter den anderen Clans brach ein Raunen los: Es hieß, die Pegasus behielten das Wasser ganz für sich. Bald kamen Gerüchte auf, dass die Pegasus die Sterne um diese Dürre gebeten hatten, weil sie die anderen Clans auslöschen wollten. Und so schickten sie eine Armee nach Norden.«

Die anderen Pegasus sprachen die Geschichte leise mit. Ihr Tonfall war jetzt ernst und gedrückt, wie es die traurigen Ereignisse verlangten. Auch Aquilla flüsterte die vertrauten Worte, die sie wie ihre eigenen Federn kannte.

Auf ihrem Rücken stieß Jaren ein abfälliges Grunzen aus. »Also, wir Menschen kennen die Geschichte anders«, raunte er und beugte sich vor, damit nur Aquilla ihn hören konnte. »Wir glauben, dass eine Entführung der Auslöser für den Krieg war. Die Pegasus haben doch einen Menschen verschleppt, oder nicht?«

Aquilla drehte den Kopf nach hinten und blickte ihn entrüstet an. »Eine Entführung? So etwas würden Pegasus nie tun.«

Jaren zuckte mit den Schultern. Seine zotteligen braunen Haare flatterten im Wind. »Das ist so lange her, das spielt doch jetzt auch keine Rolle mehr.«

Aquilla sah wieder nach vorne. Jaren musste sich irren. Seine Version der Geschichte konnte nicht stimmen, oder doch? Trotzdem fiel sie nicht wieder in den Singsang der anderen ein, als sie die Saga zu Ende erzählten.

Als Baros’ Stimme wie die Flügelschläge ihrer ins Exil vertriebenen Vorfahren im Wind verhallte, machte Zadia in der Luft einen Purzelbaum. »Noch mehr! Ich will noch eine Saga!«, rief sie und flatterte mit ihren kurzen Flügeln. Schwungvoll schloss sie zu Aquilla auf. »Erzählst du uns die Saga von dem Menschen, der zum Pegasus wurde? Bitte?«

»Dem Menschen, der was wurde?«, fragte Jaren.

Aquilla lachte. »Sie meint die Geschichte über dich, du Dussel.« Zu Zadia sagte sie: »Ich glaube, diese Saga braucht einen schöneren Namen. Jaren hat sich ja nicht verwandelt. Die Ältesten haben ihn in unsere Herde aufgenommen, weil in ihm das Herz eines Pegasus schlägt, und das schon immer.«

Zadia musterte Jaren nachdenklich. »Ja«, antwortete sie schließlich. »Das sehe ich.« Jaren lachte erfreut.

Aquilla holte tief Luft und sammelte ihre Gedanken. Sie hatte noch nie als Erste eine neue Saga erzählt – das war ein großes Ereignis im Leben eines Pegasus. Sie räusperte sich. »Dies ist die Saga von Jaren«, begann sie. Erleichtert stellte sie fest, dass ihre Stimme klar und fest klang. »Einem tapferen Menschenjungen aus einem kleinen Bergdorf, der sich auf die Suche nach dem Abenteuer machte.« Sie drehte sich zu Jaren um, dessen Augen vor Freude funkelten. »Er kletterte gerade einen steilen Berghang hinab, als ein fürchterlicher Sturm losbrach …«

Die anderen kamen dichter herangeflogen, um Aquilla zu lauschen, während sie beschrieb, wie sie und Jaren sich in der Berghöhle begegnet waren, wo sie beide vor dem Unwetter Schutz gesucht hatten. Zadia wiederholte jeden Satz mit großem Ernst und Aquilla stellte sich vor, wie die kleine Pegasusstute die Geschichte in einigen Jahren selbst an die jüngsten Fohlen der Herde weitergeben würde. Der Gedanke erfüllte sie mit Stolz.

Als Aquilla zu der Stelle kam, wo die Zentauren Jaren einsperrten, stieg die Angst, die sie ausgestanden hatte, plötzlich wieder in ihr hoch und ihr versagte die Stimme.

Jaren übernahm für sie. »Sie steckten mich – ich meine, Jaren – in eine winzige Zelle mit einem winzigen Fenster, das so weit oben war, dass er es nicht erreichen konnte. Er dachte, sein letztes Stündlein habe geschlagen, doch dann hörte er lautes Getöse und wisst ihr, was? Aquilla war gekommen, um mich zu retten! Ich meine, ihn.« Seine Worte klangen nicht ganz so feierlich, wie es für eine Saga üblich war, aber das hielt die anderen nicht davon ab, gebannt zuzuhören.

»Doch die Wachen der Zentauren führten Jaren fort«, erzählte Aquilla weiter, die ihre Fassung wiedergefunden hatte. Sie verwob ihre Geschichte geschickt mit der Saga von der Schlacht in den Splittern, wo Jaren das gegnerische Heer bewusst in die Irre geleitet hatte, sodass die Pegasus die feindlichen Clans besiegen konnten, indem sie erst eine Schneelawine und dann einen Felssturz auslösten. »Und auch der Felssturz, der den Pegasus den Sieg brachte, war Jarens Idee gewesen«, schloss Aquilla. »Als Zeichen ihrer Dankbarkeit und Wertschätzung machten die Pegasus ihn zu einem der ihren. Und so war Jaren der erste Mensch in der Geschichte Cavallons, der Teil einer Pegasusherde wurde.«

»Sehr schön erzählt, Aquilla. Und du auch, Jaren. Eine ausgezeichnete erste Saga«, lobte Odelia, eine Älteste mit goldenem Fell. Sie war den ganzen Tag vorneweg geflogen, hatte sich nun aber zurückfallen lassen, um Aquillas Erzählung zu lauschen.

Die anderen stimmten Odelia zu und Aquilla nahm ihre Glückwünsche mit einem dankbaren Nicken entgegen. Trotz aller Bescheidenheit konnte sie ihre Freude darüber nicht ganz verbergen. Sie blickte sich zu Jaren um – er grinste von einem Ohr zum anderen. Wir sind ein gutes Team, dachte sie.

Ein leises Wiehern lenkte ihre Aufmerksamkeit wieder an die Spitze der Gruppe, wo Rostro, Erster der Herde, sich zu den anderen umgedreht hatte. Seine graue Mähne tanzte im Wind, während er kraftvoll mit den Flügeln schlug, um sich auf der Stelle zu halten. Die Herde scharte sich um ihn, damit ihn alle hören konnten.

»Unsere Suche nach einem neuen Nachtlager hat uns über weite Strecken und an viele Orte geführt«, sagte Rostro, »und doch haben wir nichts gefunden, was unseren Bedürfnissen entspricht. Ich fürchte, uns bleibt nur noch eine Option – die Flügelbruchspitze.«

Ein entsetztes Raunen ging durch die Herde. Die kleine Zadia vergaß vor Schreck, mit den Flügeln zu schlagen, und sackte einige Pegasuslängen in die Tiefe, bevor sie in einen Luftstrom geriet, der sie sanft wieder aufwärtstrug.

Stirnrunzelnd flog Odelia zu Rostro und flüsterte ihm etwas zu. Ihre flachsgoldene Mähne war vom Wind ganz zerzaust.

»Was ist so schlimm an der Flügelbruchspitze?«, fragte Jaren Aquilla mit gesenkter Stimme. »Abgesehen vom Namen, meine ich.« Aquilla musterte ihn über ihre Schulter hinweg. Bei allen Sternen, die Menschen wissen wirklich nichts über den Krieg von Cavallon.

»Dort haben unsere Vorfahren ihre Waffen niedergelegt«, erklärte sie. »Sobald das Friedensabkommen unterzeichnet war, sind sie dorthin geflogen, haben ihre Waffen auf dem Gipfel gelassen und geschworen, nie wieder in den Kampf zu ziehen.«

Jaren stieß ein leises Pfeifen aus. »Das heißt – die Waffen sind alle noch da?«

»Das nehme ich an.« Aquilla war noch nie auf der Flügelbruchspitze gewesen. Aber sie war natürlich auch erst dreizehn und damit viel zu jung, um das Ende des Krieges selbst erlebt zu haben. Rostro war der Einzige, der sich an den Krieg von Cavallon erinnern konnte. Die Sagas aus jener Zeit priesen ihn als einen der größten Kämpfer der Pegasus.

»Moment mal«, fragte Jaren. »Wie konnten die Pegasus die Waffen eigentlich benutzen? Oder sie überhaupt herstellen?« Er wedelte mit einer Hand. »Braucht man dafür nicht so was hier?«

Aquilla schnaubte. »Nicht für magische Waffen«, antwortete sie. »Obwohl du nicht ganz unrecht hast. Es waren tatsächlich Menschen, die sie hergestellt haben. Damals, als wir noch mit euch Handel getrieben haben.«

Rostro erhob die Stimme, die trotz seines hohen Alters laut und kräftig war, um gegen das Flüstern und Tuscheln anzukommen, das durch die Herde ging. »Ich denke, dass wir uns dort wohl am besten vor dem Rest von Cavallon verstecken können. Die Flügelbruchspitze ist so abgelegen, dass die anderen Clans nicht einmal wissen, dass sie existiert. Und selbst wenn sie es wüssten, hätten wir nichts zu befürchten, denn die Hänge sind so steil und tückisch, dass niemand sie erklimmen kann.«

»Aber was ist mit unserem Schwur?«, warf Odelia ein.

»Haben wir den nicht ohnehin schon gebrochen?«, erwiderte Baros. »In den Splittern haben wir schließlich auch gekämpft.«

»Das war nur zu unserer Verteidigung«, stellte Rostro klar. »Der Schwur ist noch immer gültig – nie wieder werden wir gegen Cavallons andere Clans in den Krieg ziehen. Wir werden die Waffen dort nicht anrühren.«

Aquilla spürte die Wirkung, die Rostros ruhige, besonnene Stimme auf die Herde hatte. Der Widerstand wurde schwächer und mehr und mehr waren bereit, sich den Vorschlag zumindest durch den Kopf gehen zu lassen. Doch auch, wenn Rostros Argumente durchaus schlüssig waren, wusste Aquilla, dass keinem in der Herde diese Entscheidung leichtfallen würde. Auf der Flügelbruchspitze würden sie mit schmerzhaften Erinnerungen an die Vergangenheit konfrontiert werden und einmal mehr wurde ihnen allen bewusst: Die Pegasus würden ihre Vergangenheit niemals hinter sich lassen können.

»Lassen wir die Herde darüber abstimmen«, meinte Odelia. »Sprich, Rostro, Erster der Herde, und teile uns deine Entscheidung mit. Sollen wir uns auf den Weg zur Flügelbruchspitze machen?«

»Ich stimme für Ja«, verkündete Rostro. »Sprich, Odelia, Zweite der Herde. Was sagst du?«

»Ja«, antwortete Odelia.

So gab einer nach dem anderen seine Stimme ab, vom Ältesten zum Jüngsten. Die ersten stimmten alle dafür. Zwischendurch kamen sie bei der Reihenfolge etwas durcheinander, die sich geändert hatte, seit drei von ihnen in der Schlacht in den Splittern ums Leben gekommen waren. Mit hängenden Köpfen nahmen die nachrückenden Pegasus die Plätze der Verstorbenen ein. Nachdem die Sechsundachtzigste der Herde ihre Entscheidung kundgetan hatte, ging die Reihe bei Nummer achtundachtzig weiter. Der Siebenundachtzigste wurde übersprungen – das war Aquoro, von dem immer noch jede Spur fehlte. Aquilla blinzelte ein paar Tränen weg.

Wenigstens war er nicht unter den Toten.

Soweit wir wissen.

Schließlich war sie als Dreiundneunzigste der Herde an der Reihe. »Ja«, sagte sie entschlossen. Sie war ebenfalls der Meinung, dass die Flügelbruchspitze ihre beste Chance war. Mit zitternder Stimme sprach sich schließlich auch Zadia, die Sechsundneunzigste und Jüngste der Herde, dafür aus. Als sie fertig war, sah Rostro sie erwartungsvoll an.

»Oh!«, piepste sie. »Sprich, Jaren, Siebenundneunzigster der Herde, und teile uns deine Entscheidung mit.«

»Ich? Echt?«, fragte Jaren.

Aquilla war genauso überrascht wie er, versuchte aber, es sich nicht anmerken zu lassen. Zwar hatten die Ältesten Jaren in die Herde aufgenommen, aber sie hätte nicht damit gerechnet, dass die auch für Abstimmungen galt. Offenbar ging es einigen anderen ebenso, wie die Unruhe bewies, die hier und da aufkam. Doch die Ältesten sahen Jaren weiterhin abwartend an.

Aquillas Herz schlug schneller. Die Herde konnte nichts unternehmen, wenn nicht alle einstimmig dafür waren. Dadurch besaß jede einzelne Stimme ein enormes Gewicht. Jaren war sich dessen jedoch genauso wenig bewusst wie der schrecklichen Geschichte der Flügelbruchspitze. Er wirkte einfach nur erfreut, dass er ebenfalls gefragt wurde. »Äh, also, dann sage ich wohl mal Ja, glaube ich«, stotterte er.

Aquilla und der Rest der Herde atmeten erleichtert auf.

Rostro nickte. »So sei es«, verkündete er. »Folgt mir. Obwohl es hundert Jahre her ist, kenne ich den Weg dorthin noch genau.«

Sie wandten sich nach Norden. Die Sonne ging bereits unter, als die Flügelbruchspitze vor ihnen am Horizont auftauchte. Der Name passte: Auf der einen Seite stieg der Berg gleichmäßig an, ging dann aber abrupt in eine Reihe scharf abfallender Felsspitzen über, wodurch er wie ein gebrochener Flügel aussah. Der Gipfel war vollkommen kahl und die paar Bäume, die weiter unten aus dem Hang ragten, hoben sich von dem blassgrauen Fels ab wie schwärende Wunden. Aquilla lief ein Schauder über den Rücken. Nun, da sie hier waren, hätte sie am liebsten auf der Stelle kehrtgemacht.

»Ist wahrscheinlich zu spät, um es mir noch mal anders zu überlegen, oder?«, raunte Jaren.

Rostro führte sie über eine tiefe Spalte, die den Übergang vom sanften Berghang zur schroffen, zerfurchten Ödnis markierte. »Hier«, berichtete er, »haben wir damals unsere Waffen und Rüstungen abgeworfen. Schweif-Morgensterne, eiserne Hufglocken, Helme mit Speeraufsätzen und stachelbewehrte Flügelspitzen.«

Bedrückt kreisten sie über der Spalte, die von knorrigen Pflanzen und Gestrüpp überwuchert war. Es fiel schwer zu glauben, dass die Waffen immer noch dort unten lagen, denn durch das dichte Unkraut war nicht das geringste metallische Funkeln auszumachen. Aquilla war ganz froh darüber.

Die Herde ließ sich auf der zerklüfteten Seite des Berges nieder. Zwischen den kümmerlichen Bäumen würden sie zumindest ein wenig Schutz vor dem unbarmherzigen Wind finden, der über die Hänge fegte. Im grauen Licht der Abenddämmerung machten sie sich sogleich daran, ihr Nachtlager zu errichten. Einige gruben mit den Hufen Schlafkuhlen für die Fohlen in den Boden, andere suchten die Gegend nach geeigneten Höhlen ab und wieder andere gingen im spärlichen Wald auf Futterjagd. Aquilla wandte sich ab. Mit einem unguten Gefühl im Magen ließ sie den Blick über die Berge der Umgebung schweifen, die im Dämmerlicht blasslila schimmerten. Weit, weit dahinter lagen die Felder, Wälder und Städte von Cavallon.

Jaren rutschte von ihr runter und beugte sich vor, bis er mit den Fingern seine Zehenspitzen berührte, um seinen Rücken zu dehnen und zu strecken. Der kalte Wind ließ ihn schaudern und er zog fröstelnd die Schultern hoch. Dann drehte er sich zu ihr um. »Was ist los, Aquilla?«

Ihr Seufzer stieg als kleine Wolke in die Abendluft. »Ich hätte niemals herkommen dürfen«, antwortete sie. »Nicht ohne Aquoro. Er ist verschollen und ich stehe hier in der Gegend rum!«

Ihr aufgebrachter Tonfall alarmierte die Pegasus in ihrer Nähe. Sie hielten inne und hoben beunruhigt die Köpfe.

»Vielleicht solltest du dir trotzdem etwas Ruhe gönnen«, sagte Odelia sanft. »Wenigstens eine Nacht. Aquoro ist schon seit Tagen verschwunden. Vielleicht ist er schlicht …«

»Ich kann nicht«, unterbrach Aquilla sie. Ihr Blick wanderte zurück in Richtung Cavallon. »Er ist irgendwo da draußen und nach allem, was in den Splittern passiert ist … Wenn die Zentauren, Einhörner oder Menschen ihn finden, werden sie keine Gnade walten lassen.«

Die anderen sahen einander unsicher an. Aquilla hätte sich einfach auf den Weg machen können – es war ihre eigene Entscheidung und darüber musste nicht abgestimmt werden. Doch sie wollte, dass die sie verstanden.

»Ich helfe dir bei der Suche«, meldete sich Selela plötzlich zu Wort. Ihre Miene war traurig, aber entschlossen. Sie kannte das Gefühl, ein Familienmitglied zu verlieren, nur allzu gut. Auf ihren kastanienbraunen Flanken prangten immer noch die Streifen aus getrocknetem Schlamm, als Zeichen der Trauer um ihr kleines Fohlen, das vor nicht allzu langer Zeit von einem Adler gerissen worden war.

Durch Selelas Worte angespornt, boten weitere Pegasus ihre Unterstützung an. »Ich werde ebenfalls nach ihm Ausschau halten«, sagte Baros. »Du hast recht, Aquilla. Wir können ein Mitglied unserer Herde nicht einfach im Stich lassen.«

Aquilla wurde ganz warm ums Herz. »Danke«, antwortete sie mit belegter Stimme. »Ich denke … es wäre am besten, wenn ihr hier in den Bergen nach ihm sucht. Ich fliege nach Coropolis.«

Odelia schlug mit dem Schweif. »Das ist viel zu gefährlich!«, warnte sie. »Du kannst nicht dorthin zurück.«

»Als ich versucht habe, Jaren aus dem Gefängnis zu befreien, bin ich einem Mann begegnet, der mich für Aquoro gehalten hat«, erklärte Aquilla. »Er hat ihn eindeutig gesehen, denn er hat mir erzählt, dass Aquoro verschleppt worden ist. Und zwar von einem … Minotaurus.«

Ein überraschtes Raunen ging durch die Herde. Kein Wunder: Die Minotauren waren vor Hunderten von Jahren ausgestorben.

»Kann sein, dass der Mann den Verstand verloren hat«, räumte Aquilla ein, »und ich weiß, dass es ziemlich unwahrscheinlich klingt. Der Mann … ist inzwischen tot.« Sie blinzelte, als die Erinnerung, wie sein ausgemergelter Körper, von Zentaurenpfeilen durchbohrt, von ihrem Rücken fiel, wieder in ihr hochkam. »Aber vielleicht steckte in seinen Worten ja ein Körnchen Wahrheit.«

»Ich finde, dem sollten wir auf jeden Fall nachgehen«, meinte Jaren.

Aquilla sah ihn ungläubig an. »Du kommst mit?«

Er nickte. »Na klar. Was dachtest du denn?«

»Aber Jaren, du wurdest dort ins Gefängnis gesteckt. Was, wenn sie dich wiedererkennen?«

»Und ein riesiger Pegasus, der über ihren Köpfen herumflattert, wird ihnen nicht weiter auffallen, oder was?«, entgegnete er. Er schauderte. »Bei diesem Wind kriege ich fast schon Heimweh nach meiner Zelle. Da war es wenigstens warm.«

Aquilla prustete ihm zärtlich ins Haar. Mit Jaren an ihrer Seite erschien ihr Vorhaben mit einem Mal nicht mehr ganz so beängstigend.

»Mögen die Sterne über eure Reise wachen«, ertönte eine tiefe Stimme. Rostro war dazugekommen. Er nickte erst Aquilla und dann Jaren zu.

»Ihr solltet besser gleich aufbrechen«, riet Odelia nüchtern. »Nachts seid ihr schwerer zu entdecken.«

»Danke«, sagte Aquilla zu ihrer Herde. Mehr brachte sie nicht heraus, denn in ihrem Hals steckte plötzlich ein dicker Kloß. Aber bestimmt wussten die anderen, dass sie es aus ganzem Herzen meinte.

Jaren hielt sich an ihrer Mähne fest und schwang sich wieder auf ihren Rücken. Inzwischen fühlte sich das vollkommen natürlich an, als müsste es einfach so sein. Sie waren ein Team. Aquilla breitete die Flügel aus und stieg über die zerklüfteten Gipfel auf. Unter ihr wurden die Pegasus kleiner und kleiner.

Sie umkreiste den Berg einmal, um sich zu orientieren, und wandte sich dann Richtung Süden. Ich werde dich finden, Aquoro. Wo auch immer du bist.

Clans von Cavallon (2). Der Fluch des Ozeans

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