Читать книгу Clans von Cavallon (4). Das Vermächtnis der Zentauren - Kim Forester - Страница 16

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Kapitel 5

Aquilla war ihr ganzes Leben nie lange an einem Ort geblieben. Die letzte Pegasusherde von Cavallon war für gewöhnlich alle ein bis zwei Monde weitergezogen. Dabei war die Angst ihr ständiger Antrieb und Begleiter gewesen – Angst, dass die Menschen in den Bergdörfern sie entdecken könnten; Angst, dass die Einhörner, Zentauren und Kelpies zurückkehren würden, um zu Ende zu bringen, was sie im Krieg von Cavallon begonnen hatten: die vollständige Vernichtung der Pegasus.

Das jedenfalls behaupteten die Sagas, die sich die Pegasus so gerne erzählten, wenn sie hoch über den Berggipfeln durch die Lüfte glitten und Ausschau nach einem neuen Lagerplatz hielten. Doch nun fragte sich Aquilla, wie viel in diesen Sagas überhaupt der Wahrheit entsprach. Waren sie komplett erlogen oder ließen sie bloß wichtige Details aus? Wie zum Beispiel den riesigen unterirdischen See, den die Pegasus für sich behalten hatten, während eine entsetzliche Dürre im Rest von Cavallon Hunderttausende dahingerafft hatte. Oder dass Rostro und seine Mitverschwörer unschuldige Flüchtlinge getötet hatten, um ihr Geheimnis zu schützen.

Fast fühlte es sich an wie früher, als sie nun mit ihrer kleinen Herde durchs Gebirge flog, nur dass sie diesmal nicht nach einem neuen Rastplatz suchten, sondern nach Rostro und den anderen.

Und niemand rezitierte Sagas. Die anderen schienen wie Aquilla die Freude daran verloren zu haben. Eine Weile hatte Zadia versucht, sie dazu zu bringen, »Mauern der Heimat« und andere Lieder zu singen, die sie von den Menschen in Kalden gelernt hatten, doch in der dünnen Höhenluft fehlte ihnen der Atem dafür. Pegasus waren einfach nicht zum Singen geschaf‌fen. Einer nach dem anderen verstummte, bis nur noch Zadias dünnes Stimmchen durch die Wolken schallte wie der klägliche Ruf eines einsamen Sperlings.

Aquilla blickte sich nach den anderen um und sah die Erschöpfung in ihren Gesichtern. Sie hatten den gesamten Tag über frühere Lager angeflogen, in der Hoffnung, irgendwo frisch gegrabene Schlafkuhlen, ausgefallene Federn oder, besser noch, die Herde selbst zu finden. Inzwischen färbte die untergehende Sonne den Himmel um sie herum rosa und von Rostro und den anderen fehlte immer noch jede Spur.

»Wir machen weiter, bis es dunkel wird, dann rasten wir!«, rief sie.

Je weiter sie ins Gebirge vordrangen, desto dünner wurde die Luft. Schließlich erspähte Aquilla einen Gipfel, der spitz und scharfkantig aus den Wolken aufragte. Er sah aus, als entstammte er der Saga von Evelin Copperwing und dem großen Schneesturm. Kein Pegasus, der noch halbwegs bei Verstand war, würde sich freiwillig dort niederlassen.

Es sei denn, er wollte sich verstecken.

»Wir fliegen zu dem Gipfel da!«, rief sie und beschleunigte. Die anderen rasten hinter ihr her, doch kaum dass sie in die Wolken gerieten, wurden sie abrupt langsamer. Eisige Luft drang in Aquillas Lunge, brannte in ihrer Kehle und verschlug ihr den Atem. Auf ihren Federn bildeten sich kleine Eiskristalle. Es kostete sie eine gewaltige Kraftanstrengung, ihre Flügel in Bewegung zu halten. Durch den dichten Nebel konnte sie hören, wie Baros Zadia zum Durchhalten anfeuerte.

Gerade als Aquilla glaubte, nicht einen Flügelschlag mehr tun zu können, brach sie durch die Wolkendecke. Wäre sie nicht völlig außer Atem gewesen, hätte sie vor Freude laut gewiehert. Dort unten, auf dem kahlen Berghang, waren Rostro und der Rest seiner Herde.

Sie kauerten dicht zusammengedrängt am Boden, um sich gegenseitig zu wärmen. Ihre silbernen, goldenen, grauen und weißen Federn glitzerten im Schnee. Aquilla war zu weit weg, um zu erkennen, wer von ihnen den Warnruf ausstieß, doch sie sah, wie alle gleichzeitig aufsprangen.

Mit klopfendem Herzen kreiste sie über dem verschneiten Berghang und landete ihnen gegenüber. Der Rest ihrer kleinen Herde versammelte sich hinter ihr.

Rostro trat auf sie zu. Seine Hufe knirschten im vereisten Schnee. »Was wollt ihr? Ihr seid nicht länger Teil dieser Herde.«

Hinter ihm traten die anderen beklommen von einem Bein aufs andere. Ihre Ohren zuckten und ihre Mäuler wirkten angespannt und verkniffen.

Es brach Aquilla das Herz, als sie das Misstrauen und die Ablehnung in den Gesichtern ihrer Herde – ihrer Familie! – sah. Doch sie ließ sich nichts anmerken. »Wir bringen schreckliche Nachrichten«, sagte sie. »Cavallon wird von einer riesigen Armee angegriffen. Und zwar ganz Cavallon. Während ich hier mit euch rede, werden die Einhornclans einer nach dem anderen ausgelöscht.« Hinter Rostro erhob sich ein entsetztes Raunen. Odelia schloss bestürzt die Augen. Aquilla wich Rostros unbarmherzigem Blick aus und wandte sich an die anderen. »Die Einhörner hatten nicht die geringste Chance. Stellt euch nur vor, was das für den Rest von Cavallon bedeutet. So viele unschuldige …«

»Was hat das mit uns zu tun?«, blaffte Rostro.

Aquilla holte tief Luft. »Wir sind gekommen, um euch zu bitten, bei der Verteidigung Cavallons zu helfen. Ich weiß, dass es in dieser Herde viele gutherzige Pegasus gibt, die es nicht ertragen können, andere leiden zu sehen. Und«, sie hob den Kopf und blickte Rostro direkt in die Augen, »so können wir vielleicht wiedergutmachen, was die Pegasus Greta, Farienne und ihren menschlichen Schützlingen angetan haben.«

Rostro bäumte sich auf, als hätte sie ihn körperlich attackiert. »Die Herde«, erwiderte er mit einer Stimme, die so kalt war wie die Eiskristalle, die immer noch an Aquillas Flügeln hafteten, »wird sich nicht in die Angelegenheiten Cavallons einmischen.« Er drehte sich um und wandte sich an seine Herde. »Wann immer wir helfen wollten, hat uns das nichts als Ärger gebracht. Fetos ist ihretwegen gestorben.«

Aquilla schnappte erschrocken nach Luft. »Was?«

Odelia antwortete mit belegter Stimme. »Er ist seinen Verletzungen erlegen, die er bei den Auseinandersetzungen in Kalden davongetragen hat.«

»Mögen die Sterne ihm den Weg weisen«, murmelte der Rest der Herde.

Aquilla und ihre Gruppe wiederholten die traditionellen Worte und verbeugten sich tief, was ihnen einen finsteren Blick von Rostro einbrachte.

Aquillas Gedanken rasten. Fetos, der knurrige, aber liebenswerte Pegasushengst, der Aquillas ganzes Leben lang Zweiter der Herde gewesen war, war tot. Sicher, er war schon alt gewesen, doch nicht so alt, dass er nicht noch viele Jahre durch die Lüfte hätte fliegen können. Ihr Herz fühlte sich an, als habe ihm jemand die Flügel zusammengebunden.

»Jetzt verschwindet, bevor euretwegen noch mehr aus meiner Herde ihr Leben lassen!«, grollte Rostro.

Der Vorwurf schmerzte, aber gleichzeitig spürte Aquilla, wie sich etwas in ihr verhärtete. »Nein«, widersprach sie entschlossen. »Genau das wollen Dromego und seine Armee bezwecken. Sie versuchen, uns gegeneinander auszuspielen, damit wir nicht mit vereinten Kräften gegen sie kämpfen. Wenn … wenn ihr euch dieser Schlacht verweigert, ist Fetos völlig umsonst gestorben.«

Einige aus Rostros Herde wirkten sichtlich getroffen. Ein paar steckten die Köpfe zusammen und unterhielten sich leise. Odelia musterte Aquilla nachdenklich.

Rostro ließ den Blick über seine Herde schweifen und nahm ihre Reaktionen in sich auf. »Nun gut«, sagte er schließlich. »Dann stimmen wir eben darüber ab. Wie sich das für eine richtige Pegasusherde gehört.«

Aquilla war so erleichtert, dass sie seinen Seitenhieb ignorierte. Trotzdem wusste sie, dass sie noch lange nicht gewonnen hatten. In ihren dreizehn Jahren hatte sie noch nie erlebt, dass eine Abstimmung nicht einstimmig ausgegangen war. Was würde nun geschehen?

Natürlich sprach sich Rostro dagegen aus, sich dem Kampf gegen Dromego anzuschließen. Odelia und die übrigen Ältesten folgten seinem Beispiel. Während ein Pegasus nach dem anderen zu Rostro hinüberschielte und dann ebenfalls mit Nein stimmte, begriff Aquilla, dass alle Entscheidungen nur deswegen jedes Mal einstimmig getroffen wurden, weil das Votum des Ersten alle anderen beeinflusste. Wir haben keine Chance.

Sie ließ den Kopf hängen, als Windall, die Dreiundsechzigste der Herde, verkündete: »Ich stimme für Nein. Sprich, Delta, Vierundsechzigste der Herde, und teile uns deine Entscheidung mit.«

»Ich stimme für Ja«, meldete sich eine verschüchterte Stimme zu Wort.

Aquilla hob den Kopf. Delta, eine sanftmütige Pegasusstute, deren rötlich braunes Fell an ein Flussufer bei Sonnenaufgang erinnerte, hielt den Blick fest auf ihre Hufe gerichtet, während sie den Nächsten in der Reihe aufrief.

Deltas Rebellion war so still vonstattengegangen, dass die meisten Pegasus es anfangs gar nicht zu bemerken schienen. Doch Rostros Flügel bebten und Odelia zuckte beunruhigt mit den Ohren. Aquilla und Aquoro wechselten einen hoffnungsvollen Blick. Vielleicht sind wir wenigstens zu ein paar von ihnen durchgedrungen.

Offenbar ließen sich einige jüngere Pegasus von Delta inspirieren: Nickos, der Fünfundsiebzigste der Herde, ließ ein beiläufiges Ja fallen und versuchte dann, sich hinter zwei größeren Pegasus zu verstecken, und Sica, die Jüngste aus Rostros Herde, verkündete lautstark: »Ja!«, und stampfte dazu energisch mit dem Huf auf.

Von diesem winzigen Teilerfolg beschwingt rief Aquilla ihre eigene kleine Herde umgehend ebenfalls zur Abstimmung auf, ohne sich um Rostros finstere Miene zu scheren. Im Nu waren sie einstimmig zu dem Entschluss gekommen, gegen Dromegos Armee in den Kampf zu ziehen. Als Aquilla sich umsah, bemerkte sie, dass einige aus Rostros Herde sich auf einmal nicht mehr ganz sicher zu sein schienen, ob sie mit ihrem Nein wirklich die richtige Entscheidung getroffen hatten.

Doch Rostro schnaubte bloß. »Die Herde hat gegen einen Kampf gestimmt. Damit ist alles gesagt.«

Aquilla durchbohrte ihn mit ihrem Blick. »Nein, ist es nicht. Die Entscheidung war nicht einstimmig.«

Rostro musterte sie verächtlich. »Ach, jetzt legst du plötzlich wieder Wert auf Tradition, ja? Ein aufsässiges kleines Fohlen, das es wagt, sich als Erste der Herde aufzuspielen?«

Aquilla spürte heiße Scham in sich aufsteigen. Sie bemühte sich, äußerlich gefasst zu bleiben, während sie entgegnete: »Manchmal schaden wir uns selbst, wenn wir um jeden Preis an althergebrachten Denkweisen festhalten.«

Rostro verzog abfällig das Maul. »Meine Herde hat abgestimmt. Du und deine Rebellen könnt machen, was ihr wollt. Doch wir werden Cavallon morgen bei Sonnenaufgang verlassen. Wir treten den weiten Flug über das Meer an und suchen uns neues Land, wo wir in Ruhe leben können. Fernab von diesem durch und durch verdorbenen Ort.« Er warf Delta, Nickos und Sica einen angewiderten Blick zu und sagte: »Wer diese Herde nicht unterstützt, ist nicht länger willkommen.«

Delta und Nickos wirkten sichtlich betreten. Sica dagegen trabte, ohne zu zögern, auf Aquillas Gruppe zu.

»Wir fühlen uns geehrt, euch in unsere Herde aufnehmen zu dürfen«, sagte Aquilla zu ihnen.

Delta sprach leise auf die beiden Pegasus neben ihr ein, doch sie wandten sich von ihr ab. Mit hängenden Köpfen gingen Nickos und sie zu Aquillas Gruppe hinüber.

Der Rest von Rostros Herde sah dem Geschehen wortlos zu. Manche wirkten geschockt, andere verunsichert, wieder andere wippten nervös mit den Vorderbeinen oder Flügeln.

»Bitte«, drängte Aquilla, während sie einen nach dem anderen anblickte. »Bitte überlegt es euch noch mal. Cavallon braucht unsere Hilfe.«

Rostro drehte ihr die Rückseite zu. Nach und nach folgte der Rest der Herde seinem Beispiel.

Aquilla unterdrückte ein Schluchzen und wandte sich ihrer eigenen Herde zu. »Verschwinden wir«, sagte sie.

Alle dreizehn erhoben sich in die Lüfte. Vielleicht hätte das ein kleiner Trost sein können – immerhin hatten sie drei Mitstreiter dazugewonnen.

Aber was kann so ein kleines Häuf‌lein schon ausrichten?

Letzten Endes spielte das keine Rolle. Aquilla war trotzdem wild entschlossen, es wenigstens zu versuchen.

Clans von Cavallon (4). Das Vermächtnis der Zentauren

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