Читать книгу Der rote Feuerstein - Kim Scheider - Страница 10

Das doppelte Tor

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Meine Güte, ist das dunkel hier!”

Paul stolperte unsicher den Tunnel entlang, während die kleine Fee voraus flog.

„Warte, ich leuchte uns ein wenig”, antwortete Vicki und tatsächlich wurden die Sichtverhältnisse gleich besser. Wie ein Irrlicht huschte das rosa Ding in die Dunkelheit und Paul gelang es allmählich, Konturen vor sich auszumachen.

„Ich denke, du kannst nicht mehr zaubern?”, fragte der Junge argwöhnisch.

„Das erklär ich dir später. Wir müssen so schnell wie möglich das Tor erreichen. Der Rochusmensch kann jeden Moment wieder zu sich kommen und die Verfolgung aufnehmen.”

Paul protestierte noch nicht einmal mehr, ob der vielen „Späters”, die er inzwischen zu hören bekommen hatte. Auch ihm war klar, dass jetzt keine Zeit für langwierige Erklärungen blieb. „Kennst du den Weg von diesem Eingang aus zum Tor?”

„Nein, hier war ich auch noch nicht”, antwortete die Fee. „Aber erstmal werden wir uns ostwärts halten und dann schon bald nach Norden abbiegen.”

„Das ist schön, ich hoffe nur, dass du irgendeinen Trick kennst, wie du hier unten Osten und Norden erkennst”, meinte Paul zweifelnd.

Doch Vicki machte sich darüber weniger Gedanken.

„Wenn ich erstmal an einer Stelle bin, die ich kenne, ist es ein Klacks. Unsere größte Sorge sollte vielmehr sein, dass wir hier nicht in einer Sackgasse landen.”

Paul fand diese Antwort nicht gerade beruhigend, zumal vom Eingang her polternde Geräusche durch den Tunnel hallten, die seine Befürchtungen noch bestärkten. Offenbar war der Rochusmensch inzwischen erwacht. Vicki bedeutete dem Jungen, ihr möglichst leise zu folgen, doch das war gar nicht so einfach. Der Boden war übersät mit Sand und kleineren Gesteinsbröckchen, so dass jeder seiner Schritte ein leises Knirschen erzeugte. Da er leider nicht wie Vicki über Flügel verfügte, um geräuschlos durch die Gänge zu fliegen, zog er sich kurzerhand die Schuhe aus und schlich dem schwachen Schimmern der Fee um die nächste Ecke hinterher. Jetzt knirschten seine Schritte zwar nicht mehr, dafür zischte er ständig, wenn er versuchte, ein Schreien zu unterdrücken, weil sich ein spitzer Stein schmerzhaft in seine Fußsohlen gebohrt hatte.

Es dauerte nicht lange und Paul verstand, warum dieser Teil der Bunkeranlagen der Öffentlichkeit nicht zugänglich war. Überall waren eingestürzte Gänge, in denen sie nicht weiter kamen und einen neuen Weg suchen mussten. Die noch erhaltenen Tunnel sahen allerdings auch nicht wesentlich Vertrauen erweckender aus. Moosige Behänge zogen sich an den Wänden entlang, durch die kleine Rinnsale brackigen Wassers zu Boden liefen. Binnen kürzester Zeit waren die Socken des Jungen klatschnass und die Füße kalt wie nach einem langen Winterspaziergang.

Es war nicht einfach für Paul, die Stille zu ertragen, wo er sich doch so gerne mit den ganzen Fragen an Vicki von seiner Angst und der Kälte abgelenkt hätte. Unheimliche Geräusche drangen aus der Dunkelheit unnatürlich laut an seine Ohren. Zwischendurch konnten sie immer wieder den Rochusmenschen gemein lachen hören, der natürlich unverzüglich ihre Verfolgung aufgenommen hatte und nun ebenfalls das Labyrinth aus Tunneln und Gängen durchforstete.

„Versteckt euch nur“, lachte er, nur wenige Gänge entfernt. „Ich werde euch schon finden und dann seid ihr dran, das garantiere ich euch!"

Mit diesem Versprechen im Nacken hastete Paul der Fee hinterher, die gerade in einen neuen Tunnel abbog.

Das Schlimmste für die beiden war, dass sie den Dämon in der Dunkelheit nicht einmal würden kommen sehen. Ein Ungetüm wie dieses benötigte schließlich kein Licht wie sie, um sich in der Dunkelheit zu orientieren. Die ständige Sorge, er könnte sich plötzlich unbemerkt von hinten auf ihn stürzen, trieb Paul den Angstschweiß aus allen Poren. Als er schon befürchtete, er müsse durchdrehen, erreichten sie eine Treppe, die in die Tiefen des Felsens hinab führte. Vicki deutete nach unten und reckte den Daumen in die Höhe, was Paul zunächst mal positiv bewertete. Nicht so positiv waren die Geräusche, die aus einem Gang zu ihnen drangen, der nicht allzu weit entfernt sein konnte.

„Ich kriege euch“, hörten sie die bösartige Stimme als nervenden Singsang erneut. „Gleich hab ich euch..."

Lass den blöden Tunnel über ihm einkrachen, flehte Paul an niemand bestimmten gerichtet, während er Vicki die Treppe hinunter folgte, die einfach kein Ende nehmen wollte. Seine Nerven waren inzwischen zum Zerreißen gespannt. Pauls Befürchtung, sich mittlerweile schon weit unter dem Meeresspiegel zu befinden, wurde durch die immer größer werdenden Rinnsale unterstützt, die mittlerweile noch zahlreicher aus den Wänden drangen. Überall hatten sich Salzkristallbahnen gebildet, die sich wie ein gigantisches Spinnennetz über die Wände zogen und im Licht der Fee gespenstisch leuchteten.

Die Vorstellung, dass sich über ihm meterhohes Felsgestein und womöglich sogar schon die Wassermassen der Nordsee befinden könnten, die nach wie vor nicht nur latent vorhandene Panik vor dem Rochusmenschen, die Tatsache, dass Vicki plötzlich, trotz ihres eigenen Schweigegebotes, laut fluchte und die Ursache für den Fluch, all das zusammen bewirkte wohl, dass Paul einen unglaublichen Urschrei von sich gab, in dem sich all seine Ängste widerspiegelte.

Solche Geschichten zu lesen, in Ordnung.

Anschließend, mit einem leichten Prickeln im Nacken, im Dunkeln zum Klo zu gehen und fast einen Herzstillstand zu kriegen, wenn die Katze einem plötzlich um die Beine streicht, auch in Ordnung.

Aber das alles hier wirklich zu erleben, eindeutig nicht in Ordnung!

Paul stand da wie angewurzelt und lauschte dem Hall seines Schreis nach. Im selben Moment, als er verklungen war, wurde ihm bewusst, was Vicki ihm auch sofort unter die Nase rieb.

„Ging’s nicht noch ein bisschen lauter? Den Brüller dürfte unser Freund da oben wohl kaum überhört haben”, zischte sie ihn verärgert an. Paul wollte sich entschuldigen, aber er brachte nur ein undeutliches Gekrächze zustande.

Doch das kleine Fabelwesen konnte den Jungen ja auch verstehen. Für einen zwölfjährigen Menschenjungen, der ihre Welt bis vor etwa 24 Stunden noch unter dem Begriff „Fantasie” kannte, hielt er sich eigentlich sogar besser, als sie gedacht hatte. Leider stand so viel auf dem Spiel - es war keine Zeit mehr, ihn behutsam auf die ihm bevorstehende Aufgabe vorzubereiten. In zwei Tagen wäre die Krönungsfeier. Wenn sie dann nicht zurück wäre...

Sie traute sich kaum, den Gedanken zu Ende zu bringen. Sie mussten es einfach schaffen. Ihrer beider Welten waren in Gefahr und sie waren die einzigen, die dies noch verhindern könnten. Wenn sie doch nur endlich Zeit finden würde, Paul all die Umstände zu erklären, die ihn nun in diese Situation gebracht hatten, dann würde er sicher verstehen, dass es einfach nicht anders ging.

Nun aber würde der Junge es wohl auf die harte Tour lernen müssen. Er konnte es schaffen. Vicki war sich ganz sicher, dass er der Richtige für diese Aufgabe war.

Er würde es schaffen!

Bestimmt!

Zunächst einmal musste Vicki jedoch zusehen, dass sie aus dieser Sackgasse irgendwie wieder heraus kamen. Doch zum Glück war die Fee praktisch veranlagt.

„Pass auf, wir müssen hier weg”, sagte sie behutsam zu Paul, der vor Angst schlotternd auf der vorletzten Treppenstufe stand.

„Und wie soll das gehen?”, stieß er panisch hervor. „DA IST ZU!”

„Das ist kein Problem, lass mich nur machen. Du musst aber ein Stück zurück gehen.”

Auf das bisschen Krach kommt es jetzt auch nicht mehr an, dachte die kleine Fee. Ein feuriger Blitz schoss aus Vickis Handfläche und eine mittlere Explosion ließ den Bretterverschlag, der ihnen den Fluchtweg versperrte, in tausend Einzelteile zerbersten.

Der Weg war nun frei und Paul hatte sich soweit gefangen, dass er Vicki direkt folgen konnte. Schon nach ein paar Metern drehte die Fee sich zu ihm um und Erleichterung stand ihr im Gesicht geschrieben.

„Hier kenn’ ich mich aus, jetzt ist es nicht mehr weit.”

Sie bogen nach links ab, folgten einer kurzen Treppe ein Stück nach oben und gelangten in einen langen Gang, an dessen betonierten Wänden Holzbänke standen. Unter einer von ihnen hatte Paul damals im Urlaub den Feuersteinanhänger gefunden.

Den Schlüsselstein!

Wieder tastete er erschrocken nach der Kette und stellte beruhigt fest, dass sie noch da war. Der Gang vor ihnen mündete bald in einer T-Kreuzung, an der Vicki wieder links abbog und sich wieder aufgeregt zu Paul umdrehte.

„Wir sind jetzt da, gleich da vorne ist es...”

Fröhlich summend flog sie voraus, hielt jedoch kurze Zeit später wie angewurzelt inne.

„Das, - das gibt’s doch nicht. Das ist falsch!”

Hektisch flog Vicki an der Mauer entlang, hin und her zwischen zwei bestimmten Stellen. Das konnte doch nicht wahr sein!

„Was ist los? Was hast du? Was ist falsch?” Paul blickte verständnislos auf die beiden Punkte im Beton, die Vicki immer wieder anflog.

„Da, sieh hier, das Loch für den Schlüsselstein.”

Paul trat näher an die von Vicki beleuchtete Stelle heran. Er entdeckte einen kleinen, unscheinbaren Spalt im Gestein, gerade groß genug, um den Feuerstein an seiner Kette der Breite nach in den Ritz zu stecken. Kaum hatte er dies entdeckt, flog Vicki auch schon etwa zehn Meter weiter nach rechts und beleuchtete die andere Stelle. Auch hier war ein Spalt in der Wand mit den entsprechenden Maßen.

„Soll das etwa heißen, es gibt zwei Tore?” Paul verstand die Welt nicht mehr.

Aber Vicki erging es anscheinend ähnlich. „Ich weiß auch nicht, was das soll. Hier war immer nur ein Tor - das hier!” Vickis Stimme überschlug sich fast vor Panik.

„Oder nein, - das hier! Oder, - ach Mist, ich weiß es einfach nicht!”

„Du weißt nicht, welches das richtige Tor ist?”

„Nein, ich weiß es nicht.” Die Stimme der Fee war nur mehr ein Flüstern. „Ich weiß es nicht.”

Augenblicklich wurde Paul wieder von der Panik befallen, die er gerade erst mühsam niedergekämpft hatte. „Was sollen wir denn jetzt machen? Das Monster kann jeden Moment hier sein! Wir können doch nicht einfach durch irgendeines der Tore gehen, ohne zu wissen, wo es uns unter Umständen hinführt?”

Paul verfluchte sich selber dafür, sich überhaupt auf diese wahnwitzige Aktion eingelassen zu haben.

„Eigentlich müssten beide Tore nach Atlantis führen”, überlegte Vicki und besah sich die beiden Schlüssellöcher genauer. „Diese Tore sind eindeutig mit dem Atlanter Feuerstein zu öffnen, also müssen sie auch beide nach Atlantis führen.”

Wieso Atlanter Feuerstein?, dachte Paul bei sich. Das ist doch Helgoländer Feuerstein. Aber auch diese Frage landete erstmal auf dem Ablagestapel für „später”.

„Ja, so muss es sein!”, riss Vicki ihn aus seinen Gedanken. „Beide Wege müssen nach Atlantis führen. Nur wird einer von ihnen sicher einen Haken haben. Ich kann mir einfach nicht erklären, warum ein Ort plötzlich zwei Zugänge haben sollte, noch dazu so dicht beieinander. Das macht einfach keinen Sinn!”

Paul fühlte sich nicht in der Lage, ihr bei der Enträtselung dieses Problems irgendwie behilflich zu sein, daher zuckte er nur mit den Schultern und schüttelte hilflos den Kopf. Doch die kleine Fee war ganz in Gedanken und schien auch keine Reaktion von ihm zu erwarten.

„Gut, lass uns versuchen logisch vorzugehen”, setzte Vicki ihre Überlegungen fort. „Ich kann mich nicht erinnern, welches Tor das richtige ist und es gibt auch keine Hinweise, die mir die Entscheidung erleichtern würden. Beide sehen identisch aus. Wir könnten es also auslosen. Aber nein, besser nicht. Dass Auslosen nicht immer die beste Lösung ist, sehen wir daran, dass wir überhaupt unter diesen Bedingungen hier sitzen.”

Paul verstand kein Wort von dem, was die Fee da wie im Fieberwahn runterrasselte. Vicki indes musste an den Verfolger denken und wunderte sich, dass er sie nicht schon längst eingeholt hatte. Sie konnte die drohende Gefahr, die von ihm ausging, regelrecht körperlich spüren.

Dass besagter Verfolger keine fünf Meter weiter im Gang stand und geradezu widerlich zufrieden grinste, konnten die beiden nicht sehen. Er vertraute ganz darauf, dass sie das richtige Tor wählen würden, ansonsten würden er und seine Brüder schon entsprechend nachhelfen.

„Rechts oder links?” Die Fee dachte wieder angestrengt über das Problem nach, vor dem sie standen. „Rechts? Oder links? Links oder rechts? Links - links, wie linkisch oder falsch... Falsch! Das ist es! Links gleich linkisch, gleich tückisch oder falsch!”

„Und rechts, gleich recht, gleich richtig!”, vollendete Paul den Gedanken, der sofort wusste, worauf die Fee hinaus wollte.

„Ja, das muss es sein”, rief Vicki glücklich. Die drohende Gefahr durch den Rochusmenschen ließ sie nach jedem noch so dünnen Strohhalm greifen. „Rechts gleich richtig!”

Paul streifte vor Aufregung wie elektrisiert die Kette mit dem Schlüsselstein über den Kopf und trat vor das rechte Schlüsselloch. Im Grunde war es die pure Verzweiflung, die sie beide an die Lösung des Rätsels glauben ließ. Kurz überlegte Paul, ob es wirklich so einfach sein sollte, aber es half sowieso nichts, noch länger zu zögern. Der Rochusmensch konnte sie jeden Augenblick eingeholt haben, also steckte er den Anhänger in den unscheinbaren Ritz. Sofort bildete sich ein dunkelrot schimmernder Torbogen im Gestein, der den Beton verschwinden ließ und die dahinter liegenden Felsmassen zum Vorschein brachte. Er sah aus, als bestünde er aus beleuchtetem Feuerstein. Die Flügeltür des Tores stand einladend offen und offenbarte einen ebenfalls rot schimmernden, leicht pulsierenden Tunnel, aus demselben Material, aus dem auch der Torbogen bestand.

„Sieht aus wie immer”, bemerkte Vicki optimistisch, und gemeinsam traten sie, ohne zu zögern, durch das Tor.

Als es sich gleich darauf wieder hinter ihnen schloss, traten die drei Rochusmenschen aus dem Schatten des Ganges an das Tor heran. Jeder von ihnen trug einen länglichen schwarzen Opal mit kleinen Einbuchtungen bei sich. Die drei Teile ließen sich von ihren Trägern wie ein Puzzle zusammenfügen. Mit ihm würden sie das frisch angelegte Tor nun für ihre Zwecke eichen.

Auf Forgall, ihren Herrn und Meister aus den Abgründen war Verlass gewesen, ganz wie es besprochen gewesen war. Sie hatten das lästige Insekt - mehr war die Fee in ihren Augen nicht - und den kleinen Menschenjungen in ihr Verderben geschickt.

Birger fügte den Opalschlüsselstein in das Schloss des rechten Tores und sprach eine kurze Formel in einer längst vergessenen Sprache. Ein Blitzlichtgewitter tobte über das Gemäuer. Von nun an, würde es sich nur noch mit einem Opalschlüsselstein öffnen lassen.

„Es ist vollbracht!”, sagte der Dämon triumphierend, als er den Stein aus dem Loch zog und nichts als eine unscheinbare Betonmauer zurück ließ. Nun hatten sie die unliebsame Konkurrentin da, wo Forgall sie haben wollte.

„Es ist vollbracht!”, wiederholte er, an seine Brüder gewandt.

Und alle drei brachen in grausames Gelächter aus, das sich wie eine Naturgewalt durch die Gänge der alten Bunkeranlage wälzte und den Putz von den Wänden rieseln ließ.

Der rote Feuerstein

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