Читать книгу Clans von Cavallon (4). Das Vermächtnis der Zentauren - Kim Forester - Страница 11
Kapitel 2
ОглавлениеLysander starrte die Chronik in seiner Hand an. DIE WAHRHAFTIGE WAHRHEIT schrie ihm die Überschrift in fetten Lettern entgegen. Darunter füllten mehrere detaillierte Zeichnungen die Seite, auf denen die vielfältigen Betrügereien und Täuschungen abgebildet waren. Kurze Bildunterschriften erklärten die jeweilige Szene. Eine davon zeigte die Höhle in den Bergen, wo Lysander beobachtet hatte, wie sein eigener Vater, Cassio Diomedes, einen Menschenjungen namens Sam an einen furchterregenden Minotaurus übergab. Auf einem anderen Bild war der Leichnam König Orsinos zu sehen, den der Rat wochenlang einbalsamiert und vor der Öffentlichkeit verborgen hatte, um den Anschein zu erwecken, dass der König noch lebte. Das letzte Bild stellte dar, wie der frisch gekrönte König Cassio einen Krieg gegen die Kelpies anzettelte, der einzig und allein dazu diente, seine eigene Macht zu erhalten.
Und unter alldem stand Lysanders Name, gleich neben dem seines besten Freundes Alexos Archimedos. Obwohl unzählige menschliche Schreiber die Chronik vervielfältigt und in der ganzen Stadt verteilt hatten, waren es immer noch Lysanders Zeichnungen und Alexos’ Worte.
Weiß Alexos hiervon?, fragte sich Lysander. Als er Coropolis verlassen hatte, um gezwungenermaßen an der Seite seines Vaters in die Schlacht gegen die Festungsinsel zu ziehen, hatte sein bester Freund im Gefängnis gesessen. Doch nun war Lysander zurück und in der Stadt regierte das Chaos.
Vorsichtig steckte er den Kopf aus der Gasse, in der er Zuflucht gesucht hatte. Auf der Corlandia-Plaza hatte die tobende Menge die Statue von König Cassio inzwischen von ihrem Sockel gestürzt und stimmte einen lärmenden Schmähgesang an. In dem Lied ging es um den Preis, den Cassio für seine Lügen zahlen sollte, und obwohl Lysander wusste, dass ihre Worte der Wahrheit entsprachen und ihr glühender Zorn mehr als berechtigt war, versetzte es ihm jedes Mal einen Stich, wenn der Name seines Vaters fiel. Die Zentauren in der Menge hatten keine Ahnung, dass König Cassios Leichnam irgendwo am Grund der Kalten See lag und dass sein eigener Sohn daran schuld war. Sicher, am Ende waren es Cassios Stolz und Starrsinn gewesen, die ihn daran gehindert hatten, sich in Sicherheit zu bringen, als es noch ging. Doch Lysander war derjenige, der Cassios gesamte Flotte mithilfe eines Zauberspruchs versenkt hatte.
Lysander sehnte sich nach seinen Stiften – die Geschehnisse aufzuzeichnen, konnte ihm vielleicht dabei helfen, Ordnung in das Durcheinander aus Freude, Angst, Stolz und Trauer zu bringen, das die Szenen in den Straßen in ihm auslösten. Das waren wir, Alexos und ich, mit unserer Chronik, schoss ihm wieder und wieder durch den Kopf. Trotzdem fiel es ihm schwer, es zu glauben.
Außerdem waren jetzt zwar die Lügen des Rates aufgedeckt, doch weder der Rat noch die tobenden Massen wussten, in welcher Gefahr sie in Wahrheit schwebten. Lysander musste den Rat der Zentauren vor Dromego und seiner widernatürlichen Armee warnen, egal ob sie ihm glauben würden oder nicht.
Aber vorher muss ich Alexos aus dem Gefängnis holen. Er weiß am besten, wie es jetzt weitergehen sollte.
Wie als Reaktion auf seine Gedanken hörte Lysander plötzlich, wie jemand auf der anderen Seite Alexos’ Namen rief. Er fuhr erschrocken hoch. Hinter der Menge, die triumphierend die Überreste von König Cassios Statue in die Luft warf, marschierte eine Gruppe von Zentauren vorbei, deren schwarze Westen sie als Studenten der Hochschule für Philosophie kennzeichneten. Sie wedelten mit Papieren und riefen – oder sangen? – im Chor. Unter ihnen konnte Lysander auch ein paar Dozenten ausmachen: den alten Professor Beroth mit seinem herabhängenden Schnauzbart und Professorin Polamia, deren schlanke, hochgewachsene Gestalt mit dem unverkennbaren schwarzen Lockenschopf alle anderen deutlich überragte.
Lysander drängte sich durch die Menge und schaffte es, die Marschierenden einzuholen, als sie gerade auf die breite Prachtstraße in Richtung Palast abbogen. Jetzt konnte er endlich auch die Worte ihres Sprechgesangs verstehen:
Wer öffnete der Wahrheit Tür und Tor?
Lysander Diomedes! Alexos Archimedos!
Wer hielt den Lügnern den Spiegel vor?
Lysander Diomedes! Alexos Archimedos!
Während sie ihren Weg durch die Straßen fortsetzten, schlossen sich ihnen mehr und mehr Zentauren an. Von Kaufleuten in ihren seidigen Westen bis zu Arbeitern in schmutzigen Tuniken war alles dabei. Doch niemand von ihnen schien zu bemerken, dass sich einer der Chronisten, deren Loblied sie sangen, mitten unter ihnen befand.
Als sie sich dem Palast näherten, trafen sie auf eine Schar menschlicher Schreiber. Eine Weile mischten sich ihre Rufe mit denen der Menschen, die zwischen ihnen umhereilten und noch mehr Ausgaben der Wahrhaftigen Wahrheit verteilten.
Nach und nach wichen die Sprechgesänge kürzeren, einfacheren Parolen, die wie Wellen durch das Meer aus an- und abschwellenden Stimmen schwappten: Wir wollen die Wahrheit! Raus mit der Wahrheit! Nieder mit König Cassio! Es lebe die Wahrheit!
Lysander ließ den Blick durch die Menge schweifen. Auf einer Holzkiste vor den Palasttoren erspähte er einen Zentauren mit aschblondem Haar, der den Chor der Demonstranten zu dirigieren schien. Lysanders Herz schlug höher – Alexos war nicht mehr im Gefängnis! Er war hier, direkt vor ihm!
Ohne sich darum zu scheren, wie viele Zentauren er dabei anrempelte, bahnte Lysander sich einen Weg nach vorne. »Alexos!«, brüllte er. »Hier drüben!«
Als Alexos ihn sah, ließ er den Stapel Chroniken, den er in Händen hielt, fallen, sprang von der Kiste und umarmte ihn stürmisch. »Du lebst! Es hieß, du seist vor der Festungsinsel über Bord gegangen und ertrunken!«
»Und du sitzt nicht mehr im Gefängnis!«, rief Lysander und klopfte seinem Freund überschwänglich auf den Rücken.
»Lange Geschichte«, erwiderte Alexos grinsend. Er zog Lysander hinter sich her zum Rand der Menge, wo sie sich unterhalten konnten, ohne dass ihnen ständig jemand ins Ohr schrie.
Eine dunkelhäutige Frau, die ihre Haare zu einem ordentlichen Kranz geflochten hatte, erklomm die Kiste, die Alexos verlassen hatte. Lysander erkannte Oona wieder, eine der Schreiberinnen von den Fäusten der Freiheit. Bei ihrer ersten Begegnung in der Unterkunft der Schreibkräfte hatte sie auf ihn kühl und reserviert gewirkt, doch nun reckte sie eine Faust in die Luft und brüllte: »Wir verlangen die Wahrheit!« Es sagte viel darüber aus, wie aufgeheizt die Stimmung in der Menge war, dass die Zentauren ihr ebenso bereitwillig folgten wie zuvor Alexos.
»Wie kommt es, dass du die Schlacht um die Festungsinsel überlebt hast?«, erkundigte sich Alexos. »Es hieß, unsere Kriegsflotte sei fast vollständig zerstört worden! Und wo ist König Cassio jetzt?«
Lysander schluckte schwer und blinzelte mehrmals, um das entsetzliche Bild loszuwerden, das vor seinem inneren Auge erschien: der Kopf seines Vaters, der langsam in den Wellen versank. Das war ich. Ich habe den Zauber angewandt, durch den sein Schiff auseinandergebrochen ist. Es gelang ihm kaum, seine brennenden Schuldgefühle zu verbergen, als er Alexos schilderte, was geschehen war.
»Ich weiß, ich müsste eigentlich froh sein, dass er tot ist«, gestand er. »Er war einfach nur schrecklich, in jeder Hinsicht. Aber das kann ich nicht – ich meine, er war trotz allem mein Vater.«
Alexos legte ihm tröstend die Hand auf die Schulter. »Er hat diese Entscheidungen getroffen, Lysander, nicht du. Du hast getan, was nötig war. Es ist nicht deine Schuld, dass Cassio tot ist.«
Lysander lächelte zaghaft. Wie immer schaffte es Alexos, genau die richtigen Worte zu finden.
Doch dann ertönte hinter ihm eine Stimme und riss ihn jäh aus seinen Gedanken. Für einen Moment hatte er ganz vergessen, dass sie von einer riesigen Schar aus Zentauren und Menschen umgeben waren. »Cassio ist tot? Doch nicht etwa König Cassio?«
Ein grauhaariger Zentaur mit verkniffenem Gesicht und einer eleganten Seidenweste packte Alexos am Arm. »Ist das wahr? Der König ist tot?«
Bevor Lysander oder Alexos etwas erwidern konnten, breitete sich die Nachricht bereits wie ein Lauffeuer aus.
»Der König ist tot!«
»Habt ihr schon gehört? König Cassio …«
»Der da drüben! Der die Chronik geschrieben hat! Er hat das gesagt!«
»Der König ist was?! Wer hat denn dann jetzt das Sagen?«
»Der Rat!«, rief ein breitschultriger Zentaur in einer schmutzigen Schürze. »Jetzt versuchen sie schon wieder, den Tod des Königs zu vertuschen!«
»Es gibt nur einen Weg, das rauszufinden!«, schrie Oona in die Menge. »Der Rat ist dadrin!« Sie zeigte auf den Palast.
Das war der entscheidende Funke. Oona konnte in letzter Sekunde beiseitespringen, bevor eine Gruppe Philosophiestudenten unter ohrenbetäubendem Gebrüll auf die Tore losstürmte. Irgendwo hatten sie Äxte und Holzscheite aufgetrieben, mit denen sie die verschnörkelten Schmetterlinge und Schreibfedern von den goldenen Gittern schlugen.
Sprachlos sahen Lysander und Alexos dem wütenden Treiben zu, das sie verursacht hatten. Viele der Studenten, die in ihrem ganzen Leben noch keine körperliche Arbeit verrichtet hatten, trugen Schnittwunden und Splitter davon, doch sie schienen es nicht zu bemerken, nicht einmal, als sich die ersten scharfkantigen Metallteile lösten und in hohem Bogen in die Menge flogen. Auf jeden scheppernden Schlag folgte ein freudiges Johlen. Unterdessen schnappten sich vier der Studenten den Karren eines Obstverkäufers und verwandelten ihn in einen Rammbock. Im Nu waren zwei Gitterstäbe zerschrammt und verbogen.
»Was geht hier vor?«, schallte ihnen eine Stimme von der anderen Seite der Tore entgegen. Lysander reckte den Kopf. Rätin Hillira hatte sich mit strenger, Ehrfurcht gebietender Miene vor den Demonstranten aufgebaut und hielt sich ein Sprachrohr vor den Mund. Um sie herum standen mindestens ein Dutzend Wachen. Sie trug den gleichen langen blauen Mantel wie damals, als sie König Orsinos Leichnam mit einer Vielzahl von Ölen und Chemikalien hergerichtet hatte, damit der Rat seinen Tod noch länger geheim halten konnte. Die Stickerei auf der Weste darunter war allerdings um einiges filigraner, als sie es sich als gewöhnliche Professorin für Medizin hätte leisten können. Lysander wurde schlecht. Würde Hillira in ihrem Wahn versuchen, ihrerseits die Macht zu ergreifen, nun, da sein Vater tot war?
»Räumt die Straße, und zwar sofort!«, befahl Hillira. Ihr harscher Tonfall bewirkte, dass die Studenten in den ersten Reihen tatsächlich für einen Augenblick verstummten. Doch dann zerknüllte ein rothaariger Schreiber eine der Chroniken und warf sie zwischen den Gitterstäben hindurch. »Wir verlangen Antworten! Nieder mit den Lügen des Rats!«, schrie er.
Umgehend griff die Menge seine Forderungen auf und drängte vorwärts. Einige Studenten spuckten sogar durch die Gitterstäbe, sodass Hillira hastig einige Schritte zurückweichen musste. Einer der Wachleute hob die zerknüllte Chronik auf und zeigte sie Rätin Hillira. Sie betrachtete sie einen Moment lang. Als sie aufsah, hatte sich ihr Mund zu einem dünnen, bedrohlichen Strich verzogen.
»Genug!«, schrie sie. Durch das Sprachrohr übertönte sie die Gesänge der Demonstranten mühelos. Ihre Stimme klang ohrenbetäubend schrill. »Wachen! Sorgt auf der Stelle für Ordnung! Ich will, dass alle wissen, dass jeder, der diese heimtückischen Unwahrheiten verbreitet« – sie schüttelte die Chronik in ihrer Hand – »fortan als Feind Corlandias gilt. Und findet die Verräter, die das hier geschrieben haben! Sofort!«
Der Anführer der Palastwache, ein riesiger Zentaur mit rötlich grauem Fell, brüllte ein paar knappe Befehle. Im Nu ergoss sich ein Strom aus Wachleuten aus dem Haupttor und mehreren Seitentoren. Sie stießen die Demonstranten mit ihren Speeren zurück und legten jeden in Fesseln, der es wagte, sich ihnen zu widersetzen.
Eilig zog Lysander Alexos aus dem Weg, als die Massen im Galopp auf sie zurasten. Einige der Studenten ganz vorne am Tor kämpften gegen die Wachen. Lysander japste unwillkürlich auf, als einer der Wachleute einer jungen Zentaurin im Vorbeigaloppieren den Mund blutig schlug. Sie taumelte und stürzte zu Boden.
»Komm schon, wir müssen uns verstecken!«, schrie Alexos. »Sie dürfen uns auf keinen Fall finden!«
Lysander folgte ihm an den Überresten des Obstkarrens vorbei. Seine Hufe rutschten über zertretene Pfirsiche und Erdbeeren, während Alexos und er sich einen Weg durch die fliehende Menge bahnten. Hinter ihnen wurde Hufgetrappel laut – noch mehr Wachen!
Alexos packte Lysander am Arm und zog ihn mit einem Ruck nach links. Mit letzter Kraft stolperten sie in eine schmale Seitenstraße, unmittelbar bevor die Wachen an ihnen vorbeipreschten. Die Hände in die Seiten gestemmt, rangen sie keuchend nach Luft.
»Na, sieh mal einer an – wen haben wir denn da?«, höhnte eine Stimme.
Entsetzt wich Lysander zurück. Sechs Zentauren traten aus den Schatten. Sie trugen weiße Uniformen mit blutroten Schärpen: das Kennzeichen der Palastwachen.