Читать книгу Clans von Cavallon (2). Der Fluch des Ozeans - Kim Forester - Страница 15

Kapitel 5

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Kritisch betrachtete Lysander Diomedes die Augen, die ihm wütend entgegenfunkelten. Darunter befand sich ein breites Maul, das zu einem stummen Schrei aufgerissen war und so den Blick auf zwei Reihen scharfer Reißzähne freigab.

Lysander lag mit untergeschlagenen Beinen auf einem Stapel samtener Ruhekissen und ließ seinen Bleistift über das Papier fliegen, während er die todbringenden Hörner des Minotaurus schraffierte. In dem Sandelholzkoffer in seinem Schrank, in dem er, hinter einigen Westen versteckt, seine Kunstwerke aufbewahrte, befanden sich inzwischen Dutzende solcher Bilder, aber dieses hier … Irgendwie gab es das lähmende Entsetzen, das ihn befallen hatte, als er der Bestie leibhaftig gegenübergestanden hatte, besser wieder als alle Zeichnungen zuvor.

Jedes Mal, wenn er die Augen schloss, sah er sie wieder vor sich: die muskulösen Arme, die riesigen Hände, die Beine mit den gewaltigen Hufen. Er konnte das Bild, wie die Kreatur aus der Höhle trat, einfach nicht vergessen. Genauso wenig wie das von seinem Vater, als er den Menschenjungen in die Höhle geschubst und dem Minotaurus als Beute dargeboten hatte.

Sein Vater. Cassio Diomedes, Oberster Chronist. Erster Berater des Königs.

Cassio Diomedes, Lügner. Bewahrer grausiger Geheimnisse.

Wie konnte er nur? Die Frage ging Lysander wieder und wieder durch den Kopf, während er die gewaltigen Schultern des Minotaurus zeichnete. Wie konnte er nur Teil von so etwas Schrecklichem sein?

Und schlimmer noch: Lysander gehörte jetzt auch dazu. Sein Vater hatte ihm erklärt, dass das Geheimnis um den Minotaurus die eigentliche Königswahrheit war und der Frieden in Cavallon nur dann sicher war, wenn Lysander dieses Geheimnis bewahrte.

In seiner kurzen Laufbahn als Chronist hatte Lysander das eine oder andere gelernt. Er wusste, dass er nicht genügend Informationen hatte, um die Verschwörung um den Minotaurus aufzudecken. Noch nicht. Und es gab nur einen Weg, die ganze Wahrheit zu enthüllen: Er musste so tun, als würde er mitspielen.

Als die Zeichnung fertig war, erhob sich Lysander, streckte seine Beine und ging über den weichen, moosigen Teppich zum Schrank, um sie wie die anderen zu verstecken. Dann versuchte er, seinen zerzausten Schweif und die zottelige Mähne zu kämmen, gab jedoch wie immer nach kurzer Zeit auf und ging nach nebenan in sein anderes Zimmer. Dort hatte ihm Melwynne, die Zentaurin, die im Hause Diomedes für den Haushalt zuständig war – Cassio wäre nie so tief gesunken, menschliche Bedienstete einzustellen –, bereits das Frühstück auf einem Tisch am Fenster bereitgestellt.

Seit er aus dem Gebirge zurückgekehrt war, ließ Lysanders Appetit zu wünschen übrig. Auch an diesem Morgen brachte er nur ein paar Bissen von der cremigen Eierpastete und eine Handvoll Beeren runter. Die Reste verfütterte er an die Vögel draußen auf dem Balkon, damit Melwynne nichts merkte, was Lysanders Vater misstrauisch hätte machen können. Es war ein wunderschöner Morgen. Die Sonne schien sanft auf die Blumenbeete vor dem Haus und ließ den Fluss in der Ferne glitzern. Das Anwesen der Familie Diomedes hatte eine der besten Aussichten in der ganzen Stadt, die angeblich nur von der des Königspalastes übertroffen wurde, wie sein Vater gerne erwähnte, doch Lysander kam alles blass und eintönig vor.

Er versuchte, den grauen Bleistiftstaub von seinen Knöcheln zu reiben. Wenn doch nur Alexos Archimedos, sein bester Freund, hier wäre. Aber Alexos war mit ihrer beider Notizen über die Begegnung mit dem Minotaurus sowie Lysanders Zeichnungen geflohen, um sie in Sicherheit zu bringen. Lysander hatte keine Ahnung, wo Alexos jetzt war oder ob er ihn jemals wiedersehen würde. Er hatte versucht, mit Alexos’ Mutter zu reden, die die Große Bibliothek im Zentrum von Coropolis leitete. Vielleicht hatte sie ja von ihrem Sohn gehört? Doch sie war gerade auf dem Weg zu einem Treffen mit dem Rat gewesen und hatte sich nur laut vernehmlich für sein Kommen bedankt und erwidert, dass Alexos den Besuch bei seiner Tante in der Tat sehr genoss. Dann war sie davongeeilt. Was auch immer hier vorging: Lady Archimedos wollte offenbar nicht, dass irgendjemand Alexos’ Verschwinden bemerkte.

Danach hatte Lysander sie mehrmals in ihrem Haus in der Nähe des Turms der Chronisten aufgesucht, aber sie war immer zu beschäftigt gewesen, um ihn zu empfangen.

Die Botschaft war eindeutig: Lysander war auf sich gestellt.

Er stellte sich vor, dass Alexos hier auf dem Balkon neben ihm stand und die Ellbogen aufs Geländer stützte, während sein ordentlich frisiertes goldenes Haar in der Morgensonne schimmerte. Du weißt immer, was zu tun ist, sagte Lysander in Gedanken zu ihm. Ich sollte nicht mal Chronist sein – Vater hat mein Zeugnis gefälscht. Du hättest den Posten bekommen sollen.

Das hier ist wichtiger, erwiderte Alexos. Was liegt dir mehr am Herzen: die Königswahrheit oder die echte Wahrheit?

Aber wusste der König überhaupt von dem Minotaurus? Immerhin war König Orsino schon lange krank und seit fast einem Jahr nicht mehr öffentlich aufgetreten. Dennoch war er überall für seine bescheidene, freundliche Art und Weisheit bekannt. Lysander konnte sich nicht vorstellen, dass König Orsino wissentlich daran beteiligt war, Menschen an einen Minotaurus zu verfüttern. Er wird dem Ganzen sicher ein Ende bereiten!

*

Der königliche Palast von Coropolis befand sich direkt am Meer und war durch den Fluss vom Rest der Stadt getrennt. Lysander hatte seine feinste Weste angezogen, aber als er beim Palast ankam, war die blaue Seide durchgeschwitzt. Er ging zur Seitentür, in der Hoffnung, dass man ihn dort eher einlassen würde. Immerhin war er am Tag des Gipfeltreffens mit den anderen Chronisten durch diese Tür gekommen.

Damals waren Dutzende Zentauren, Einhörner, Menschen und Kelpies durch die Tore in den weitläufigen Innenhof geströmt. Heute dagegen war es still und ruhig. Reihen stattlicher Bäume hielten den Lärm der Stadt fern, sodass nur das leise Rauschen der Wellen an Lysanders Ohren drang. Die vielen Stockwerke des Palastes erhoben sich weit über den Rest der Stadt. Einige Räume waren mit Marmor ausgekleidet, auf dem sich das Glitzern des Wassers spiegelte, andere wirkten wohnlich und luftig. Blumenranken und andere blühende Pflanzen hingen über die steinernen Brüstungen.

Lysander wartete, bis er wieder bei Atem war, und tupfte sich mit einem Taschentuch den Schweiß von der Stirn. Dann versuchte er, sein Haar glatt zu streichen, schlug mit seinem Schweif und trat auf die beiden Torwächter zu.

»Guten Tag, meine Herren«, sagte er, wobei er sich bemühte, in demselben aalglatten, selbstbewussten Tonfall zu sprechen, den sein Vater immer anschlug, wenn er es mit niedriger gestellten Personen zu tun hatte. »Ich wünsche eine Audienz beim König.«

Die beiden Wachen starrten ihn verdutzt an und legten die Köpfe schief, auf denen sie goldene Helme trugen. Dann fing einer der beiden an zu lachen. »Du glaubst, du kannst einfach hier reinspazieren und mit König Orsino sprechen?«

Lysander versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, auch wenn er spürte, wie sein Gesicht feuerrot anlief. »Nun ja, ich …«

Der zweite Wächter pikte Lysander mit seinem Speer in die Rippen – nicht so fest, dass es wehtat, aber es genügte, dass Lysander einige Schritte zurückwich und den Sandelholzkoffer mit seinen Bildern und Utensilien fallen ließ. »Verzieh dich, Junge.«

Lysander schluckte seine Enttäuschung runter und hob den Koffer auf. Während er ihn abwischte, kam ihm plötzlich eine Idee. Er sah auf. »Es tut mir furchtbar leid, ich hätte mich wohl besser erklären sollen. Ich bin gebeten worden, König Orsino zu porträtieren.« Er öffnete den Koffer und zeigte ihnen die Farben, Terpentinfläschchen und Pinsel, die fein säuberlich in Fächern auf der einen Seite steckten, und die beiden weißen, bereits auf Rahmen gespannten Leinwände auf der anderen Seite. Insgeheim hoffte er, dass sie nicht genauer hinsahen, denn sonst würden sie seine Zeichnungen des Minotaurus entdecken, die unter den Leinwänden versteckt waren.

Doch seine Sorge war unbegründet – sie würdigten den Koffer keines Blickes. »Wir wissen nichts von einem Porträt«, erwiderte der Wächter, der Lysander mit dem Speer gepikt hatte. Schnell klappte Lysander den Koffer zu und wich zurück, für den Fall, dass der Wächter vorhatte, es noch mal zu tun.

»Ohne Anordnung von oben darf niemand zum König«, ergänzte der andere.

Bei diesen Worten kam Lysander eine weitere Idee. Anordnung von oben. Es gab nur wenige Zentauren, die die nötige Autorität besaßen.

Glücklicherweise war Lysander mit einem von ihnen verwandt.

Das ist eine ganz schlechte Idee, warnte Alexos in Lysanders Vorstellung. Was, wenn er es herausfindet?

Wenn es funktioniert, war es das wert, erwiderte Lysander. Oder fällt dir etwas Besseres ein?

Der Alexos in seinem Kopf blieb stumm.

Also richtete sich Lysander zu seiner vollen Größe auf und verkündete: »Ich bin Lysander Diomedes, Sohn von Lord Diomedes. Es war seine Idee, dass ich ein Porträt des Königs anfertigen soll. Wenn Ihr so freundlich wärt, mir Eure Namen zu nennen, dann kehre ich gerne wieder um. Mein Vater wird bestimmt wissen wollen, wer die Wächter sind, die sich seinem Wunsch in den Weg stellen.«

Er sah die beiden erwartungsvoll an, wobei er sich zwang, ihnen direkt in die Augen zu blicken, wie es sein Vater immer tat, wenn er Lysander etwas gefragt hatte.

Der Wächter mit dem Speer stellte sich aufrecht hin. »Ich bitte vielmals um Verzeihung, junger Lord Diomedes. Wir hätten Euch gleich erkennen müssen.«

Der andere hielt ihm die Tür auf. »Bitte hier entlang, der Herr.«

Erhobenen Hauptes trat Lysander in den Schatten der Eingangshalle. Dort wurde er an einen weiteren Wächter verwiesen, dessen Uniform zusätzlich zu dem goldenen Helm über eine rote Schärpe verfügte, was bedeutete, dass er zur Leibgarde des Königs gehören musste.

Auch dieser Wächter gab sich ausgesprochen dienstbeflissen, sobald er hörte, dass Lysander Lord Diomedes’ Sohn war, und führte ihn umgehend in den Palast. »Ich habe Euren Vater immer bewundert«, sagte er. »Wir können uns glücklich schätzen, ihn zu haben.« Obwohl die Flure kühl und die Böden mit weichem Gras bewachsen waren und der Wächter ihn darüber hinaus durch zwei offene, luftige Gärten führte, schwitzte Lysander genauso stark wie bei seinem Gang durch die Stadt.

Der Leibgardist ging voran und führte ihn eine mit Gras bewachsene Rampe hinauf, die zu beiden Seiten von Blumen in verschiedenen Rot- und Rosatönen gesäumt wurde, dann folgten weitere Gärten und weitere Rampen, bis sie schließlich das oberste Stockwerk erreichten. Zu guter Letzt kamen sie an eine breite, zweiflügelige Tür aus dunklem Kirschholz. In das Holz war ein Bild von der Gründung Corlandias geschnitzt worden. Der Detailreichtum war atemberaubend. Lysander hätte Stunden damit verbringen können, die Schnitzerei zu betrachten.

»Lord Diomedes’ Sohn«, sagte der Leibgardist zu zwei weiteren Wachen, die vor der Tür standen. »Er ist hier, um ein Porträt Seiner Majestät anzufertigen.« Die beiden reckten das Kinn und musterten Lysander voller Respekt. Er nickte ihnen zu und schloss seine schweißfeuchten Finger noch etwas fester um den Griff des Koffers. Sein Herz hämmerte von innen gegen seinen Brustkorb. Jeden Augenblick würde er dem König gegenüberstehen.

Die beiden Wachen öffneten die Türflügel und bedeuteten Lysander einzutreten. Er schritt hindurch und sah sich mit einer Mischung aus Staunen und Verwirrung um.

Die Fensterläden waren geschlossen, sodass nur wenig Licht hereinfiel. Es war gerade hell genug, dass Lysander die Umrisse der Möbel erkennen konnte, die zwar altmodisch, aber von allerfeinster Qualität waren. Zwei große, mit filigranen Schnitzereien verzierte Schränke nahmen eine der Wände vollständig ein und vor dem Fenster stand ein ausladender runder Tisch. Ein weiteres hohes, schmales Möbelstück war unter einem Tuch verborgen, als sei es schon lange nicht mehr benutzt worden. Eine Standuhr?, überlegte Lysander. Oder eine Vitrine? Bei genauerer Betrachtung stellte er fest, dass die Fenster keine Fenster waren, sondern faltbare Türen, die sich nach außen öffnen ließen. Was im Grunde auch praktisch war – dieser Raum lag auf der Rückseite des Palastes, mit Blick auf den Ozean. Wenn die Türen offen waren, würde sich das Zimmer in eine luftige, sonnendurchflutete Dachterrasse verwandeln. Warum waren sie dann alle geschlossen?

Und wo war König Orsino?

Ein beißender Geruch hing in der Luft, der Lysander an den Essig erinnerte, mit dem die Bediensteten zu Hause die Fenster in der Eingangshalle putzten.

Ein unheilvolles Gefühl stieg plötzlich in ihm auf und sandte ein Kribbeln durch Lysanders Rückgrat und über seine Flanken. »Äh, Verzeihung.« Er wandte sich zu den Wachen um. »Ich dachte, der König wäre hier?«

Einer der Wächter lachte. »Aber das ist er doch. Zieh das Laken beiseite, dann siehst du ihn.«

Es dauerte eine Weile, bis Lysander das volle Ausmaß dieser Worte begriff. Schließlich trat er langsam auf das große, mit einem Tuch bedeckte Möbelstück zu. Es hatte eine seltsame Form – nicht glatt und eckig, wie man es von einem normalen Möbelstück erwarten würde, sondern voller kleiner und großer Rundungen. Der beißende Geruch war hier noch stärker.

Mit zittrigen Fingern griff Lysander nach dem Laken. Er hielt die Luft an, um sich gegen den Gestank zu wappnen, und zog das Tuch beiseite.

Er blickte in König Orsinos graue, leblose Augen.

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