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Eine Nacht wie ein Traum

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Endlich, die Dünenfähre!

In Gedanken versunken hatte Paul noch eine Weile an seinem Feuerstein herumgespielt und sich dann doch noch getraut, sich in Richtung „Friedhof der Namenlosen“ umzudrehen. Und da er nichts Ungewöhnliches hatte erkennen können, war er zu dem Schluss gekommen, es müsse doch an den Nachwirkungen seiner ersten Exkursion in die Welt der alkoholischen Getränke gelegen haben. Kaum hatte die Dünenfähre angelegt und die schnatternde Schar Touristen sowie einige Vogelkundler auf die Düne entlassen, da kam er sich fast schon etwas albern vor, überhaupt in Erwägung gezogen zu haben, Prinzessin Vicki XII. und der Rochusmensch seien Realität gewesen.

Und doch war ihm alles so echt vorgekommen.

Was, wenn...?

„Aber nein, Feierabend jetzt!", ermahnte Paul sich selber. „Schluss mit dem Theater! Ich fahre jetzt rüber, esse was und dann wird sich schon alles aufklären!"

Er bestieg die Dünenfähre und stellte fest, dass zumindest die Schmerzen in seinen Oberschenkeln Realität waren. Gerannt war er also tatsächlich.

Kaum hatte das kleine Boot abgelegt, wanderte seine Hand doch wieder in Richtung Kette und er befühlte noch einmal den Stein. Er fühlte sich ganz warm an, als sei er durch die Begegnung mit der Fee irgendwie „aktiviert” worden. Auch ein ganz leichter, fließender Schimmer schien von dem Material auszugehen. Dem Leuchten der kleinen Fee nicht unähnlich...

„Schluss jetzt mit dem Theater”, rief Paul noch einmal, als könne er so die unerwünschten Gedanken verscheuchen. „Ich habe einfach zu viele Geschichten gelesen!”

Da er der einzige Fahrgast war und der Motor des kleinen Bootes kräftig röhrte, bemerkte niemand sein Selbstgespräch.

Aber trotz der Absicht, das Ganze einfach zu vergessen, nahm er sich gleich erstmal vor, sich mit entsprechender Lektüre über Atlantis einzudecken.

Rein interesse halber selbstverständlich.

Ein wenig zögernd betrat Paul kurz darauf das Ferienappartement. Er stellte sich mit trotziger Miene vor den Garderobenspiegel, als wolle er klarstellen, dass er das sehen möchte, was er morgens noch gesehen hatte: einen mittelgroßen, sportlichen Zwölfjährigen mit sehr langen, blonden Haaren, die ihm nicht erst heute Spott und Hohn eingebracht hatten. Aber daran war er gewöhnt. Er trug die Haare so seit seinem fünften Lebensjahr und sie gehörten einfach zu ihm, wie seine braunen Augen und die Zahnlücke zwischen den oberen Schneidezähnen.

Freundlicherweise zeigte ihm der Spiegel auch all dies. Er war weder um Jahre gealtert, noch rollten seine Augen wie im Wahn umher, wie er insgeheim befürchtet hatte. Nein, er war immer noch er, ganz so, wie er sein sollte, nur ein wenig blass um die Nase vielleicht, was ihm jedoch in Anbetracht der Umstände auch vollkommen gerechtfertigt erschien.

Er atmete noch einmal tief durch, dann betrat er die angrenzende Wohnküche, in der er seine Eltern vermutete. Paul nannte sie immer Ältern, um sie zu ärgern, aber mittlerweile war das mehr schon eine lieb gewonnene Angewohnheit als ein Ärgernis. Doch als er den Raum betrat, stellte er fest, dass seine Mutter alleine war. Sie begrüßte ihn lächelnd und natürlich, wie immer, mit einem Buch in der Hand.

„Na, mein Schatz, noch alle Namenlosen da?” Pauls Mutter war eine etwas rundliche und gemütliche Frau Ende dreißig, mit langen, schon leicht ergrauten Haaren und immer guter Laune.

„Ja, ja, alle angetreten zum Rapport”, grinste Paul schwächlich zurück.

Besorgt musterte seine Mutter ihn. „Was ist los mit dir, du bist so blass? Ist dir die Überfahrt nicht bekommen?”

Musst du gerade sagen, dachte Paul entrüstet. Wer ist denn jedes Mal schon bei Windstärke zwei seekrank? Das bist doch wohl du! Aber er war auch dankbar für die mundgerechte Ausrede, also brummte er irgendeine unverständliche Zustimmung.

Nur zur Sicherheit natürlich, schloss er gleich mal unauffällig alle Fenster. Nur für den Fall, dass es doch kleine Feen gab und nur für den Fall, dass diese noch mal versuchen könnten, Kontakt zu ihm aufzunehmen.

„Möchtest du etwas essen? Oder einen Tee?”

„Tee wäre gut.” Gedankenverloren goss er sich eine Tasse ein, nippte daran, verbrühte sich prompt und zog leise fluchend von dannen. Sein Blick fiel auf das Bücherregal, das, wie in jeder Ferienwohnung, die sie bisher bewohnt hatten, mit einschlägiger Helgoland-Literatur bestückt war und las die Titel.

„Verwehte Spuren” von Benno Krebs, „Auf Helgoland ist alles anders” von H.P. Rickmers, Fotobände von Franz Schensky, Tatsachenberichte, Mythen und Sagen... Die hatte er, genau wie seine Mutter, schon längst alle verschlungen.

Die einzige deutsche Hochseeinsel hatte schließlich eine interessante Geschichte zu bieten. Etwa sechzig Kilometer von der deutschen Küste entfernt, trotzte der rote Bundsandsteinfelsen seit tausenden Jahren den Stürmen der Nordsee und war im Laufe der Zeit auf ein Geringes seiner ursprünglichen Größe zusammengeschrumpft. Auch die einstige Verbindung zwischen der Hauptinsel und der vorgelagerten Düne war schon seit Jahrhunderten gebrochen und mittlerweile trennte die beiden eine breite Fahrrinne, in der die Seebäderschiffe im Sommer vor Anker lagen, während die Gäste das letzte Stück zur Insel mit dem “Inseltaxi”, den traditionellen Börtebooten, transportiert wurden.

Im Laufe der Zeit gehörte die Insel mal den Dänen, mal den Engländern, bis hin zu den Deutschen. Unter deren Zugehörigkeit hatte die Insel in den beiden Weltkriegen einiges zu erdulden und war sogar zweimal vollständig evakuiert worden. Der „Big Bang” war dann trauriger Höhepunkt dieser Ereignisse und erst mit dem Wiederaufbau in den fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts konnte die Insel wieder besiedelt werden. Inzwischen war sie ein modernes Hochseebad geworden und bot unzähligen Urlaubern eine grandiose, einmalige Landschaft mit vielen seltenen Pflanzen und Tieren.

All dies wusste Paul bereits über die Insel und ihm kamen auch wieder die Geschichten über Atlantis und Helgoland in den Sinn. Sollte die Insel tatsächlich sogar über einen Zugang zu diesem sagenumwobenen Ort verfügen? Was wusste er eigentlich über Atlantis?

Die unterschiedlichsten Theorien hatte er schon gehört. Manche hielten es für die „Wiege der Menschheit”, von der alles Leben auf Erden ausgegangen sein soll. Andere waren davon überzeugt, die Menschen seien ein Experiment von Außerirdischen und deren Basisstation sei Atlantis gewesen. Filme hatte Paul gesehen, in denen das verschollene Eiland als mythischer Ort dargestellt wurde, wo Menschen und Meerjungfrauen zwischen altgriechisch anmutenden Gebäuden friedlich miteinander lebten und vom Meereskönig regiert wurden. Auch, dass es die verschiedensten Vorstellungen davon gab, wo Atlantis gelegen haben könnte, hatte er gehört. Eine davon war natürlich auch jene Sage, laut der das Eiland ganz in der Nähe von Helgoland gelegen haben soll. Gerade diese Theorie war ihm immer am unwahrscheinlichsten vorgekommen. Wie oft war er schon hier gewesen und hatte außer den Mythen nie etwas entdeckt, was wie eine Verbindung zwischen den beiden Inseln aussah. Und er hatte wahrlich jeden erreichbaren Winkel der Insel erkundet.

Im Berginneren solle der Zugang liegen, hatte die Fee berichtet. Irgendwie wünschte er sich die kleine Fabelgestalt jetzt doch herbei. Hatte er doch mindestens tausend Fragen an sie. Zwar klammerte er sich noch immer an der Hoffnung fest, sich das alles nur eingebildet zu haben und vielleicht war er ja auch einfach nur kurz auf der Bank eingenickt, eingeschläfert von der beruhigenden Geräuschkulisse des ihn umgebenden Meeres und hatte geträumt.

Bestimmt sogar.

Aber seine Neugier war geweckt. Wieder befingerte er seine merkwürdig erwärmte Feuersteinkette und schaute durch das Fenster hinüber zur Düne. Und glaubte plötzlich, sein Herz bliebe stehen! Das dunkle, schwarze Etwas, das da über den Hügeln der Düne tobte, diese Mischung aus Ungeheuer, Dämon und Ausgeburt eines Alptraumes, das war mit Sicherheit kein Wolkenfetzen oder dergleichen.

Es war, wie Vicki es angstvoll genannt hatte - und in Ermangelung eines passenderen Wortes nannte er es auch so - ein Rochusmensch.

Paul rieb sich kräftig über die Augen und starrte noch einmal hin, doch der Anblick hatte sich nicht verändert. Mal abgesehen von den Sternchen, die er jetzt zusätzlich noch vom Reiben der Augen aufblitzen sah. Trotz der sicheren Entfernung zur Düne beschlich ihn sofort wieder die gleiche Angst vor dem grausigen Wesen, das ihn auch schon auf der Düne befallen hatte. Er war zwar weder ein Held noch ein besonders ängstlicher Typ, aber dieses Geschöpf war eindeutig einem Alptraum entsprungen und ganz und gar nicht geraten, Fröhlichkeit zu verbreiten.

Er schaute zu seiner Mutter hinüber, die den uralten Rocksong, der gerade im Radio lief, mitträllerte, blickte zur Düne, sah den Rochusmenschen und sah wieder zu seiner Mutter. Auch sie hatte kurz aus dem Fenster gesehen, schien aber nicht wahrzunehmen, was sich da drüben abspielte. Vielleicht hielt sie es auch einfach für eine Laune der Natur. Dennoch bemerkte sie seinen fiebrigen Blick und wirkte etwas bestürzt.

„Was ist denn nur los mit dir, mein Schatz? Du siehst aus, als hättest du ein Gespenst gesehen!”

Sollte er ihr etwa sagen, dass genau das sein Problem war? Kurz war er geneigt, ihr alles zu erzählen, von Prinzessin Vicki XII., von dem geheimen Zugang nach Atlantis und von dem Rochusmenschen. Doch eben dieser war nun verschwunden, wie Paul mit einem erneuten Blick zur Düne hinüber feststellen musste. Er schluckte einmal kräftig, bevor er antworten konnte. „Nee, nee, alles in Ordnung. Mir ist nur noch ein bisschen übel. Du weißt ja, die Überfahrt gerade.”

„Ruh’ dich noch was aus und trink endlich deinen Tee, dann geht es dir bestimmt bald besser.”

Sie lächelte Paul aufmunternd zu und ließ sich mit dem Buch in der Hand auf dem Sofa nieder.

Sie hätte es mir sowieso nicht geglaubt, dachte Paul betrübt. Sie hätte mir nur wieder wohlwollend die Hand auf die Stirn gelegt, um meinen Fieberpegel zu testen und hätte mir gesagt, mit ein bisschen Bettruhe wäre alles wieder in Ordnung.

Aber konnte er es ihr verübeln? Wer sollte ihm die Geschichte überhaupt glauben? Er war sich sicher, dass nicht einmal sein bester Freund Aman ihm das abgekauft hätte.

„Wo ist eigentlich Papa?”, fragte Paul.

„Auch zur Düne, Bernstein suchen.”

Vor Schreck prustete Paul den halben Tee auf die Fensterscheibe, als ihm klar wurde, was seine Mutter da gerade gesagt hatte.

„Paul!! Pass doch auf!”

„T’schuldigung, war noch zu heiß”, beeilte er sich zu sagen und starrte gebannt rüber zur Düne, während er unbeholfen mit dem Ärmel den Tee auf der Scheibe verteilte.

Entrüstet hielt seine Mutter ihm ein Wischtuch unter die Nase. „Kannst du bitte einen Lappen nehmen?”

„T’schuldigung, t’schuldigung”, stammelte er vor sich hin und entfernte endlich die schmierigen Streifen von dem Fenster.

„Was ist denn nur los mit dir? Du wirst doch nicht etwa krank?”

Oh nein, jetzt tat sie es doch.

Ehe Paul sich versah, hatte sie auch schon ihre Hand auf seine Stirn gelegt und mit wissendem Blick kurz innegehalten. Dann strich sie ihm über das Haar, zuckte ratlos mit den Schultern und stellte mit Kennermiene fest, dass er aber kein Fieber habe.

Eilig wandte Paul sich in Richtung Ausgang. „Ich geh’ noch kurz was an die Luft, vielleicht geht es dann besser.” In Windeseile zog er sich an und flüchtete regelrecht aus der Wohnung. Wieder rasten die Gedanken durch seinen Kopf, der allmählich zu platzen schien.

So viel zum Thema Urlaub und entspannen, dachte er genervt und humpelte, so schnell es sein monströser Muskelkater erlaubte, Richtung Nord-Ost-Gelände, wo die Dünenfähre im Moment immer an- und ablegte.

Mein Vater ist auf der Düne. Der Rochusmensch ist auf der Düne. Womöglich ist Vicki auch noch drüben. Vicki!, dachte Paul. Was ist das eigentlich für ein komischer Name für eine Fee?

Er nahm sich vor, sie danach zu fragen, wenn er sie das nächste Mal sähe. Denn, dass er sie wiedersähe, daran zweifelte er mittlerweile nicht mehr. Der scheinbar vor Wut rasende Rochusmensch, den er noch vor Minuten gesehen hatte, zeigte ihm deutlich, dass er wohl doch keine Tagträume oder Halluzinationen hatte. Und so, wie das Monstrum getobt hatte, war es ihm wohl noch nicht gelungen, die kleine Fee zu schnappen.

Was auch immer es mit ihr vorhatte.

Da er im Moment sowieso nichts tun konnte und das unheimliche Wesen nicht mehr zu sehen war, beschloss Paul zunächst einmal die Helgoländer Bücherei aufzusuchen, neben der er quasi sowieso gerade stand. Die freundliche Frau darin hatte ihm schon häufig gute Bücher empfohlen. Sie wüsste sicherlich auch, wo er etwas über Atlantis finden konnte, sei es nun in Form von wissenschaftlichen Berichten oder Sagen und Mythen. Außerdem hatte die Bücherei auch Fenster mit Dünenblick, so dass er gleichzeitig noch unauffällig das Geschehen dort drüben im Auge behalten konnte.

Eine Stunde und unzählige Blicke aus dem Fenster später, sah Paul die letzte Dünenfähre anschippern. Er wankte mit einem gefährlich hohen Stapel Büchern aus dem Gebäude neben dem Anlegesteg und lief seinem offenbar wohlbehaltenen Vater in die Arme. Auch er ging stramm auf die Vierzig zu, war jedoch, ähnlich wie Paul, eher schlank und sportlich.

„Und, was gefunden?”, fragte Paul und kämpfte unter der Last der Bücher mit dem Gleichgewicht.

„Nö, wie immer”, gab sein Vater resigniert zurück. Seit Jahren schon suchte und wühlte er nach Stürmen im angeschwemmten Tang nach Bernstein, aber gefunden hatte er, trotz zahlreicher Tipps von erfahrenen Helgoländern, bislang noch nichts. „Aber um so besser, so habe ich wenigstens die Hände frei, um dir mit deinen Büchern zu helfen. Was hast du denn mit all dem Kram vor? Du weißt, dass wir nur noch drei Tage hier sind? Wann willst du denn das alles noch lesen?”

So viele Fragen.

„Och”, druckste Paul herum. „Wollte nur was rumstöbern. Ein bisschen was über Atlantis lesen und so.”

„Atlantis?” Ungläubig starrte sein Vater ihn an, während Paul ihm dankbar gut die Hälfte der Bücher in den Arm drückte. „Wie kommst du denn auf Atlantis?”

„Nun ja, es heißt doch, Atlantis sei damals in der Nähe von Helgoland untergegangen und jetzt bin ich halt neugierig, ob da was dran ist.”

„Über Helgoland weiß ich doch schon alles”, fügte er hinzu. „Und wenn nicht, haben wir doch noch ein wandelndes Lexikon zu Hause rumlaufen.”

„In der Tat!”, meinte sein Vater grinsend. „Es gibt wohl kein noch so unbedeutendes Ereignis, das auch nur im entferntesten mit diesem wunderbaren Eiland zu tun hat, zu dem deine Mutter dir nicht sofort eine Doktorarbeit abliefern kann.”

„Dabei bin ich doch sonst immer der Klugscheißer”, lachte Paul, froh über den Themenwechsel.

„Nicht war, Justus Jonas?”, setzte sein Vater noch eins drauf. Paul neigte etwas dazu, seiner Umwelt mit seiner Besserwisserei auf den Nerv zu gehen, was ihm den Spitznamen eingebracht hatte. Auch der erste Detektiv der „Drei ???” war bekannt dafür, alles zu wissen und das vor allem besser als andere.

Lachend betrat Paul mit seinem Vater die Wohnung, in der es bereits nach Abendessen duftete.

„Na, geht’s wieder besser?”, erkundigte Pauls Mutter sich sogleich. Erstaunt sah sein Vater zu ihm hinüber. „Wieso, was war denn los?”

Nicht noch einer, dachte Paul und rückte vorsorglich schon mal etwas auf Abstand, bevor sein Vater auch noch auf die Idee käme, seine Stirn nach Spuren von Fieber zu untersuchen.

„Nix, alles in Butter”, gab er zurück und bemühte sich, einen möglichst gesunden Eindruck zu machen.

Eine halbe Stunde später saßen alle drei gesättigt und zufrieden im Wohnzimmer, und während seine Eltern die Nachrichten sahen, schaute Paul noch einmal verstohlen aus dem Fenster. Mittlerweile war es allerdings so dunkel geworden, dass er selbst eine ganze Armee von den monströsen Rochusmenschen nicht mehr hätte erkennen können. Daher entschied er, sich erst einmal seiner Lektüre aus der Bücherei zu widmen, schnappte sich das erstbeste Buch und begann eifrig zu blättern.

Doch es dauerte nicht lange, da musste er feststellen, dass zwar scheinbar jeder Schriftsteller, der etwas auf sich hielt, seine Theorie zum Thema auf Papier gebracht hatte, doch der Inhalt war eigentlich immer das Gleiche: Wiege der Menschheit, Basis für Außerirdische und deren Experimente, mythischer Ort, usw. Nichts Neues jedenfalls. Einer hatte sogar versucht, gleich alle Theorien miteinander zu verknüpfen, aber Paul merkte schnell, dass einer nur beim anderen abgeschrieben zu haben schien. Am glaubwürdigsten erschien ihm da fast noch eine These, die Wissenschaftler seit einiger Zeit verfolgten und die besagte, Atlantis könne auch ein Synonym für Troja sein.

Das brachte ihn jedenfalls alles nicht weiter. Nichts von dem erklärte, warum hier auf einmal Feen und Dämonen auftauchten. Ärgerlich pfefferte er das Buch zurück neben den Stapel und griff nach dem nächsten. Darin ging es zwar nicht konkret um Helgoland, sondern eigentlich um die germanische Mythologie, aber der Name Fosite sagte ihm als Helgolandexperten natürlich etwas und so blätterte er interessiert darin herum.

Fosite war den germanischen Sagen zufolge ein friesischer Friedensgott, den die Helgoländer bis zur Einführung des christlichen Glaubens lange Zeit verehrten. Nicht umsonst las man in alten Schriften über die Insel auch von Fositesland und Heiligland, bevor der Name Helgoland überhaupt auftaucht.

Fosite, der Enkel des Göttervaters Odin, hielt sich demnach oft auf dem roten Felsen auf, wenn er auf Erden wandelte. Ja, er hatte die Insel sogar erst rot gefärbt, so dass es an seine Heimstatt Glanzheim im Himmel, der Asgard genannt wurde, erinnern sollte. Laut Pauls Lektüre ging sogar die Sage um, Fosite habe auch die vielen Vögel erschaffen, die man noch heute auf Helgoland beobachten konnte.

Auch von den anderen Göttern war dort Interessantes zu lesen. Von der ewigen Feindschaft Odins mit dem listenreichen Loki, durch dessen Intrigen es letztlich zur sogenannten Götterdämmerung, dem alles umfassenden Weltenbrand gekommen sei. Loki, der mit der Riesin Angurboda drei Kinder gezeugt haben soll, war demnach die Totengöttin Hel, die Mitgardschlange und der Wolf Fenrir zu verdanken, die bis in heutige Zeit in vielen Geschichten auftauchen. Nur Atlantis tauchte in diesem Buch gar nicht auf.

Noch einmal glitt Pauls Blick über das reich bestückte Bücherregal des Appartements. Im ersten Moment dachte er, seine Augen würden ihm einen Streich spielen. Nachdem er so viel über die sagenhafte Insel gelesen hatte, sah er überall nur noch diesen Begriff vor Augen: „Atlantis!"

Aber das kleine blaue Bändchen, das da zwischen den Büchern steckte, trug tatsächlich den Titel „Atlantis’ Untergang - Der griechische Philosoph Plato und Nordfriesland."

Rasch zog er das nur wenige Seiten umfassende Heft hervor und begann zu lesen. Das war genau das, wonach er gesucht hatte. Da stapelten sich hunderte Seiten dicke Bücher, die ihm nicht hatten helfen können und jetzt lag die Antwort auf seine Fragen womöglich in diesem unscheinbaren Büchlein.

Es handelte von dem griechischen Philosophen Plato und seiner Theorie, nach der die Insel infolge einer Naturkatastrophe binnen einer Nacht im Meer versunken sei und der Ansicht anderer Denker, Plato habe Atlantis als Bild für eine fiktive, seiner Meinung nach perfekte Gesellschaft genutzt, die später einfach als Tatsache ausgelegt wurde.

Außerdem listete der Autor, ein gewisser Albert Panten, zahlreiche Beweise auf, warum Atlantis, wenn es denn tatsächlich existiert habe, ganz bestimmt nicht in der Nordsee - und damit in der Nähe Helgolands gelegen habe.

Das war nun nicht das, was Paul sich von der Lektüre dieses viel versprechenden Heftchens erhofft hatte!

Auch „Atlantis’ Untergang” landete, etwas unvorsichtiger, als es sonst Pauls Art war, auf dem Bücherturm. Er beschloss, dass es für’s Erste genug wäre und stellte fest, dass das Papiergeraschel offenbar eine einschläfernde Wirkung auf seine Eltern gehabt haben musste. Seine Mutter lag friedlich schlummernd auf dem Sofa und sein Vater schnarchte ausgiebigst im Sessel.

Tja, Seeluft macht eben müde, dachte er und musste selber herzhaft gähnen. Du meine Güte, schon halb zwölf?

Erschrocken blickte Paul auf die Uhr. Die letzten Stunden waren einfach nur verflogen, während er in den Wälzern gestöbert hatte.

Vorsichtig legte er das Buch, das seiner Mutter aus der Hand gefallen war, - natürlich ein Buch über Helgoland -, auf den Tisch und pustete die Kerzen aus. Auf Zehenspitzen schlich er sich aus dem Zimmer und legte sich in sein Bett. Er starrte die Decke über sich an und ließ noch einmal den Tag Revue passieren.

Kaum bin ich mal alleine unterwegs ...

Dann war er auch schon eingeschlafen.

Die Sonne schien, die Möwen und Basstölpel schrien aufgeregt durcheinander und Paul saß auf einer Bank am Lummenfelsen, der Hauptbrutstätte für die vielen Vögel, die Helgoland während der Brutzeit bevölkerten. Er war gerade an der “Langen Anna” vorbei gekommen, dem letzten freistehenden Felsturm und Wahrzeichen der Insel, war Frau Piel, der geklonten Frau, ungefähr zum hundertsten Mal an diesem Tag begegnet und gönnte sich nun erstmal eine kleine Pause.

Konnte es etwas Schöneres geben als hier oben zu sitzen, auf dem knapp 60 Meter hohen roten Felsen? Egal, in welche Richtung man sah, nur die endlose Weite der Nordsee vor Augen und die herrliche Stille der autofreien Insel genießend? Nur die Westküste bei Sturm war schöner. Diese Liebe hatte er eindeutig schon von seinen Eltern mit in die Wiege gelegt bekommen.

In meinem nächsten Leben werde ich ein Baßtölpel, beschloss Paul, als er den eleganten Flug der hübschen Vögel mit dem gelb gefiederten Kopf beobachtete.

Langsam stand er auf, streckte sich kräftig und beschloss zur Wohnung zurück zu gehen, bevor die ganzen Tagesgäste und Schnäppchenjäger die Insel um die Mittagszeit wieder überrennen würden. Da hielt man es als Dauergast ähnlich wie die Insulaner. Wenn die Schiffe mit den Tagestouristen kamen, verzog sich jeder, der die Möglichkeit dazu hatte, nach Hause oder auf die Düne. Nach ein paar Stunden hatte man die Insel wieder für sich.

Es war das erste Mal, dass sie das Eiland um diese Jahreszeit besuchten, aber der Winter, mit seinen Stürmen und meterhohen Wellen war ihnen immer am liebsten gewesen. Selbst seiner Mutter, die das Schiff nach der Überfahrt vom Festland immer mehr tot als lebendig verließ.

„Das nehme ich gerne in Kauf”, pflegte sie dann immer zu sagen und verschwand wieder auf der Toilette.

Während ihm diese Gedanken durch den Kopf gingen und er unwillkürlich etwas grinsen musste, machte er sich auf den Heimweg.

Nach ein paar Metern flatterte ihm ein rosa schillernder Falter um die Ohren.

Ein verdammt hartnäckiger Falter.

Der gar kein Falter war, sondern eine kleine geflügelte Fee mit langen, blonden Haaren, einem puppenhaften, schönen Gesicht und dem merkwürdigen Namen Prinzessin Vicki XII.!

Wie angewurzelt blieb Paul stehen, als er dies feststellte.

„Hilf mir! Bitte hilf mir!”, piepste das zarte Stimmchen. „Hilf mir, ich schaffe es nicht alleine. Der Rochusmensch...”

Und kaum hatte sie dies ausgesprochen, verdunkelte sich auch schon der Himmel über ihnen und drohte, sie mit in die endlose Schwärze zu reißen. Die Fee versteckte sich in der Jackentasche des fassungslosen Jungen und piepste ängstlich vor sich hin. Paul konnte sie durch den Stoff der Jacke spüren, fühlte, wie der kleine Körper vor Angst bebte.

„Verdammt, was soll ich denn jetzt machen?”, schrie Paul, der nicht minder ängstlich war.

Weglaufen brachte nichts, so viel war klar. Er versuchte es trotzdem, aber seine Beine waren wie auf dem Boden festgetackert. Er bekam seine Füße nicht einen Millimeter angehoben, geschweige denn, dass er hätte laufen können. Mit einer wahnsinnigen Geschwindigkeit stürzte das Untier auf sie nieder und riss sie mit sich.

Eine kaum zu ertragende Kälte umgab sie und Paul merkte, wie ihm die Lebensgeister allmählich schwanden. So schnell hatte es dann doch nicht gehen sollen, das mit dem nächsten Leben!

Doch plötzlich fluteten massenhaft Bilder durch Pauls Kopf. Bilder von Orten und Personen, die er aus den vielen Büchern und Geschichten kannte, die er so begierig verschlungen hatte. Da waren Bartimäus, der Dschinn aus den Büchern von Jonathan Strout, Boromir aus „Herr der Ringe” von Tolkien, der Hirbel von Peter Härtling, Jim Knopf, Wickie, die sieben Zwerge,... Die Bilderflut nahm kein Ende. Vermutlich jede Figur, aus jedem Buch, das er mal gelesen hatte, rauschte an ihm vorbei und auch einige, die er gar nicht kannte, die ihm aber trotzdem irgendwie vertraut vorkamen.

Und wieder diese piepsende Stimme.

„Hilfe! Hilfe! Paul, wach auf. Ich brauche deine Hilfe!”

Schweißgebadet wachte Paul auf und saß sofort senkrecht im Bett. Ihm gegenüber saß, umgeben von einem sanften Schimmer und mit lässig übereinander geschlagenen Beinen, Vicki die Fee und grinste ihn frech an.

„Na, schlecht geschlafen?”

Noch ganz benommen von den Eindrücken und Bildern aus seinem Traum, dauerte es eine Weile, bis Paul begriff, dass er in Sicherheit war. Allmählich beruhigte sich sein Atem wieder und er schaute vorsichtig zum Bett seiner Eltern hinüber, doch die schienen noch im Wohnzimmer zu schlafen.

„Wie kommst du denn hier rein?”, fuhr er die kleine Fee wohl etwas zu barsch an.

„Oh, was für eine freundliche Begrüßung!” Pikiert drehte sie sich zur Seite. „Wie wär’s erstmal mit „Hallo Vicki, meine Güte, bin ich froh, dass es dir gut geht! Wie hast du es bloß geschafft, diesem Monster zu entkommen“?”

Beschämt schlug Paul die Augen nieder. „Entschuldige bitte! Natürlich freue ich mich, dich gesund wieder zu sehen und ich möchte selbstverständlich auch wissen, wie du es geschafft hast, gegen dieses - Ding. Aber trotzdem, wie bist du hier rein gekommen?”

„In der Jackentasche von deinem Dad.”

Sie sagte dies, als sei es das Selbstverständlichste der Welt, sich in fremden Taschen durch die Gegend tragen zu lassen.

„Bei meinem Vater in der -

Du meine Güte, wenn er dich entdeckt hätte!”

„Keine Sorge, ich verstehe es durchaus, mich zu tarnen, wenn es sein muss. Ohne diese Fähigkeit wäre ich gar nicht hier. Dieser verflixte Rochusmensch!”

„Was wollte der von uns? Und wie bist du ihm entkommen? Und wo ist der jetzt? Kann der auch hier rein kommen? Was ist das eigentlich für ein Ding? Gibt’s noch mehr davon...?”

Atemlos hielt Paul inne.

Das kleine geflügelte Wesen verschränkte die Arme vor der Brust und sah ihn mit hochgezogenen Augenbrauen streng an. „Sonst noch irgendwelche Fragen?”

„Oh, ja, tausende, wenn nicht noch mehr. Aber am wichtigsten ist...” Verlegen hielt Paul inne. Dass ihm der Gedanke ausgerechnet jetzt kam, - aber egal!

„Warum heißt du Vicki?”

„Ich meine”, fuhr er eilig fort, als sie ihn nur verständnislos ansah. „Was ist das für ein komischer Name für eine Fee? Die heißen doch sonst immer „gute Fee” und „böse Fee” oder so. Aber Vicki? Wer kommt denn auf so was?”

Dass er bei Vicki eher an den kleinen Wickinger aus Flake dachte als an eine Fee, erwähnte er lieber nicht, zumal ihr Gesichtsausdruck ihm deutlich zeigte, dass er direkt in den nächsten Fettnapf getreten war.

„Na, schönen Dank auch! Taktgefühl ist nicht gerade deine Stärke, was?” Demonstrativ beleidigt sah Vicki wieder zur Seite. „Pöh!”

Paul hätte nie gedacht, dass ein Fabelwesen, das sich einem Monstrum wie diesem Rochusmenschen entgegenstellte, derart empfindlich sein konnte.

„Tut mir leid“, murmelte er zerknirscht. „War nicht so gemeint. Vicki ist ja auch ein schöner Name, nur halt etwas ungewohnt für eine Fee. Finde ich.”

Ich glaub, ich stell heute noch meinen persönlichen Rekord im Entschuldigen auf, dachte er. Aber es schien zu wirken. Als Vicki sich zu ihm umdrehte, wirkte sie schon wieder recht versöhnlich.

„Na ja, schon gut. Entschuldigung angenommen“, sagte sie und machte es sich bequem. „So, und jetzt eins nach dem anderen. Also, Vicki heiße ich, weil ich so heißen möchte! Wir Feen können uns unseren Namen selber aussuchen und ihn auch im Laufe der Zeit mal ändern, wenn uns der alte nicht mehr so gefällt.”

Täuschte er sich, oder leuchtete ihr Gesicht gerade zartrosa auf?

„Wie du schon so richtig bemerkt hast, sind die Menschen in der Regel nicht sehr erfindungsreich, wenn es um Namen für Feen geht. Gute Fee und böse Fee höchstens noch Zahnfee oder Todesfee, das ist dann aber auch schon alles, was sie sich so einfallen lassen zu dem Thema. Damit sich auf Atlantis nicht zweitausend „gute Feen” gleichzeitig angesprochen fühlen, wenn mal jemand nach einer ruft, haben wir halt angefangen, uns selber Namen zu geben. Einfach welche, die wir schön finden. Und Vicki fand ich nun mal ausgesprochen schön. Soviel dazu!”

Vicki sah Paul wohl an, dass er direkt zur nächsten Frage ansetzte, deshalb fuhr sie hastig fort. „Nun zum Thema Monster und Ungeheuer. Auch davon gibt es auf Atlantis vermutlich tausende.”

Entsetzt keuchte Paul auf. Tausende? Wie konnte jemand überhaupt auch nur auf die Idee kommen, nach Atlantis zu wollen, wenn es dort so viele von diesen Ungeheuern gab?

„Es gibt alleine schon bestimmt tausend verschiedene Arten von Monstern: durchsichtige, feinstoffliche, feste, gute, böse, niedliche... Aber das würde jetzt zu weit führen. Von den Rochusmenschen jedenfalls gibt es nur ganze drei Exemplare, plus ihren Herrn, aber der...egal, später! Die drei reichen jedenfalls voll und ganz!”

„Das will ich glauben”, stöhnte Paul und schauderte in Erinnerung an das Ungetüm, das er auf der Düne erlebt hatte.

„Diese drei verkörpern alles, was es an negativen Eigenschaften gibt. Sie sind tückisch wie Nebel, grausam und gnadenlos. Und noch dazu dumm wie Brot. Aber das kann für uns nur von Vorteil sein.”

Soweit Paul im Halbdunkel erkennen konnte, lächelte sie ihn kurz an.

„Was genau der Rochusmensch von uns wollte, kann ich dir auch nicht erklären. Aber ich habe Vermutungen. Wahrscheinlich wollte er verhindern, dass ich rechtzeitig nach Atlantis zurückkehre.

Zur Krönungszeremonie.

Meiner Krönung.

Zur Königin von Atlantis!”

So, jetzt war es raus.

„Du?

Königin von Atlantis?

Demnächst?”

Dazu fiel dem Jungen nun wirklich gar nichts Gehaltvolles mehr ein. Das wurde ja immer besser.

Herausfordernd stemmte die Fee die Arme in die Hüften und suchte seinen Blick. „Nun frag schon!”

„Was?”

„Warum ausgerechnet ich Königin von Atlantis werden soll natürlich!”

Das war tatsächlich genau die Frage, die Paul gerade durch den Kopf gegangen war. „Ja genau! Warum sollst ausgerechnet du Königin von Atlantis werden?”

„Das ist eine längere Geschichte”, antwortete Vicki ausweichend, aber Paul konnte spüren, dass sie förmlich darauf brannte, sie endlich loszuwerden.

„Macht nichts, erzähl schon!”

Ungeduldig rutschte Paul in seinem Bett hin und her. Zwischendurch warf er immer mal wieder nervöse Blicke in Richtung Wohnzimmer. Hoffentlich würden seine Eltern noch ein Weilchen weiterschlafen. Dem ausgiebigen Schnarchen seines Vaters nach zu urteilen war jedenfalls alles noch in bester Ordnung. Erleichtert widmete er seine Aufmerksamkeit wieder der nächtlichen Besucherin.

Die Fee atmete tief durch, als müsse sie sich für das, was nun kommen sollte, erst noch stärken. „In Atlantis leben unvorstellbar viele Wesen, manche sogar mehrmals”, begann sie schließlich und sofort braute sich ein überdimensionales Fragezeichen über Pauls Kopf zusammen. Doch Vicki ließ ihm keine Zeit, dazwischenzufragen.

„Frag nicht, es ist halt so. Den Rest muss ich dir ein andermal in Ruhe erzählen, dafür ist jetzt nicht auch noch Zeit. Also, wie gesagt, unvorstellbar viele und manche sogar mehrfach. Nur ein kleines Beispiel: Merlin läuft bei uns bestimmt dreihundertfünfzigmal herum und jeder sieht ein bisschen anders aus und hat teilweise auch andere Charaktereigenschaften.”

„Aber wie kann das sein?”, unterbrach Paul sie dann doch.

„Ein andermal, ja? Jetzt lass mich erstmal weiter erzählen!" Wieder musste sie sich erst kurz sammeln. „Jedenfalls, wo so viele unterschiedliche Wesen zusammenleben, gibt es strenge Regeln und Gebote. Und es gibt natürlich auch immer einen König oder eine Königin, die dafür zu sorgen haben, dass diese Gesetze auch eingehalten werden.”

„Und wie wird man König von Atlantis? Wird das vererbt? Bist du deshalb eine Prinzessin?”

Die Fee stöhnte, wie unter einer großen Last. „Nein, das wird ausgelost.”

„Wie bitte?” Ungläubig starrte Paul sie an. Es war für ihn unvorstellbar, dass über eine so wichtige Entscheidung der bloße Zufall entscheiden sollte. Vicki hingegen schien voll und ganz hinter dieser Praxis zu stehen.

„Das Los entscheidet“, wiederholte sie entschieden. „Das ist doch die gerechteste Sache von der Welt. Ihr mit eurer Demokratie und all dem Kram, das funktioniert doch gar nicht. Bei uns wirft einfach jeder, der König oder Königin werden möchte, einen Zettel mit seinem Foto in einen großen Kessel. Dann wird umgerührt und einer der nicht König werden möchte, lost dann den nächsten Herrscher von Atlantis aus. So einfach ist das.”

Dass Paul da ganz anderer Meinung war, lag ihm zwar schon auf der Zunge und am liebsten hätte er ihr eine kurze Einführung in die Vorzüge der Demokratie gegeben, aber selbst er wusste manchmal, wann es angebracht war, sich mit der Besserwisserei zurückzuhalten.

„Und da hält sich dann auch jeder dran?”, wagte er dennoch zu fragen.

„Naja, wie wir sehen, nicht ganz“, gestand die Fee ein. „Es wird auch direkt ein stellvertretender zukünftiger König mitgewählt. Kommt schon mal vor, dass der Zukünftige, aus welchen Gründen auch immer, verhindert ist, wenn seine Krönung dann ansteht. Deshalb werden bei jeder Krönungsfeier eines neuen Amtsinhabers immer gleich ein zukünftiger und ein stellvertretender zukünftiger König gewählt. Und es sieht ganz so aus, als möchte der Stellvertretende die Zukünftige vorzeitig aus dem Weg schaffen!”

„Der Rochusmensch ist der Stellvertretende”, fügte sie mit trauriger Stimme hinzu.

„Warum -?”

„Nun unterbrich mich nicht dauernd!”, schimpfte Vicki genervt. „Weißt du eigentlich gar nichts über Atlantis?”, fragte sie plötzlich.

Paul zuckte mit den Schultern. „Nö, nur, was man so hört.”

Er gab ihr einen kurzen Einblick in das, was er bislang hatte in Erfahrung bringen können – die Ansichten des Philosophen Plato, Atlantis als Wiege der Menschheit, außerirdische Basisstation, Menschen als Experiment, irgendwann irgendwo untergegangen...

„Oh je, nee Mann, vergiss den ganzen Quatsch mal gleich! Damit hat Atlantis nun wirklich gar nichts zu tun. In Atlantis leben -” Vicki hielt plötzlich erlöschend inne, gab Zeichen, die wohl bedeuteten, dass er sich schnell hinlegen solle und ließ sich schließlich selber hastig in eine Falte des Bettbezuges fallen.

Keine Sekunde zu früh.

Der Junge hatte sich gerade so drapiert, dass es aussah, als würde er schlafen, da kam seine Mutter schlaftrunken ins Zimmer gewankt. Sie blickte ihn kurz lächelnd an, strich ihm, wie sie es immer tat, über den Kopf und ließ sich dann ins Bett fallen, wo sie offenbar sofort weiterschlief.

Paul wartete einen Moment, dann wollte er nach Vicki suchen, doch prompt kam auch sein Vater herein geschlappt, um ihm ebenfalls kurz über den Kopf zu strubbeln.

Leider schien er nicht so leicht wieder in den Schlaf zurückzufinden. Während Paul auf gleichmäßige Atemgeräusche seines Vaters wartete, übermannte es ihn selbst und er schlummerte, zum Glück traumlos, bis weit in den Morgen.

Als er aufwachte, war weit und breit keine Fee zu finden, weder eine gute, noch eine böse.

Der rote Feuerstein

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