Читать книгу Clans von Cavallon (4). Das Vermächtnis der Zentauren - Kim Forester - Страница 15

Kapitel 4

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Sam Quicksilvers Rückweg aus der Wüste Kazar stand in keinem Vergleich zu der gehetzten Jagd, die ihn dorthin geführt hatte. Er drehte sich um und warf einen Blick auf die massigen Gestalten der Minotauren, die mit ihnen Richtung Norden zum Hof seiner Schwester zogen. Obwohl sie riesig und deutlich in der Überzahl waren, fiel es ihm schwer zu glauben, dass Tordred, Lara und er noch vor wenigen Tagen voller Todesangst vor ihnen geflohen waren.

Und du bist dir wirklich sicher, dass das Band mit Oryx nicht mehr besteht?, erkundigte sich Tordred in seinem Kopf zum gefühlt millionsten Mal. Sam saß auf Tordreds Rücken, wodurch er den Gesichtsausdruck des schwarzen Einhorns nicht sehen konnte, doch das war auch nicht nötig. Selbst in der Zeit, als er mit dem Minotaurus verbunden gewesen war, hatte Sam stets gespürt, welche Sorgen sich Tordred um ihn machte.

Ja, beteuerte Sam und tätschelte ihm beruhigend den Hals. Die einzige Stimme in meinem Kopf gehört einem leicht nervigen Einhorn.

Tordred schnaubte mit gespielter Empörung, aber Sam spürte seine Erleichterung. Sie stand seiner eigenen in nichts nach.

Inzwischen hatten sie die Ausläufer der Schwarzhornwälder erreicht. Ihre gelöste Stimmung wich einer angespannten Stille. Oryx raunte den anderen Minotauren etwas auf Asteri zu, worauf‌hin sie sich hinter Tordred zurückfallen ließen. Das hier war Einhornterritorium, also war es nur logisch, dass er die Führung übernahm.

Wir halten uns an den äußersten westlichen Rand des Waldes, sagte Tordred zu Sam. Es gefällt mir nicht, dass wir so viele Minotaurenspuren hinterlassen, aber dagegen können wir wohl nichts tun.

Die Einhornclans wissen nicht, dass es noch Minotauren in Cavallon gibt, wandte Sam ein. Kann gut sein, dass sie die Spuren gar nicht erkennen, falls sie sie überhaupt entdecken.

»Ihr redet schon wieder im Kopf miteinander«, meldete sich Lara in Sams Rücken zu Wort. »Hört auf damit, das ist total gruselig.«

Sam grinste. »Entschuldige. Wir haben nur beschlossen, dass wir uns an den westlichen Rand des Waldes halten werden.«

»Schlimm genug, dass ich nicht verstehe, was die sagen«, murmelte Lara. Sie drehte sich nach hinten und warf den Minotauren einen finsteren Blick zu, die sich leise in ihrer rauen, kehligen Sprache unterhielten. »Sie haben uns schon mal gefangen genommen. Wer sagt, dass sie das nicht wieder tun? Ich traue ihnen nicht über den Weg.«

»Ich auch nicht«, erwiderte Tordred düster.

»Oryx tut uns nichts«, entgegnete Sam entschlossen. »Sonst hätte er uns doch gar nicht erst davor retten müssen, als Minotaurenfutter zu enden. Was die anderen angeht … bin ich mir auch nicht ganz sicher.«

Sie alle, auch die Minotauren, verstummten, als sie den Wald betraten. Die einzigen Geräusche waren das Rascheln des Laubs und das dumpfe Trappeln ihrer Hufe auf dem weichen Boden. Sams Blick schoss zwischen den Schatten der Bäume umher. Seine Nerven waren zum Zerreißen gespannt, während ihm das Herz bis zum Hals schlug.

Die Erkenntnis traf Sam und Tordred gleichzeitig und mit voller Wucht: Die natürlichen Geräusche des Waldes fehlten. Es gab keine keckernden Eichhörnchen, keine zwitschernden Vögel – nicht mal das Rascheln der Blätter war zu hören.

Beunruhigt legte Tordred die Ohren an. Der Wald fühlt sich …

Tot an, vollendete Sam den Satz für ihn.

Lara zupfte Sam am Ärmel und zeigte auf etwas zwischen den Bäumen. Links vor ihnen hatte etwas eine Schneise der Verwüstung hinterlassen. Was Sam für eine normale Waldlichtung gehalten hatte, entpuppte sich als riesige Fläche voller entwurzelter Bäume, abgebrochener Äste und … Leichen.

Sam fing Oryx’ Blick auf. Die Minotauren waren stehen geblieben, reckten die Köpfe und witterten. In Oryx’ Gesicht stand blankes Entsetzen geschrieben.

»Dromegos Angriff hat begonnen«, sagte er bedrückt.

Schweigend traten sie näher. Sam hatte das Gefühl, dass die Minotauren genau wie Tordred und er den morbiden Drang verspürten, das Bild der Zerstörung in Augenschein zu nehmen. Schweigend durchquerten sie die kahle Einöde, umrundeten Lachen aus silbrigem Einhornblut und stapften schweren Schrittes über die tiefen Furchen aufgewühlter Erde, die Hunderte marschierender Hufe, Füße und womit Dromego seine Mutanten sonst noch ausgestattet hatte, im Waldboden hinterlassen hatten. Wo Sam auch hinsah, überall schienen ihm die erloschenen Augen eines toten Einhorns entgegenzustarren. Der Anblick war grauenhaft: Manche Körper waren von gigantischen Hufen zermalmt worden, andere lagen unnatürlich verdreht da. Ihre rötlichen Rüstungen waren zerbeult und in vielen Teilen klafften tiefe Risse.

Die gehörten alle zum Feuerschweifclan, sagte Tordred in Sams Kopf. Der nüchterne Tonfall seiner Gedanken stand in krassem Gegensatz zu seinen schnellen, abgehackten Atemzügen. Auch ohne dass er es aussprach, wusste Sam, dass es Angehörige dieses mächtigen Clans gewesen waren, die Tordreds Eltern im Kampf getötet hatten.

Sam wusste nicht, was er sagen sollte. Selbst Lara, die sonst auf alles einen schlagfertigen Kommentar hatte, schien der Anblick des Schlachtfelds die Sprache verschlagen zu haben. Die Minotauren schritten schweigend und überraschend behutsam vorwärts, wobei sie gelegentlich innehielten, um sich die sterblichen Überreste der albtraumhaften Kreaturen anzuschauen, die hier und da ebenfalls zu finden waren: ein Mensch mit einem langen, scharfen Schnabel, ein wolfsähnliches Wesen mit ledriger Haut.

»Tja«, meinte Sam schließlich mit einem Anflug von finsterem Galgenhumor, »wenigstens können wir jetzt wohl den direkten Weg durch den Wald nehmen. Ist ja keiner mehr da.«

Wortlos ging Tordred voran. Mit jedem abgeknickten Baumstamm, jeder silbrigen Blutlache, jedem toten Einhorn, an denen sie vorbeikamen, wurde sein Schweigen drückender.

Sam erblickte goldene Rüstungen, kupferne Rüstungen mit scharfen Kanten, silberne Rüstungen mit filigranen Gravuren. Einhörner, deren Schweife mit Stacheldraht umwickelt waren, und andere mit schwarzen Hufglocken, die so sehr nach echten Adlerkrallen aussahen, dass Sam sie auf den ersten Blick für Dromegos Mutanten hielt.

Beinahe zwanghaft zählte Tordred im Kopf die Namen der Clans auf. Der Sonnenhornclan. Der Feuerhufclan. Der Krallenhufclan. Er blieb vor den Leichnamen dreier Einhörner stehen, deren Schädel so schlimm zertrümmert waren, dass sie nur noch anhand ihrer silbernen Stachelrüstungen als Einhörner zu erkennen waren.

Rüstungen, die genau wie die aussahen, die Tordred getragen hatte, als Sam ihm zum ersten Mal begegnet war.

»Und der Eisenhornclan«, flüsterte Sam tonlos. Tröstend legte er eine Hand auf Tordreds Hals. Obwohl Tordred wegen ihres Bandes von den Einhörnern verstoßen worden war, spürte Sam, wie sein Freund von einer überwältigenden Trauer erfasst wurde, die im selben Moment auch von ihm Besitz ergriff. Nur mit Mühe gelang es ihm, die Tränen zurückzuhalten.

»So viele Clans«, murmelte Tordred. »Einfach ausgelöscht.«

»Wir sollten weitergehen«, sagte Lara leise, »bevor uns diejenigen, die hierfür verantwortlich sind, auch noch finden.« Ihr Tonfall war sanfter als sonst. Selbst sie ließ der gepeinigte Ausdruck in Tordreds Gesicht nicht unberührt.

Tordred schnaubte zustimmend und sie setzten ihren Weg über das Leichenfeld fort. Nach einer Weile kamen sie in ein unberührtes Waldstück und für eine kurze Zeit konnte Sam sich beinahe einbilden, dass sie bloß einen ganz normalen Waldspaziergang machten – wenngleich schweigend, höchst angespannt und ohne den geringsten Hinweis auf andere lebende Wesen weit und breit. Das warme Licht der Nachmittagssonne sickerte durchs Blätterdach und zeichnete filigrane Muster auf den Boden, als gäbe auch sie sich die größte Mühe, so zu tun, als sei alles in Ordnung.

Die Atempause währte jedoch nicht lang. Sie rochen das nächste Schlachtfeld, noch bevor sie es sahen. Dichte Rauchschwaden hingen zwischen den verbliebenen Bäumen und als sie auf die nächste Lichtung hinaustraten, bot sich ihnen auch hier ein Bild der Verwüstung. In einem riesigen Umkreis war alles voller abgebrannter Baumstümpfe und verkohlter Leichen. Mithilfe von Tordreds Erinnerungen ordnete Sam die toten Einhörner anhand ihrer schwarzen Rüstungen dem Donnerhufclan zu.

Sie stapften durch die dichte Ascheschicht auf dem Boden. Hier und da glommen letzte Glutnester in den Überresten der Bäume, um die sie sicherheitshalber einen großen Bogen machten. Sam und Lara zogen sich den Ausschnitt ihrer Tuniken übers Gesicht, um sich vor dem beißenden Gestank von Qualm und verbranntem Fleisch zu schützen, während Tordred immer wieder aufgebracht schnaubte, um seine Nüstern von der aufwirbelnden Asche zu befreien. Seine Ohren zuckten vor Anspannung.

Am anderen Ende der Lichtung stießen sie auf eine Anordnung unverbrannter Einhornkörper. Sie lagen in einem weiten Kreis und ihre Köpfe standen in einem unnatürlichen Winkel ab, als hätte eine riesige Kreatur ihnen mit einem einzigen kräftigen Schlag das Genick gebrochen. Tordred übermittelte Sam eine Erinnerung an seine ersten Tage beim Waldregiment seines Clans: ein großer, von zahlreichen Kämpfen gezeichneter brauner Hengst, der Tordred und den anderen im zackigen Befehlston erklärte: »Wenn der Gegner zu stark sein sollte, um ihn im Eins-gegen-eins auszuschalten, bildet eine Kreisformation. Haltet den Kreis, bleibt immer in Bewegung und spießt alles auf, was euch in die Quere kommt!«

Diese Formation war das Mittel, zu dem die Einhörner griffen, wenn alles andere wirkungslos blieb. Die Gruppe hier musste als allerletzte gestorben sein, nachdem ihre Kameraden Dromegos Monstern zum Opfer gefallen waren.

Wenigstens haben sie ein paar von den Monstern mitgenommen, dachte Tordred mit einem Anflug grimmiger Genugtuung. Mit einem Nicken deutete er auf das gute Dutzend zusammengekrümmter Leichen, die rings um den Kreis aus Einhörnern lagen. Auf den ersten Blick wirkten sie wie ein Häuf‌lein bunt zusammengewürfelter Spielzeuge, als hätte jemand den Kopf einer Puppe genommen und ihn am Körper einer Pferdepuppe befestigt. Oder den schuppigen Hinterleib eines Kelpies an den Torso eines Zentauren. Doch bei genauerer Betrachtung wiesen sie zahlreiche klaffende Wunden auf, aus denen schlammig braunes Blut in den Waldboden sickerte. Der Donnerhufclan hatte sich eindeutig nicht kampf‌los ergeben.

»Hey!«, rief Lara plötzlich. »Halt mal an!«

Tordred blieb stehen und sie ließ sich von seinem Rücken gleiten, sprang mit einem Satz über die Leiche eines pelzigen Zentaurenwesens und fing an, zwischen den sterblichen Überresten herumzuwühlen. Wenig später kehrte sie mit einem Säbel in der Hand und einem zufriedenen Ausdruck im Gesicht zurück. »Die Dinger haben Hände, was bedeutet, dass sie auch Waffen haben, mit denen wir endlich mal was anfangen können! Hilf mir mal, Sam!«

Sam war nicht unbedingt erpicht darauf, von Tordreds Rücken zu steigen, nicht zuletzt, weil die Luft dort oben zumindest ein bisschen besser war. Aber Lara hatte recht. Er sprang zu ihr auf den Boden und hob ein Schwert auf, dann riss er einen Streifen von seiner Tunika und band ihn sich wie einen Gürtel um, in den er das Schwert steckte. In der Zwischenzeit hatte Lara drei weitere Leichen durchsucht und dabei ein kurzes Messer, ein Schwert mit gezackter Klinge und zwei Wurfpfeile zutage gefördert. Letztere verschwanden umgehend in ihrem geflochtenen Haarkranz.

Die Minotauren gesellten sich zu ihnen und fingen ebenfalls an, die Waffen zu durchstöbern. Einige tauschten ihre Knüppel gegen Schwerter ein oder steckten sich weitere Messer in ihre Waffengürtel. Tordred zog sich unterdessen an den Rand der Lichtung zurück, wo der Qualm weniger dicht war, senkte den Kopf und schloss die Augen.

Plötzlich stieß er ein Knurren aus. Seine Wut ging unmittelbar auf Sam über, der hochfuhr und sich nach dem Grund für Tordreds Zorn umsah. Das Bild, das im selben Moment vor Sams innerem Auge auf‌tauchte, glühte förmlich. Drei Minotauren kauerten über dem Leichnam eines Apfelschimmels. Sie unterhielten sich angeregt auf Asteri. Grizera, die Anführerin der Minotauren, sagte etwas, womit sie die anderen zum Lachen brachte, und wischte sich übers Maul. Sam zuckte zurück, als er die silbrige Blutspur auf ihrem Kinn bemerkte.

»Was macht ihr da? Geht weg von ihm! Habt ihr denn kein bisschen Respekt?«, brüllte Tordred.

Die drei Minotauren sahen nicht einmal hoch. Dafür bauten sich die anderen vier hinter ihnen auf. Ihre Haltung hatte etwas Drohendes, nur Oryx wirkte eher besorgt. Sein Blick wanderte unruhig zwischen Tordred und seiner Familie hin und her.

»Sie haben Hunger …«, setzte er zu einer Erklärung an.

»Sie fressen ihre Verbündeten«, knurrte Tordred und trat drohend auf die Gruppe zu.

Tordred, mahnte Sam. Wir wissen nicht, wozu sie fähig sind. Denk dran, wir müssen es einfach nur heil zurück zum Hof meiner Schwester schaf‌fen …

Tordred versetzte dem verdrehten Körper einer menschenähnlichen Kreatur mit riesigen Flügeln einen Huf‌tritt, sodass er zu den Minotauren hinüberrollte. »Hier, dann fresst eben einen von den Mutanten.«

Grizera zuckte mit den Schultern und beugte sich wieder über das tote Einhorn.

Ein tiefes Grollen drang aus Tordreds Kehle und für einen Moment färbte sich Sams Sichtfeld schwarz vor Wut. Doch seine eigene Angst und Sorge waren stärker als der Zorn seines Freundes. Hastig stellte er sich Tordred in den Weg und hob beschwichtigend die Hände.

Beruhig dich, Tordred.

Die FRESSEN meine …

»Sieh doch!«, rief Sam. Oryx hatte Grizeldas Arm gepackt und hielt sie davon ab, das Einhorn anzurühren. Er redete eindringlich auf sie ein und zog den toten Mutanten zu ihnen heran. Grizera verzog das Gesicht und stieß ein verärgertes Knurren aus, doch dann machten sie und die anderen sich über den Mutanten her. Sam fiel ein Stein vom Herzen. Er fing Oryx’ Blick auf und nickte ihm dankbar zu.

Tordreds Augen fielen zu und sämtliches Feuer in ihm erlosch schlagartig. Sam spürte, wie erschöpf‌t sein Freund war. Das waren sie beide. Und es war noch lange kein Ende in Sicht. Eines aber wusste Sam: Tordred und er würden immer zusammenbleiben, was auch geschah.

Realistisch betrachtet war das kein allzu großer Trost, denn mal ehrlich: Was konnten sie schon gegen Armeen, Monster und fleischfressende Minotauren ausrichten? Doch allein der Gedanke verlieh ihnen neue Kraft, genug, um ihren Weg über die grausigen Schlachtfelder fortzusetzen. Als die Nacht anbrach, schlugen sie ihr Lager unter einem Felsvorsprung auf, der glücklicherweise so lag, dass der Wind den Qualm von ihnen wegtrug.

Die Minotauren schienen den sandigeren Boden am Fuß des Hanges zu bevorzugen, sodass Tordred, Sam und Lara den kühlen dunklen Flecken Erde im Schatten der Felsen für sich hatten. Nachdem sie sich kurz miteinander beratschlagt hatten, beschlossen sie, zur Sicherheit eine Nachtwache aufzustellen, damit sie rechtzeitig gewarnt waren, falls die Minotauren auf die Idee kamen, sich gegen sie zu wenden. Sam meldete sich für die erste Schicht und warf Lara so lange bedeutungsvolle Blicke zu, bis sie sich bereit erklärte, die zweite Schicht zu übernehmen.

Ich bin kein kleines Fohlen, weißt du?, dachte Tordred missmutig.

Du hast uns den ganzen Tag auf dem Rücken getragen. Du hast die Ruhe dringend nötig, erwiderte Sam. Jetzt schlaf, sonst bist du morgen zu nichts zu gebrauchen.

Tordred war so ein Sturkopf, dass er sogar noch zu widersprechen versuchte, als er bereits auf dem Boden lag und die Augen schloss. Ein leises Lächeln huschte über Sams Gesicht, als die Proteste in seinem Kopf unvermittelt abbrachen und eine schläfrige Stille einkehrte.

Lara wickelte sich in einen Mantel, den sie auf dem Schlachtfeld gefunden hatte, und rollte sich mit dem Rücken zur Felswand auf dem Boden zusammen. Binnen kürzester Zeit gingen ihre Atemzüge in einen langsamen, gleichmäßigen Rhythmus über. Die Minotauren brauchten länger, um zur Ruhe zu kommen. Ihr kehliges Grollen driftete zu Sam hinauf. Es klang, als würde einer von ihnen eine Geschichte erzählen.

Schließlich wurde es auch im Lager der Minotauren still. Sam schlich zum Rand des Hanges und sah hinab. Sechs von ihnen lagen in einem losen Knäuel auf dem Boden und schliefen, doch der siebte, ein großes Männchen mit einem abgeknickten Horn, richtete sich auf und schaute sich alarmiert um. Er warf Sam einen misstrauischen Blick zu.

Sam rang sich ein Lächeln ab, winkte ihm betont fröhlich zu und kehrte auf seinen Platz zurück. An Tordreds Rücken gelehnt grübelte er über das nach, was er gerade beobachtet hatte. Haben sie auch eine Wache aufgestellt? Weil sie uns nicht trauen?

Aus irgendeinem Grund behagte ihm die Vorstellung ganz und gar nicht. Am liebsten hätte er sich mit Tordred ausgetauscht, doch nun, da sein Freund endlich schlief, wollte er ihn auf keinen Fall aufwecken. So entspannt wie jetzt hatte er das schwarze Einhorn schon lange nicht mehr erlebt.

Und so dachte er stattdessen über all das nach, was er an diesem Tag gesehen hatte. Wie sollte er den Erwachsenen auf dem Hof seiner Schwester erklären, dass sie sich nicht länger verstecken konnten? Nicht vor diesem Feind. Sie hatten keine andere Wahl, als zu kämpfen. Und wenn sie überleben wollten, mussten sie sich wohl oder übel mit den Einhörnern und Minotauren verbünden.

Obwohl sein Geist hellwach war, spürte Sam die Müdigkeit und Erschöpfung in jedem seiner Knochen. Er hatte Lara gesagt, dass er sie bei Mondaufgang wecken würde, doch sein Körper wurde schwerer und schwerer und seine Augen brannten, während er in den Himmel hinaufstarrte und darauf wartete, dass sich der Mond endlich blicken ließ.

Wie von selbst fielen seine Augen zu und sein Kopf sackte nach vorne. Er schrak hoch und schlug sich ein paarmal ins Gesicht, um wach zu werden, dann wandte er seine Aufmerksamkeit wieder dem unveränderten Himmel zu.

Offenbar war er abermals eingeschlafen, denn das Nächste, was er wahrnahm, war eine große, pelzige Hand, die ihm auf die Wange klopfte.

»Sam! Wach auf!«

Er schlug die Augen auf und sah sich einem lebendig gewordenen Albtraum gegenüber. Ein finsterer Bullenkopf mit gelblichen Reißzähnen beugte sich über ihn und blies ihm heißen, stinkenden Atem ins Gesicht, während eine riesige Pranke ihn am Arm packte.

Oh nein! Lara hatte recht! Die Minotauren wollen uns umbringen!

Sam holte Luft, um nach Hilfe zu schreien, doch Oryx hielt ihm eilig den Mund zu. »Pssst! Hier in der Nähe wird gekämpf‌t. Ich kann es riechen.« Seine Nase zuckte witternd.

Sams Herz raste. Gleichzeitig war seine Kehle wie zugeschnürt. Hinter ihm regte sich Tordred, der seine Furcht bis in den Schlaf hinein gespürt haben musste. Oryx’ Worte schlingerten durch Sams vor Müdigkeit benebeltes Gehirn, bis er endlich begriff, was der Minotaurus gerade gesagt hatte.

»Was kannst du riechen?«, fragte er heiser.

»Den Tod«, antwortete Oryx. »Wir müssen hier weg!«

Sam nickte und Oryx ließ seinen Arm los. Tordred rappelte sich bereits mühsam hoch. Sam ging zu Lara, die leise vor sich hin schnarchte und anscheinend nichts von alldem mitbekam. Er beugte sich vor, um sie wach zu rütteln, doch kaum dass er sie berührte, schlug sie die Augen auf und richtete ihr Messer auf ihn. Erschrocken sprang er zurück, wobei er sich um ein Haar das Bein an ihrer Klinge aufschlitzte.

»Pass doch auf!«

Laras Blick huschte über das geschäftige Treiben um sie herum. »Welche Richtung?«, fragte sie, bevor Sam ihr die Lage erklären konnte.

»Keine Ahnung«, flüsterte er. »Aber sie sind ganz in der Nähe. Wir müssen los.«

Sie brauchten nicht lange, um ihr weniges Hab und Gut zusammenzuraffen und die Überreste ihres Lagerfeuers zu verscharren. Erneut übernahm Tordred die Führung. Sam spürte, wie ihm der allgegenwärtige Verbrennungsgestank in den Nüstern stach und er sich danach sehnte, kehrtzumachen und in die weiten, offenen Grasebenen hinauszugaloppieren. Doch der Geruch des Todes war überall. Es gab kein Entkommen.

Nachdem sie die Spur der Verwüstung, die Dromegos Armee hinterlassen hatte, mit eigenen Augen gesehen hatten, war der Gefechtslärm im Grunde keine Überraschung mehr. Dennoch war die Wirkung schier überwältigend. Das Kampfgebrüll der Einhörner mischte sich mit den grausigen Schreien der Mutanten, dem entsetzlichen Klang von Waffen, die auf Körper trafen, und dem Knacken brechender Knochen.

Nach links, drängte Sam Tordred, als sie an eine Weggabelung kamen. Dort geht es zum Hof meiner Schwester.

Gleichzeitig würde diese Abzweigung sie weiter vom Kampfgeschehen wegführen, auch wenn Sam das nicht aussprach. Obwohl er fest daran glaubte, dass die Clans von Cavallon nur dann eine Chance hatten, wenn sie alle gemeinsam gegen Dromego kämpf‌ten, gab es nichts, was sieben Minotauren, zwei Menschen und ein erschöpf‌tes, zutiefst erschüttertes Einhorn in dieser Schlacht ausrichten konnten. Sie mussten hier weg, sich sammeln und wieder zu Kräften kommen, um das Ganze mit einem ausgeklügelten Plan in Angriff zu nehmen.

Doch Tordred schien außerstande, gegen den Drang anzukämpfen, der ihn unwiderstehlich nach rechts zog. Ein Gefühlschaos stürmte auf Sam ein, das ihn an den Quilt erinnerte, den seine Schwester für ihre Hochzeit genäht hatte: ein wildes Durcheinander nicht zusammenpassender Fetzen, die für sich allein genommen nicht den geringsten Sinn ergaben. Die Einhornclans mochten Tordred verbannt haben, aber er konnte sie jetzt nicht im Stich lassen. Er konnte nicht einfach davonlaufen und so tun, als sei nichts, während sie einer nach dem anderen gnadenlos abgeschlachtet wurden.

Er trat zwischen zwei hohen Tannen hindurch und die kleine Truppe fand sich am Rand einer brennenden Einöde wieder, die sich vor ihnen unter dem schwarzen Nachthimmel erstreckte. Rüstungen aller Farben und Formen blitzten im Mondlicht auf, als die Einhörner wieder und wieder auf ihre Gegner einstürmten, obwohl sie ihnen zahlenmäßig weit unterlegen waren. Auf jedes Einhorn kamen mindestens drei Mutanten, deren verzerrte Fratzen im Licht der brennenden Bäume unheimlich leuchteten.

»Wir können nicht weglaufen«, sagte Tordred. »Aber wir können kämpfen.«

Clans von Cavallon (4). Das Vermächtnis der Zentauren

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