Читать книгу Der rote Feuerstein - Kim Scheider - Страница 9
Atlantis 2005
ОглавлениеKönigliche Mitteilung an alle Atlanter
Am 9. April 2005
wird unter der Weltenesche
unser neuer König Fosite
gekrönt.
Teil der Zeremonie ist auch diesmal wieder die Auslosung der/des zukünftigen
Königin/Königs.
Alle an der Verlosung Interessierten,
werfen ihre Bilderlose bitte bis zur
Mittagsstunde dieses Tages
in den Loskessel.
Königin Barbara die Schöne
„Vom Friesengott zum König von Atlantis, wenn das mal keine steile Karriere ist”, witzelte Vicki, die gerade den bunten Aushang betrachtete, der vor ein paar Tagen über Nacht in ganz Atlantis aufgetaucht war. Zwar konnte keiner das liebevoll gestaltete Plakat lesen, aber es wusste ja jeder, was drauf stand. Es gehörte einfach dazu, dass der Fudnoff, als einziger der Schrift mächtiger Atlanter, ein Plakat nach den jeweiligen Wünschen des scheidenden Königs gestaltete.
Vicki war gerade auf dem Weg, um ihr Bilderlos in den Kessel zu werfen, denn sie hatte beschlossen, diesmal auch an der Verlosung teilzunehmen. Begleitet wurde sie von Deak, einem kleinen, braunen Wehrdackel, der ihr schon seit Jahren ein treuer Freund war. Deak schämte sich ein bisschen für die Bezeichnung “Wehrdackel”, erinnerte sie doch zu sehr an die meist sehr unangenehme Gattung der Werwölfe, die sehr zahlreich auf Atlantis vertreten waren.
Einen Wehrdackel jedoch, gab es nur einmal - und zwar ihn.
Deak, der Wehrdackel.
Sein Erfinder wollte wohl seine „Wehrhaftigkeit” betonen, denn für einen kleinen Dackel konnte er sich in eine erstaunliche Kampfmaschine verwandeln, wenn es darauf ankam. Ansonsten war er aber ein ganz normaler Hund, auch wenn er, wie Vicki häufig gerne behauptete, aussah wie ein Hotdog-Würstchen auf Beinen, das obendrein auch noch reden konnte. Wie alle Lebewesen von Atlantis war auch er der Phantasie eines menschlichen Schriftstellers auf Erden entsprungen. So tummelten sich die unglaublichsten Gestalten auf Atlantis, von Drachen, Riesen und Märchenwesen, über Zauberer, Piraten und Romanhelden bis hin zu kleinen Feen, Göttern, sprechenden Kaffeekannen oder eben auch einem Wehrdackel.
Jedes jemals zu Papier gebrachte Wesen konnte hier dank eines mächtigen Zaubers leben, immer vorausgesetzt, es hielt sich an die Regeln und Gesetze dieser Welt. Für Vicki und Deak war es nach ihrer Materialisierung auf Atlantis gar keine Frage gewesen, sich diesen Vorschriften, die das friedliche Zusammenleben so vieler Lebewesen regelten, unterzuordnen. Doch gab es immer wieder Verweigerer, die, einmal der Welt ihrer Geschichte entstiegen, nicht einfach wieder verschwanden. Für diese Wesen, vorwiegend Monster und Schreckgestalten, gab es von Atlantis aus nur einen Weg.
Den in die Abgründe von Atlantis.
Die Atlanter wagten diesen Namen meist nur im Flüsterton auszusprechen; tummelte sich dort doch der Abschaum menschlicher Phantasien.
Jack the Ripper, der fliegende Holländer, Tod und Teufel,- sie alle hatten es lieber vorgezogen, in die Abgründe zu gehen, als die eigentlich recht simplen Gesetze der gigantischen Welt Atlantis zu akzeptieren.
Im Schatten unter der Weltenesche angekommen, ließ Vicki ihr Foto ohne zu zögern in den Kessel fallen, der von einem fröhlichen, bunten Känguru mit roter Zipfelmütze bewacht wurde.
„Was ist mit dir, Deak?”, fragte es den Dackel an Vickis Seite.
„Nee, du, lass mal gut sein”, lehnte dieser dankend ab.
Achselzuckend wandte sich das Känguru dem nächsten Bewerber zu, einem riesigen, braunen Bären, der ein sehr guter Freund von Vicki und Deak war und dem Märchen Schneeweißchen und Rosenrot entstammte. Die Fee und der Wehrdackel gesellten sich zu den anderen Schaulustigen und beobachteten die letzten Bewerber, die ihre zusammengefalteten Fotos in den Kessel warfen.
Eine halbe Stunde und ungefähr 50 Anwärter auf den Königsposten später war es dann endlich so weit. Es schlug zur Mittagsstunde.
Der Festplatz unter der Weltenesche hatte sich mit tausenden und abertausenden Atlantern gefüllt. Keiner von ihnen wollte sich die erste Krönung seit 77 Jahren entgehen lassen. Für viele war es sogar die Erste überhaupt. In 77 Jahren war viel geschrieben worden.
Links von Vicki schien sich die gesamte Märchenwelt versammelt zu haben. Von Schneewittchen und ihren sieben Zwergen über Rapunzel und Rumpelstielzchen bis hin zu Sterntaler und Aschenpuddel hatte sich dort alles eingefunden, was Rang und Namen hatte. Vicki entdeckte in der Menge auch den Bären, der nach ihr sein Bild in den Loskessel geworfen hatte. Er schien vor Aufregung kaum noch stehen zu können und wurde von Schneeweißchen und Rosenrot gestützt, die ihm aufmunternd über sein zotteliges Fell streichelten.
Rechts von Vicki und ihrem Begleiter erstreckte sich die Fantasyabteilung. Drachen, Helden und eine Reihe zum Teil recht obskur aussehender Fabelwesen bedeckten die Ebene, die sich auf dieser Seite vor der scheinbar unendlich weit ausladenden Weltenesche erstreckte.
Über ihren Köpfen flogen kreischend und schnatternd ein paar Hexen auf ihren Besen und auch hinter ihnen hatten sich noch einige tausend Atlanter versammelt. Soweit das Auge reichte tummelte sich eine bunte und artenreiche Masse.
Eine der fliegenden Hexen legte sich mit dem Känguru am Loskessel an. Sie wollte absolut nicht einsehen, dass sie ihr Foto nicht mehr einwerfen durfte und beschimpfte das Känguru wenig freundlich als kleinkarierten Korinthenkacker.
Ansonsten herrschte allgemein ausgelassene Partystimmung. Die sofort in ehrfürchtiges Schweigen umschlug, als die gerade eben noch amtierende Königin „Barbara die Schöne“ - ein bebrilltes Warzenschwein mit langen blonden Haaren und einer Unmenge von Lippenstift im Gesicht - sich auf den Ratstuhl unter der Weltenesche niederließ. Sie genoss diese letzten Momente des Respektes ihr gegenüber sichtlich, doch bevor die Menge unruhig werden konnte, setzte sie bereits zu einer ihrer gefürchteten, weil ausgiebigen Reden an. Gebieterisch erhob sie die Vorderpfoten und rief mit erstaunlich tiefer Stimme:
„So höre das Volk, was die Königin zu sagen hat!”
Sie wartete, bis auch in den letzten Winkeln Ruhe eingekehrt war. „Seit nunmehr 77 Jahren, 3 Monaten, einer Woche und 5 Tagen, habe ich, Königin Barbara die Schöne, nun meine schützende Hand über dieses Volk gehalten...”
Erneut kehrte Unruhe ein, die sich von hinten nach vorne durcharbeitete.
„Was hat sie gesagt?”
„Ich weiß nicht, ich versteh’ auch nichts!”
„Kann mal einer lauter machen?”
Die Königin hielt irritiert inne, dann gebot sie dem Hofstaat ärgerlich, für eine bessere Akustik zu sorgen. Sofort wurden überall zwischen den Atlantern Lautsprecheranlagen aus dem Boden gefahren, auf denen der eine oder andere unerwartet eine Etage höher befördert wurde. Manch einer stieß sich an dem Geäst der Weltenesche über sich kräftig den Schädel.
Barbara fuhr indessen fort. „Und obgleich sich Atlantis während meiner Regentschaft um ein Vielfaches vergrößert hat, ist es mir dennoch gelungen, stets gerechte Entscheidungen im Sinne aller zu fällen und die Interessen aller gebührend zu berücksichtigen!”
„Bescheidenheit gehörte noch nie zu ihren Stärken. Leicht größenwahnsinnig, die Gute”, raunte Deak Vicki zu, die ihm verschmitzt zuzwinkerte. Auch wenn sie brav mit den anderen mit applaudierten, waren sie insgeheim doch froh, nun erst einmal einen neuen König zu bekommen.
Darauf kam Königin Barbara für ihre Verhältnisse auch schon ziemlich schnell zu sprechen.
„Doch nun genug des, wie mir scheint, durchaus gebotenen Eigenlobes. Heute nun, in der Stunde der Mittagssonne, endet meine ruhmreiche Zeit und ein neuer König wird Atlantis regieren. Wo einst in den Sagen sein Großvater Odin über die alten Götter in Asgard gebot, auf dem Ratstuhl unter der Weltenesche, wird nun Fosite sein Amt antreten. Möge auch für die Dauer seiner Regentschaft ein gutes Los gezogen werden und seine Regierungszeit mit Ruhm und Ehre gesegnet sein. Ein Hoch auf König Fosite!”
Und während das Volk, das wahrscheinlich kein Wort außer Fosite verstanden hatte, den Friesengott mit frenetischem Applaus begrüßte, sprang das ungewöhnliche Warzenschwein behende vom Thron, um für den neuen König Platz zu machen.
Langes, blondes Haar umtoste die stattliche Gestalt des Gottes, als er kraftvollen Schrittes zu Barbara hinüberkam. Am lautesten jubelte natürlich die Riege der Götter: Odin, der germanische Göttervater, der ägyptische Sonnengott Ra und all die anderen kriegten sich kaum ein. Doch auch sonst war der Beifall so überwältigend, dass Vicki der Verdacht beschlich, sie wäre wohl nicht die Einzige, die „Barbara die Schöne” nicht vermissen würde.
Ganz im Gegenteil, sie fühlte sich Fosite sogar etwas verbunden; teilten sie doch die Vorliebe für die Insel Helgoland, die in den alten Sagen gar Fositesland genannt wurde. Selbst der Zwischenfall mit der Explosion vor einigen Jahren hatte dem keinen Abbruch getan, auch wenn es sie den einen oder anderen Zauber und ein wenig Anstrengung gekostet hatte, um den Zugang nach Atlantis nach dem Big Bang wieder freizulegen.
Als König Fosite sich nach einigem Händegeschüttel und Zepterüberreichen dann endlich den Atlantern zuwenden konnte, kehrte aber schnell wieder Ruhe ein. Keiner wollte die ersten Worte des neuen Monarchen verpassen. Man erwartete viel von diesem König, der durch seine Erfahrungen als friesischer Friedensgott durchaus als Hoffnungsträger galt. Es waren schwierige Zeiten für Atlantis. Nie zuvor waren mehr Menschen der Schrift mächtig gewesen und ebenfalls nie zuvor hatten sich so viele von ihnen berufen gefühlt, ihre Phantasien niederzuschreiben. Atlantis drohte ins Unermessliche auszuufern.
Da König Fosite aber um all dies wusste, setzte seine Antrittsrede auch genau dort an.
„Liebe Atlanter!
Ich danke euch für den herzlichen Empfang, den ihr mir bereitet habt. Ich trete mein Amt zu einer Zeit an, die für alle Bewohner unserer Welt nicht leicht ist. Täglich wächst unser Volk und somit auch die Anzahl der aufeinander prallenden Interessen. Ich bin mir dieser Verantwortung durchaus bewusst. Auch die Größe unseres Reiches gerät ständig aus den Fugen, denn mit unseren neuen Mitwesen steigt auch die Zahl der vielen Welten, Mikrokosmen und Universen, die sie mit sich bringen. Erschwerend kommt natürlich hinzu, dass die Phantasie der Menschen immer obskurere Blüten treibt, so dass die Verbannungen in die Abgründe von Atlantis - ein Schaudern ging durch die Menge - allmählich Überhand nehmen und die zuständige Abteilung den Massen kaum mehr beikommt.”
König Fosite seufzte schwer. Doch dann richtete er sich zu seiner imposanten Größe auf und eine Kraft und positive Energie gingen von ihm aus, die das verunsicherte und bedrückte Volk der Atlanter mitzureißen vermochte.
Auch Vicki und Deak wussten, dass sie diesem König bedeutend mehr zutrauten als etwa der etwas abgehobenen Warzenschweindame, von manchen auch scherzhaft „Barbie” genannt, die nun als gewöhnliche Bewohnerin „in Ehren” in der ersten Reihe stand und ebenfalls begeistert zu ihrem Nachfolger aufsah.
„Nicht nur die Oberfläche und die Abgründe von Atlantis drohen aus allen Nähten zu platzen”, fuhr Fosite mit kräftiger Stimme fort. „Auch die „Ewige Bibliothek” unter dem tief reichenden Sockel unserer Welt, kann die vielen hinzukommenden Bücher und Schriften kaum mehr beherbergen, so dass der Fudnoff, „Wächter der Ewigen Bibliothek”, bereits um Rat gefragt hat.”
Ein besorgtes tausendfaches Gemurmel setzte ein. In der Bibliothek lagerte je ein Exemplar der Bücher und Geschichten, denen ein jeder Atlanter entstammte. Von den ersten in Stein gemeißelten Schriften, über Papyrus und Pergament, bis hin zum modernen Buchdruck. Jeder von ihnen war letztlich irgendwann von einem Menschen „erfunden” worden und hatte sich, dank eines mächtigen Zaubers, den keiner zu erklären vermochte, bald darauf in dieser phantastischen Welt wiedergefunden. So kam es, dass auch reale Personen und Orte sich dort wiederfanden, denn so manche Persönlichkeit wurde in einer Fantasiegeschichte eingearbeitet, was auch die Anwesenheit von Personen wie Wolfgang Amadeus Mozart erklärte, den es bestimmt zwanzig Mal in unterschiedlichen Varianten gab.
Ein Atlanter konnte nicht endgültig sterben, solange es noch ein einziges Exemplar seiner Ursprungsgeschichte gab, in der er geschaffen wurde. Kam einer von ihnen durch ein Unglück oder gar durch Mord ums Leben, musste er nur auf dem „Friedhof der Bücherleichen” warten, bis seine Geschichte irgendwo auf der Erde oder in der „Ewigen Bibliothek” gelesen wurde und er kehrte in aller Frische zurück, um da weiter zu machen, wo er aufgehört hatte. Viele Bücher auf der Erde staubten aber nur in irgendwelchen Regalen vor sich hin, ohne die Aussicht darauf, jemals gelesen zu werden und um die alten Steinplatten stand es noch schlechter, da es kaum noch Menschen gab, die sie überhaupt lesen konnten. Auch kam es vor, dass außer dem in der „Ewigen Bibliothek” erhaltenen Schriftstück, kein weiteres mehr existierte. Viele Schriften waren dem Zerfall und Bränden zum Opfer gefallen, ganze Bestände bei Bücherverbrennungen vernichtet worden. So kam es, dass der Fudnoff zum Wächter des atlantischen Archivs auserkoren wurde. Keiner wusste, woher er kam, er schien schon immer da gewesen zu sein, und es ahnte auch keiner, warum er, als einziger Atlanter überhaupt, lesen und schreiben konnte.
„Ein Atlanter liest nicht, er wird gelesen”, war eine der ersten Lebensweisheiten, die ein Neuatlanter in der Regel zu hören bekam. Es war ja nicht so, dass sie es nicht versucht hätten, doch obwohl sie jede Sprache, in der ihre Geschichten erschienen waren, perfekt beherrschten, war es keinem je gelungen, auch nur ein zusammenhängendes Wort zu lesen oder gar zu schreiben, selbst, wenn sie es in ihrer geschriebenen Persönlichkeit konnten. Lediglich Zahlen konnten sie „lesen”.
Der Fudnoff war also von großem Wert für die Atlanter, da es neben dem Lagern, Pflegen und Archivieren der Schriften auch zu seinen Aufgaben gehörte, die Texte in regelmäßigen Abständen zu lesen. Somit war die ungewöhnliche und wahrscheinlich vollständigste Schriftensammlung tief unter dem steinernen Herzen von Atlantis zu einer Art Lebensversicherung für sie geworden.
Dementsprechend groß war die Aufregung, die König Fosites Mitteilung folgte. Er ließ ihnen einen Moment Zeit, seine Worte zu verdauen, dann hob er beschwichtigend die Arme.
„Ich weiß, dass euch dies alles beunruhigt. Seid euch gewiss, dass ich mir schon seit längerem Gedanken dazu mache und euch schon bald Näheres zu meinen Plänen berichten kann.” Ruhig glitt sein Blick über die versammelte Menge.
„Meine Krönung kommt ja nicht ganz unerwartet”, fügte er lächelnd hinzu und das Volk griff den Scherz dankbar auf, um erleichtert aufzulachen. Immerhin wusste Fosite ja schon seit 77 Jahren, 3 Monaten, einer Woche und 5 Tagen, dass er König werden würde.
Deak warf Vicki einen besorgten Blick zu.
„Meinst du wirklich, das war ‘ne gute Idee mit deiner Bewerbung?”
„Ach Deak! Die Chancen, dass ich gelost werde, sind ja wohl verschwindend gering. Hast du gesehen, wie voll der Kessel schon war, als wir kamen? Und ich war ja noch lange nicht die Letzte.”
Aber das beruhigte ihren Freund nicht im Geringsten. Betreten scharrte er mit den Pfoten im Erdreich herum. Vicki sah ihn lächelnd an.
„Selbst wenn ich gewählt werden sollte. Bis ich gekrönt würde, kann König Fosite die Probleme doch schon längst im Griff haben.” Sie sah das alles ziemlich entspannt, aber Deak hatte sie noch nicht so ganz überzeugen können.
„Und wenn sie dann nächste Woche auslosen?", dachte er trotzig. „Was dann?"
König Fosite hob erneut um Ruhe bittend die Arme.
„Doch nun zu meiner ersten angenehmen Amtshandlung! Lasst uns mit der Auslosung des nächsten Krönungstermins und des zukünftigen, sowie des stellvertretenden zukünftigen Königs -”
„Oder Königin”, schallte es aus dem Publikum.
„...oder der zukünftigen Königin beginnen!”, vollendete Fosite den Satz. „Verehrtes Känguru, würdest du bitte die beiden Kessel holen und deines Amtes walten?”
Das Känguruh mit der roten Zipfelmütze hatte sein Scharmützel mit der Hexe offenbar gut überstanden. Mit Hilfe eines kleinen Zwerges, dessen Mütze es anscheinend trug, schleppte es nacheinander zwei Kessel herbei und stellte sie König Fosite zu Füßen, der nun erstmalig auf dem Ratstuhl seiner Vorväter Platz genommen hatte.
Der größere Kessel war silbern und mit wunderbaren Gravuren versehen, die unterschiedlichste Landschaften der Fabelwelt Atlantis zeigten. In dem Gefäß war für jeden Tag der kommenden 100 Jahre ein Los enthalten. Man hatte sich schon früh darauf geeinigt, die Amtszeit eines Königs auf maximal 100 Jahre zu beschränken. Auch wenn die Zeit hier weniger von Bedeutung war als bei den Menschen auf der Erde, hatte sich gezeigt, dass diese Einschränkung durchaus sinnvoll war. Im Normalfall waren auch die abtretenden Monarchen froh, von der Verantwortung nach einer gewissen Zeit wieder entbunden zu werden. Doch hatte das Los bisher noch keiner Königin und keinem König weniger als fünfzig Jahre beschert, so dass alle eine arbeitsreiche und ausgefüllte Amtszeit vorzuweisen hatten.
Nicht nur der amtierende König war immer recht gespannt, wie lange seine Regentschaft wohl dauern möge, denn irgendwann würde sicher auch mal ein jüngeres Datum gezogen.
Das Känguru rührte mit einem gewaltigen hölzernen Löffel wie in einer Suppe die Papierfetzen mit den Daten durcheinander. Als es mit seiner Arbeit zufrieden war, wandte es sich dem kleineren Kessel zu, der die „Bewerbungsfotos” all derer enthielt, die sich den verantwortungsvollen Aufgaben des Königspostens gewachsen fühlten und auf ihre Auslosung hofften. Das pure Gold des Kessels war mit unzähligen winzigen Darstellungen der „Ehemaligen” graviert. Und auch König Fosites Antlitz würde eines Tages dort prangen. Auch der Inhalt dieses Kessels wurde unter den gestrengen Augen des atlantischen Volkes kräftig durchgerührt.
„Nur noch eines, bevor wir anfangen”, sagte König Fosite, als er merkte, dass die Spannung in der Menge kaum noch zu ertragen war. „Nennt mich bitte einfach nur Fosite! Mir ging das schon als Gott ziemlich auf die Nerven, mit dieser übertriebenen Ehrerbietung und so. Ich erwarte von euch nur den nötigen Respekt, den jeder hier jedem Geschöpf entgegen bringen sollte, keine Huldigungen oder ähnliches.”
Barbara die Schöne betrachtete plötzlich angestrengt ihre lackierten Krallen. Sie hatte während ihrer Amtszeit sogar sehr großen Wert auf eben jene Ehrerbietung gelegt.
„Wenn wir uns alle an die altbewährten Regeln aus dem „Buch der ersten Tage” halten, kann ich mich als euer König um die zweifellos anstehenden Probleme kümmern.”
Hätte er noch etwas sagen wollen, es wäre im tosenden Beifall der Menge untergegangen.
„Kann es dann losgehen?”, fragte das Känguru, inzwischen ohne Mütze, dafür mit völlig falsch geknoteter Krawatte, etwas ungeduldig nach.
Lachend legte der König seine Hand auf die schmale Schulter des Tieres. „Ja, es kann losgehen!", rief er feierlich. „Lasst uns zunächst das Datum der nächsten Krönung auslosen.”
Das Känguru stand bereits hinter dem silbernen Kessel. Es krempelte seine imaginären Ärmel hoch und tauchte seine Pfote tief in die Flut aus Papierschnipseln ein. Das Volk war so leise, dass die Luft zu knistern schien. Aufreizend langsam zog das Känguru einen kleinen weißen Zettel aus dem Loskessel, faltete ihn umständlich auseinander und las für sich leise das darauf befindliche Datum. Erschrocken sah es zu Fosite, dann wieder auf den Zettel und zurück zum König.
„Was ist denn los, mein Freund?”, fragte dieser das verschreckte Tier. „Du machst ein Gesicht, als hättest du den nächsten Sonntag gezogen.” Es sollte eigentlich ein kleiner Scherz sein, doch als Fosite noch einmal in das verstörte Gesicht des Kängurus schaute, war er sich nicht mehr sicher, ob er nicht sogar voll ins Schwarze getroffen hatte. Auch in der Atlanter Bevölkerung kehrte Unruhe ein.
„Ich hab’s doch gewusst!”, meinte Deak, ohne zu wissen, was überhaupt auf dem Zettel stand. Vicki sah ihn nur Schulter zuckend an und blickte wieder erwartungsvoll zu dem nach wie vor sprachlosen Känguru, das sich nun kräftig räusperte, bevor es die Stimme erhob.
„Die nächste Krönung findet am 18. April...”, sagte es überdeutlich und legte eine dramaturgische Pause ein, bevor es die Bombe platzen ließ. „Sie findet statt am 18. April 2007!”
Fassungslose Stille breitete sich aus. Klar, irgendwann musste das passieren, aber ausgerechnet bei Fosite? Er wäre so ziemlich der erste König gewesen, der es auch in einem demokratischen Wahlverfahren geschafft hätte, die Massen zu begeistern. Zwar hatten die vorherigen Könige ihre Arbeit nicht unbedingt schlecht gemacht, doch wäre keiner von ihnen ihr Wunschkandidat gewesen. Die schrullige „Barbara die Schöne” schon mal gar nicht.
Fosite hingegen war ein weithin geachteter Atlanter und als friesischer Friedensgott geradezu bestimmt, einen solchen Job zu machen. Und jetzt das! Nur zwei Jahre und neun Tage! Das war ein sehr trauriger Rekord in der Geschichte der Fantasiewelt. Der einzige, der sich zu freuen schien, aber nur weil er recht behalten hatte, war Deak.
„Was hab ich gesagt?”, triumphierte er. „Na, was hab ich gesagt?”
Genervt verdrehte Vicki die Augen. „Ja, ja, ist ja gut, du hast ja recht bekommen, oder? Ich kann’s einfach nicht glauben, nur gute zwei Jahre, das ist jawohl ein Witz!” Die kleine Fee war außer sich.
„Noch mal, noch mal, noch mal”, skandierte die Menge aufgebracht. Mit diesem Ergebnis war anscheinend niemand zufrieden. Vicki und Deak blickten zu Fosite, der auch etwas irritiert wirkte, doch ganz staatsmännisch reagierte.
„Meine lieben Atlanter, so beruhigt euch doch bitte wieder. Wir wollen doch die alten Traditionen nicht gleich brechen, bloß weil wir uns vielleicht etwas Anderes erwünscht hätten. Außerdem wisst ihr ja noch gar nicht, ob ihr mit mir als eurem neuen König überhaupt zufrieden seit! Wer weiß, vielleicht werden euch ja sogar die zwei Jahre am Ende noch zu lang sein!” Fosite gab sich alle Mühe glaubwürdig und überzeugend rüber zu kommen, aber auch er war unverkennbar enttäuscht. Wie sollte er in zwei Jahren die dringend nötigen Reformen ans Laufen bringen, so dass er sein Amt ruhigen Gewissens einem Nachfolger übergeben könnte? Als er dem Känguru schließlich gebot, mit der Auslosung des künftigen Königs oder der Königin zu beginnen, hielt das Volk geradezu den Atem an.
Freundlicherweise sparte das Beuteltier sich diesmal das Brimborium drum herum, langte beherzt in den goldenen Kessel, zupfte eines der zusammengefalteten Fotos aus der Mitte und betrachtete es wieder erstmal still für sich. Erleichtert entspannte sich sein Gesicht und es wandte sich den Atlantern zu. Nun machte es die Sache doch wieder spannend. „Unsere zukünftige Königin, denn eine Königin wird es wieder sein, ist...”
„Nun mach schon”, knurrte Deak ungeduldig, der bereits Schlimmstes befürchtete.
„Das Los hat entschieden, dass es Prinzessin Vicki XII. sein wird!”
Die Atlanter atmeten erleichtert auf. Damit konnten sie leben. Vicki war allseits recht beliebt, wenn auch nicht ganz so, wie Fosite, aber sie würde ihre Arbeit sicher auch gut machen.
„Da hast du’s! So ein Mist, da hast du’s!” Deak fluchte entsetzt vor sich hin.
„Wie wär’s mit ‘ner Gratulation, statt mit lauter Schwarzseherei?” Vicki zog eine beleidigte Flunsch. Insgeheim war sie sich allerdings auch nicht mehr so ganz sicher, ob ihre Auslosung unter den gegebenen Umständen ein Grund zum Feiern sei.
Fosite hingegen klatschte begeistert in die Hände und zunehmend fiel auch das Volk mit in den Applaus ein. Der Boden auf dem Festplatz begann zu beben und die Zweige der Weltenesche drohten abzubrechen, so ein Spektakel veranstalteten die Atlanter, die sich im dichten Geäst einen guten Platz gesucht hatten. Als Fosite Vicki dann zu sich nach vorne bat, um ihr zu gratulieren, jubelte die Menge bereits ausgelassen und selbst Deak konnte wieder lächeln. Vicki flog Luftrollen schlagend und Funken sprühend eine Ehrenrunde über die Zuschauer und ließ sich dann auf der Lehne des Ratstuhles nieder, während Fosite dem Känguru ein Zeichen gab, nun mit der Ziehung des stellvertretenden zukünftigen Königs weiterzumachen.
Wieder langte es beherzt in den goldenen Kessel, zog einen weiteren Zettel heraus und gab das Ergebnis diesmal sofort bekannt. Es wollte die Sache wohl endlich hinter sich bringen.
„Der stellvertretende zukünftige König von Atlantis ist - ”, und seine Stimme erstarb, während es den Zettel auseinander faltete und das darauf befindliche Bild erblickte. „Es ist Birger, der Rochusmensch!”
Gerade mal drei Atlanter brachen nun in Jubel aus, nämlich die drei Unholde, die gar nicht glauben konnten, welches Glück einem von ihnen beschieden war.
Der Rest der Atlanter schwieg jedoch betroffen. Zwar hatten die Rochusmenschen sich nach ihrer Materialisierung öffentlich zu den Regeln aus dem „Buch der ersten Tage” bekannt, doch ganz geheuer waren die drei bislang keinem gewesen. Ganz im Gegensatz zur klangvollen Bezeichnung ihrer Gattung hatten die drei selber fast schon harmlos anmutende Namen: Roerd, Birger und Urs waren nicht gerade geeignet, einen das Gruseln zu lehren, doch wenn man vor ihnen stand, sah das Ganze schon anders aus. Auch wenn man ihnen nichts nachweisen konnte und sie alles daransetzten, ein scheinbar redliches Leben zu führen, wurden sie doch mit einigen unschönen Ereignissen in Verbindung gebracht. Und so glaubte keiner daran, dass eine eventuelle Regentschaft eines Rochusmenschen ihnen etwas Gutes bringen würde. Das war die wohl ungewöhnlichste und unerfreulichste Auslosung, die Atlantis bisher erlebt hatte.
Manch einer wagte bereits laut an dem althergebrachten System zu zweifeln und forderte nun „ordentliche” Wahlen.
Fosite schluckte kräftig, während Vicki mit vor Entsetzen starrem Gesicht zu Deak hinüber spähte, der nun wieder sein „Ich-hab’s-ja-gewusst-Gesicht” aufgesetzt hatte.
Noch bevor ihn Fosite überhaupt dazu aufgefordert hatte, kam Birger schon mit giftgrün leuchtenden Augen auf ihn zugeflogen, um seine Gratulation entgegen zu nehmen. Halbherzig klatschte nun auch der eine oder andere Atlanter, wohl mehr aus Höflichkeit als aus Überzeugung, unterließ dies aber sofort wieder, als er die bösen Blicke der Menge auf sich zog.
„Nun ist es also entschieden”, wandte sich Fosite an das Volk und versuchte die peinliche Stille zu überbrücken, während der Rochusmensch und Vicki sich giftig anfunkelten. „So ist es also entschieden”, wiederholte er mit etwas kräftigerer Stimme. „Drum lasst uns nun mit dem Fest beginnen!”
Und während fröhliche Musik aufspielte und fleißige Hände Speisen und Getränke herbei schafften, verbrachten die drei Hauptdarsteller den restlichen Tag damit, Gratulations - und Beileidsbekundungen sowie hunderte guter Ratschläge entgegen zu nehmen.
Ein paar Tage später, als Vicki sich wieder durch Atlantis bewegen konnte ohne gleich von Scharen belagert zu werden, traf sie sich mit Deak, um ein paar entspannte Stunden mit ihm zu verbringen. Doch der kleine Wehrdackel war alles andere als entspannt. Aufgeregt kam er auf seinen kurzen Beinen angetrippelt und konnte vor lauter Atemlosigkeit kaum sprechen.
„Vicki! Du musst - sofort verschwinden!”
„Bitte, was muss ich?” Verständnislos sah die kleine Fee ihren japsenden Freund an.
Deak war so aufgeregt, dass er kaum einen vernünftigen Satz zustande brachte. „Du musst sofort abtauchen! Verschwinden! Sofort! Große Gefahr...”
Vicki landete auf einem etwas größeren Stein am Wegesrand und streichelte ihren Freund beruhigend über das schweißnasse Fell. „Du meine Güte, jetzt komm erstmal zu dir. Was ist denn nur passiert?”
„Die Rochusmenschen! Große Gefahr für dich, sofort abhauen hier...”
Deak war völlig von der Rolle, soviel war klar. Er führte Vicki an eine „abhörsichere” Stelle und begann nach einer kurzen Verschnaufpause mit seinem Bericht.
Auf der Suche nach einer geeigneten Stelle zum Wasser lassen sei er zufällig auf die Rochusmenschen getroffen und habe unfreiwillig ihr Gespräch belauscht, erklärte er, und was er dabei zu hören bekommen hatte, ließ ihm nachträglich noch das Blut in den Adern gefrieren. Ein Attentat auf sie, Vicki XII., habe man vor, einen Anschlag auf das geordnete System von Atlantis und sogar die Herrschaft über die Welt der Menschen würden sie planen. Vicki war, wie so oft in den letzten Tagen, sprachlos vor Entsetzen.
„Wir müssen sofort zu König Fosite”, beschloss sie, als der Wehrdackel seine Ausführungen beendet hatte. „Er muss doch was unternehmen können!” Und augenblicklich machten sie sich auf den Weg zum Schloss des Regenten.
„Meine lieben Freunde”, begrüßte sie Fosite herzlich, als sie Glanzheim, den Palast des Königs, betraten. Der atlantischen Tradition entsprechend hatte er ihn sich in der ersten Nacht seiner Regentschaft erträumt und damit das pinke Schloss von Barbara ersetzt hatte. „Was kann ich für euch tun?”
Noch halb unter Schock stehend, berichteten Deak und die kleine Fee ihm, was sie in Erfahrung gebracht hatten. Doch offenbar trafen diese Informationen den König nicht so unvorbereitet wie es Deak und Vicki erwischt hatte.
„Ja”, setzte der König unsicher an. „Ja, ich habe auch so etwas gehört.”
„Ich beantrage die sofortige Verbannung der Rochusmenschen in die Abgründe!”, rief Vicki aufgebracht. „Die haben doch hier nichts mehr verloren!”
„Die Auslosung muss für ungültig erklärt werden”, pflichtete ihr der Wehrdackel entrüstet bei. „Wer weiß, ob die nicht da schon ihre Finger im Spiel hatten!”
Traurig schüttelte Fosite den Kopf. „Glaubt mir, ich bin auch besorgt. Aber für eine Verbannung haben wir nicht genügend Beweise.”
„Ich glaube euch selbstverständlich jedes Wort”, fügte er hastig hinzu, als er ihre ungläubigen Gesichter sah. „Aber leider reicht die Beweislage nicht aus, um eine Verbannung auszusprechen.”
„Meine Güte, du bist König! Wenn nicht du, wer soll dann etwas tun können?” Vicki konnte einfach nicht glauben, was sie da hörte.
„Es tut mir leid. Wir können vorerst nicht viel tun. Sie würden behaupten, dass wir nur Birgers eventuelle Krönung verhindern wollen. Jeder weiß, dass wir ihnen gegenüber „nicht wohlgesonnen“ sind. Wir können die Rochusmenschen nur unter Beobachtung halten und darauf hoffen, dass sie einen Fehler machen, der eine Verbannung rechtfertigt.”
„Und du,” wandte er sich an Vicki. „Du musst einfach verdammt gut auf dich aufpassen!”
Fassungslos starrten die beiden Fosite an und Deak knurrte leise.
„Ihr kennt den Zauber, der auf unserer Welt liegt. Nur, wenn wir uns an die uralten Gesetze halten, kann Atlantis weiter so bestehen, wie wir es kennen.”
Doch Vicki hörte ihm schon gar nicht mehr zu. In ihrem hübschen Kopf braute sich bereits ein unerhörter Plan zusammen. Ihr Weg würde sie wieder einmal in die Welt der Menschen führen und dort würde sie sich Hilfe holen, um ihren Plan in die Tat umzusetzen.