Читать книгу Der rote Feuerstein - Kim Scheider - Страница 8
Aufbruch ins Unbekannte
Оглавление„Du willst mir nicht helfen?” Vicki war sprachlos vor Entsetzen.
Paul setzte gleich mehrmals an, um ihr zu erklären, warum er auf keinen Fall und niemals auch nur in die Nähe dieses anscheinend vorwiegend von Grauen erregenden Monstern bewohnte Atlantis kommen wollte. „Ich - ,weil,...Es geht einfach nicht, okay?”
„Du weißt, was das für mich bedeutet?", flüsterte die kleine Fee mit Tränen erstickter Stimme. Da Paul offenbar nicht vorhatte, ihr zu antworten, wendete sie sich enttäuscht von ihm ab und flog hinüber zur Fensterbank. Ihr Blick glitt ziellos über das Meer und winzige Tränen rannen ihr über das zarte Gesicht.
„Vicki, bitte versteh mich doch!” Verzweifelt rang Paul nach Worten. „Das, das ist nicht meine Welt. Du kennst das alles, weißt, was du zu tun hast, wenn dir ein Rochusmensch begegnet oder von mir aus eine Hexe oder ein Vampir oder was weiß ich, was bei euch sonst noch für Gestalten existieren. Ich nicht! Ich kenne das alles nur aus Büchern oder Filmen. Und ich muss zugeben, dass mir das in echt eindeutig zu spannend ist!”
Das sonst so liebliche Gesicht der Fee war vor Wut verzerrt, als sie sich wieder zu ihm umdrehte. „Ach ja?”, schrie sie Paul unvermittelt an. „Gerade wolltest du noch in den Bunker gehen und den Zugang auf eigene Faust suchen, das war dir nicht zu aufregend! Aber wenn ich dich bitte, mit mir zusammen dort hin zu gehen? Meine Güte, ich weiß doch, wo das Tor ist! Wir müssen nur hin gehen, den Schlüsselstein einfügen und - ”
„Ja genau! Und dann?” Paul war nun mindestens genauso wütend wie sie. „Und dann? Du glaubst doch nicht ernsthaft, dass sie dich einfach so zurück spazieren lassen? Offensichtlich wollen sie doch mit allen Mitteln verhindern, dass du nach Atlantis zurückkehrst. Willst du mir wirklich erzählen, dass uns auf der anderen Seite des Tores nicht gleich das nächste Ungeheuer erwartet?”
„Auf der anderen Seite erwartet uns gar nichts”, gab Vicki resigniert zurück. „Da ist bloß ein Tunnel, der uns zum eigentlichen Tor führt, sonst nichts."
Immer vorausgesetzt, wir kommen heil dort an, dachte sie für sich. Aber jetzt war wohl kaum der richtige Zeitpunkt, mit der ganzen Wahrheit herauszurücken. Offenbar hatte Paul erst einmal genug von den Rochusmenschen. Aber sie brauchte den Jungen! Die Zeit war inzwischen einfach zu knapp, um sich jemand anderen zu suchen, der ihren Plan noch rechtzeitig in die Tat umsetzen könnte. Jetzt galt es, möglichst dick aufzutragen, um den Jungen weichzukochen, notfalls auch mit der einen oder anderen Notlüge, zum Beispiel, was den Verlust ihrer Zauberkraft anging oder die Dauer ihres Aufenthaltes auf der Insel. Ihre wahren Absichten wollte sie aber lieber noch etwas zurückhalten.
„Vicki, ich kann hier nicht einfach verschwinden. Meine Eltern... Und wir werden bald wieder abreisen. Es tut mir ja auch leid für dich, aber, es muss doch eine andere Möglichkeit geben?” Paul war aufrichtig verzweifelt, das konnte sie spüren. Natürlich würde er der kleinen Fabelgestalt gerne helfen, aber er war nun mal nur ein zwölfjähriger Junge, dem die Ereignisse der letzten vierundzwanzig Stunden voll und ganz gereicht hatten.
Und er hatte gehörig Schiss.
Genau das sagte ihm Vicki auch auf den Kopf zu.
„Ach, das sind doch alles nur Ausflüchte”, rief sie aufgebracht. „Du hast einfach nur Angst, das ist alles!”
„Und wenn schon”, gab Paul beleidigt zurück. „Wirst dir wohl ‘nen anderen Helden suchen müssen!” Zornig warf er die Kette auf den Tisch und wollte den Raum verlassen.
„Ist das dein letztes Wort?” Vicki sah ihn flehentlich an.
„Ist es!”
Nun wurde es Zeit für die Fee, die Strategie zu ändern. Mit der Mitleidstour kam sie hier wohl nicht weiter. Blieb noch, an seinen Stolz zu appellieren. „Na super!", fauchte sie ihn gehässig an. „Dann verzieh dich doch unter deine warme, kuschelige Bettdecke und mach dir vor Angst in die Hose. Ich hatte dir eigentlich etwas mehr zugetraut!” Demonstrativ enttäuscht flog Vicki aus dem leicht gekippten Fenster.
„Vicki! Vicki warte doch! Vicki?”
Doch das rosa Ding, wie Paul die Fee insgeheim nannte, war schon verschwunden.
„Mist, Mist und noch mal Mist!” Paul fluchte wütend vor sich hin. Er wusste doch selber nicht, was genau er wollte. Er wusste nur, was er ganz sicher nicht wollte und dazu gehörte in jedem Fall eine erneute Begegnung mit dem Rochusmenschen. Nachdenklich betrachtete er den rot schimmernden Feuersteinanhänger. Er bereute es längst, die Bitte der Fee so herzlos abgeschmettert zu haben. Eigentlich hatte sie ja recht. Er brauchte schließlich nur das zu tun, was er sowieso vorgehabt hatte - zum Tor gehen! Da konnte es doch nicht zu viel verlangt sein, eben den Schlüsselstein zu benutzen und sie zum nächsten Tor zu begleiten, um ihr nach so langer Zeit endlich die Rückkehr zu ermöglichen? Ohne seine Hilfe würde sie sonst niemals rechtzeitig zur Krönungsfeier nach Atlantis kommen.
Sie würde ihre Zauberkraft nicht wiedererlangen.
Sie würde nicht Königin werden.
Der Rochusmensch würde diesen Platz einnehmen, er war der stellvertretende zukünftige König...
Der Rochusmensch - als Herrscher über Atlantis. Das konnte Paul einfach nicht verantworten. Schlagartig wusste er, was er zu tun hatte.
Er musste los!
Sofort!
Vicki finden!
Hastig schlüpfte Paul in seine Jacke, stopfte die fünf Euro, ein paar Äpfel und die Feuersteinkette in die Tasche und machte sich auf die Suche. Doch wo anfangen? Wo würde sich eine kleine Fee wohl verstecken? Denn klein war sie wirklich. Höchstens so groß wie seine Handfläche. Sie konnte praktisch in jeder Ritze stecken.
Er beschloss, es zunächst in der Nähe des Bunkereinganges auf dem Oberland zu versuchen und sprintete erneut die Stufen der breiten Treppe hoch. Verstohlen warf er im Vorbeifliegen ein paar suchende Blicke zu den Seiten. Am liebsten hätte er laut nach ihr gerufen, aber für heute hatte er wohl schon genug Aufsehen erregt, daher verzichtete er erst einmal darauf und lief weiter.
Paul griff in die Jackentasche und suchte nach der Kette. Erleichtert spürte er, dass sie noch da war und streifte sie sich im Laufen über den Kopf. Nicht auszudenken, würde er sie verlieren! Wie wichtig diese Kette tatsächlich war, war ihm erst in den letzten Minuten klar geworden. Mit bebenden Fingern stopfte er sie sich unter den Pullover, um sie vor neugierigen und eventuell „wissenden” Blicken zu schützen. Bildete er sich das nur ein oder starrten die Leute ihn wirklich so merkwürdig an? Es kam ihm beinahe vor, als trüge er eine Leuchtreklame um den Hals. Dann kam ihm jedoch der Gedanke, dass es vielleicht einfach nur komisch aussah, wie er da mit gehetztem Blick durch die schmalen Gassen jagte, als sei eine ganze Kompanie Ungeheuer hinter ihm her. Er versuchte besser, sich etwas unauffälliger zu verhalten und zwang sich seinen Weg langsamer und möglichst lässig fortzusetzen, was ihm aber nur mäßig gelang. Dafür war er einfach viel zu aufgeregt. Zum Glück waren es nur noch ein paar Meter.
Rund um den Eingang des Bunkers verteilten sich mindestens zwanzig Personen, die sich offenbar alle kannten und auf die Nachzügler ihrer Reisegruppe warteten.
Na super, Rush-hour für Tagestouris! Einen ungünstigeren Zeitpunkt hätte ich kaum erwischen können!
So entspannt und gemütlich, wie er es unter den gegebenen Umständen hinbekam, schlenderte er auf das Plakat mit den Terminen für die Führungen zu und tat so, als lese er es ganz interessiert. Lange konnte es schließlich nicht mehr dauern, bis die Leute zum Schiff mussten.
Die Reisegruppe machte jedoch keinerlei Anstalten, Richtung Hafen zu verschwinden, ganz im Gegenteil. Es kamen immer mehr dazu und manche von ihnen nutzten das ungewöhnlich warme Frühlingswetter an diesem Tag, um sich erstmal gemütlich auf dem Weg nieder zu lassen und mit ihren Helgolandkenntnissen zu prahlen.
„Die Düne war ja früher mal mit der Hauptinsel verbunden, wusstest du das?” Ein blonder junger Mann mit wichtiger Miene versuchte gerade sein weibliches Gegenüber zu beeindrucken. „Bei einer Sturmflut sind dann zwei Inseln daraus geworden, so vor dreihundert Jahren oder so.”
1720/21, Silvesternacht, um genau zu sein, dachte Paul und grinste unwillkürlich. Er hätte seiner Mutter im „Klugscheißen” über alles, was mit Helgoland zu tun hatte, sicher Konkurrenz machen können. Da kam sofort wieder der Justus Jonas in ihm durch.
Einige weitere, für Helgolandkenner haarsträubende Fachsimpeleien des jungen Mannes später, begann Paul allmählich unruhig zu werden. Wenn sie doch nur endlich gehen würden... Doch seine Geduld wurde nicht weiter auf die Probe gestellt.
„Ah, da sind die beiden ja endlich”, rief ein sehr kleiner Mann, der wohl der Reiseleiter der Gruppe war. Als die beiden Angesprochenen zur Gruppe stießen, brach allgemeine Aufbruchstimmung aus und es schien sich auch niemand zu wundern, dass Paul nun schon bestimmt zehn Minuten brauchte, um den Anschlag zu lesen.
Der Reiseleiter drängte zur Eile. “Los, los, Leute, da braut sich was zusammen. Lasst uns zusehen, dass wir das Schiff erreichen, bevor es losstürmt!”
„Na endlich”, hörte Paul die Angebetete des Helgoland-Fachmannes murren. „Ich will doch noch unten in diesen Shop, meine Schnäppchentüte abholen. Ich habe bestimmt zwanzig Euro gespart bei diesem einen Parfüm...”
Dann waren sie weg.
Paul stürzte sich augenblicklich auf den Eingang zum Bunker und spähte vorsichtig hinunter. Besonders weit gucken konnte er ja nicht gerade...
„Vicki? Vicki bist du da unten?” Er quetschte sein Ohr zwischen die Gitterstäbe, um besser hören zu können, doch er bekam keine Antwort. „Vicki, bitte! Ich kann ja verstehen, dass du sauer auf mich bist, aber wenn du da unten bist, dann melde dich bitte!”
Nichts!
Was hatte er auch erwartet? Dass sie ihn, freundlich lächelnd auf der Treppe sitzend, begrüßen würde? Wohl kaum! Dennoch enttäuscht wandte Paul sich von dem dunklen Loch ab und ging ziellos Richtung Leuchtturm weiter.
Einmal so weit oben angekommen, wollte Paul seine Grübeleien auf dem Klippenrandweg, dem Rundwanderweg um das gesamte Oberland der Insel, fortsetzen. Im Laufe des Tages war es tatsächlich kräftig aufgefrischt. Die Möglichkeit, sich den Kopf richtig durchpusten zu lassen, kam ihm sehr gelegen. Das Wetter änderte sich hier mitunter stündlich und er wollte die milde Brise noch etwas auskosten.
Paul blickte noch einmal kurz zum Leuchtturm zurück. Obwohl es noch reichlich Zeit war bis zum Sonnenuntergang, hatte das morgens angekündigte Sturmtief die Insel binnen Minuten in eine leichte Dämmerung getaucht. Man konnte sogar schon den Schein des Leuchtturmes erkennen. Paul folgte ihm noch einen Moment mit seinem Blick, dann stapfte er gegen die ersten kräftigen Böen an, die von Westen auf die Insel prallten. Plötzlich lachte er laut auf. Er hatte sich gerade gefragt, ob der junge Mann aus der Reisegruppe jetzt wohl immer noch so ein wichtiges Gesicht machte oder ob es inzwischen nicht vielmehr leicht grünlich gefärbt sein dürfte.
Das wäre die richtige Überfahrt für Mama, dachte Paul amüsiert. Er lief noch die paar Meter bis zum Klippenrandweg und erreichte einen kleinen geschützten Unterstand, wo er eine kurze Pause machte, um die Kapuze hervorzukramen. An den Wänden hingen ein paar der Informationstafeln, die die ganze Insel in ein großes zu bewanderndes Buch zu verwandeln schienen. Sie informierten auch den eiligen Gast über wichtige historische Ereignisse oder die einmalige Natur Helgolands.
Pauls Blick fiel jedoch nicht auf die bebilderten Schautafeln, sondern auf die Stahltür, die in der rechten Wand des Unterstandes eingelassen war. Wie oft schon hatte er hier gestanden, verstohlen um sich geblickt, ob ihn auch niemand beobachtete und hatte dann mit einem leichten Prickeln im Nacken die Klinke gedrückt. Doch noch nie hatte sich die Tür öffnen lassen. Er hatte auch keine Ahnung, was sich dahinter verbergen würde. Aber nun war er sich sicher, dass dort ein weiterer Zugang zum Bunkersystem sein müsste. Zumindest konnte und wollte er sich nichts anderes vorstellen.
Aufgeregt blickte Paul sich um, doch er war weit und breit der Einzige hier oben. Das aufziehende Unwetter kündigte sich mittlerweile immer unmissverständlicher an, da hatten sich die meisten Leute schon auf den Rückweg gemacht. Paul hatte jedoch keine Augen für Sturm und Regen, er starrte wieder die Türklinke an. Er war felsenfest davon überzeugt, dass sie sich diesmal öffnen lassen würde. Noch ein tiefes Durchatmen, dann drückte er die Klinke runter - wieder nichts!
Und dann, als wäre das alles nicht schon frustrierend genug, fiel ihm in diesem Moment auch noch ein, dass die Bunkerführung inzwischen schon längst begonnen hatte. Heute würde er wohl keine Möglichkeit mehr haben, auf “legalem” Weg in die Anlagen zu kommen. Wütend auf sich selbst, machte er sich wieder auf den Weg und hielt sich in Richtung Westküste. Über eine kleine Treppe gelangte er auf den Kamm des sogenannten Mittellandes, das erst durch den „Big Bang” entstanden war, und in dessen Schutz sich jetzt das kleine Krankenhaus der Insel befand. Paul kletterte auf der Meeresseite hinunter und hielt etwa auf der Mitte kurz inne.
Im Hang befand sich eine Stelle, die seine Phantasie schon immer beflügelt hatte. Sicher hatte sich dort früher mal ein Eingang ins Felsinnere befunden, doch jetzt konnte man nur noch eine Art Torbogen erahnen. Schon oft hatte Paul versucht, dort wenigstens ein Stück weit in den Felsen reinschauen zu können, doch die Trümmer versperrten ihm auch jetzt wieder hartnäckig den Weg.
„Vicki?”
Halbherzig rief er den Namen der kleinen Fee in die Trümmer. Wenn er ehrlich zu sich selber war, glaubte er nicht mehr daran, das kleine Fabelwesen noch einmal zu finden. Er setzte sich auf einen vorstehenden Felsbrocken, und es war ihm nur noch nach Heulen zumute. Selbst die Tatsache, dass die Frühlingssonne es gerade noch mal schaffte, die Wolken des Sturmtiefes zu durchbrechen, um die Insel in einem malerischen Rotton aufleuchten zu lassen, konnte ihn nicht trösten. Es wäre einzig und allein seine Schuld, wenn die Fee für immer auf Helgoland gefangen bliebe oder, noch schlimmer, in die Gewalt des Rochusmenschen geraten würde. Während er darüber grübelte, wie der oder die Rochusmenschen eigentlich nach Helgoland gelangt waren, nahm Paul aus dem Augenwinkel eine schnelle Bewegung wahr.
Ein kleines blitzendes Etwas kam irrsinnig schnell in seine Richtung geflogen, gefolgt von etwas großem Dunklen. Gerade noch blieb ihm Zeit, die Arme schützend über den eingezogenen Kopf zu schlagen, da hatten Vicki und das Untier ihn auch schon erreicht. Denn niemand anderes war es, der da über seinen Kopf rauschte. Zeit, sich zu wundern, hatte Paul keine. Er schaffte es gerade noch, sich zu den beiden umzudrehen, da wurde es auch schon schwarz und eiskalt um ihn.
Das Monster schien ihn in sich einzusaugen, zumindest fühlte es sich so an, als würde er sich wie ein Kaugummi in die Länge ziehen und durch einen engen Schlauch gesogen. Wie bereits in seinem Traum vergangene Nacht, durchfluteten seinen Kopf unendlich viele Bilder mit Personen und Orten, die er aus den vielen Geschichten kannte, die er alle gelesen hatte. Paul fühlte sich, als würde er eine Reise durch sein Bücherregal machen. Aber auch Szenen aus seinem realen Leben mischten sich darunter und machten das Ganze nur noch unheimlicher. Jetzt konnte Paul verstehen, was gemeint war, wenn jemand davon sprach, sein ganzes Leben sei in Sekundenbruchteilen an ihm vorübergezogen.
Ein greller Lichtblitz verscheuchte die Bilder und auch die ihn umgebende Schwärze zog sich zurück. Vicki schrie irgendetwas, aber Paul konnte sie nicht verstehen. Er sah sie nur in Richtung der verschütteten Felsöffnung fliegen und beschloss, ihr zu folgen.
„Pass auf!", warnte er sie, als das Untier ihr gefährlich nahe kam. Doch vielmehr konnte er auch nicht tun. Die Fee und der Rochusmensch lieferten sich bereits einen ungleichen, aber erbitterten Kampf. Voller Sorge um das winzige Wesen, aber dennoch fasziniert, beobachtete der Junge das Schauspiel, das sich ihm darbot. Der Dämon schleuderte unablässig feurige Blitze auf die Fee, die es ihrerseits trotz der Ausweichmanöver schaffte, es ihm gleichzutun.
Paul war so beeindruckt von der Kraft, die von dem kleinen rosa Ding ausging, dass ihm gar nicht auffiel, dass sie das eigentlich überhaupt nicht können dürfte. Es sei denn, sie hätte ihre Zauberkraft plötzlich wiederbekommen. Doch diesen Umstand bemerkte Paul im Moment nicht. Er war nur froh, dass die Fee dem Monstrum etwas entgegenzusetzen hatte. Wieder erhoben sich die beiden in die Lüfte und setzten ihr Duell während rasanter Sturzflüge fort. Einer der Blitze verfehlte Paul nur um Haaresbreite. Die Fee raste plötzlich auf das kleine Loch im Felsen zu, der Rochusmensch ihr dicht auf den Fersen. Vicki verschwand in dem Loch, und der schattenhafte Dämon, der sich noch im Flug zu einem Wesen aus purem Stein verdichtete, krachte mit einem ohrenbetäubenden Geräusch mitten in den Felszugang. Gesteinsbrocken und Erdklumpen krachten den Hang hinunter. Paul warf sich panisch zur Seite, als ein Felsen von der Größe eines Kleinwagens auf ihn zu stürzen drohte.
Das ist mein Ende, dachte Paul, dem nun endlich aufging, dass nicht nur die Fee, sondern auch er selbst sich in großer Gefahr befand. Um ihn herum explodierte die Welt und inständig hoffend, dass ihn nicht doch noch einer der Brocken zermalmen würde, schlang er die Arme erneut schützend über den Kopf.
Eine wohltuende Stille breitete sich aus, als der malträtierte Hang endlich wieder zur Ruhe kam. Nur zögernd getraute sich Paul, den Kopf wieder zu heben. Vorsichtig kroch er näher auf die Felsöffnung zu, in die das schwarze Ungetüm eine gewaltige Bresche geschlagen hatte. Der Rochusmensch lag wie tot halb unter den Trümmern und hinter ihm konnte Paul jetzt tatsächlich einen tief in den Felsen reichenden Tunnel erkennen.
Mit wackeligen Beinen stand er auf und betrachtete teils angewidert, teils fasziniert das Wesen, das immer noch reglos am Boden lag. Der Rochusmensch war mindestens doppelt so groß und breit wie ein normaler Mensch. Die zuvor noch giftgrün leuchtenden Augen waren jetzt nur noch schwarze Löcher. Paul fragte sich, ob das an der Bewusstlosigkeit des Schattenwesens lag, oder ob er die Augen bei „Bedarf” einfach nur bedrohlich verändern konnte. Es war schwer zu sagen, ob das Monstrum aus fester Materie bestand. Es sah aus, als hätte jemand seine annähernd menschlichen Umrisse mit einem dicken schwarzen Stift gezeichnet, den Rand dann ausgefranst und den Inhalt mit einer dunklen, wabernden Masse gefüllt, die Paul an dichten Rauch erinnerte. Die Oberfläche des Rochusmenschen war in rastloser Bewegung, als würden winzige Stürme sie stetig durcheinander wirbeln.
Paul wollte es genau wissen und da von dem Unhold im Moment keine Gefahr auszugehen schien, legte er behutsam seine Hand auf den Bauch des Ungeheuers. Augenblicklich spürte er wieder Eiskristalle in seine Haut stechen. Als er etwas fester zudrückte, tauchte seine Hand in die Substanz des merkwürdigen Wesens ein und wie schon zuvor geschehen, drohte die mysteriöse Bilderflut seinen Verstand zu überwältigen.
Erschrocken zog Paul die Hand zurück. Egal, aus was der Rochusmensch bestand, er hatte zumindest bewiesen, dass er über gewaltige Kräfte verfügte. Ein Blick auf das Trümmerfeld, das Paul umgab, belegte dies zur Genüge.
„Du solltest jetzt besser mal da weg kommen. Der bleibt nicht ewig so dekorativ da liegen!” Mit in die Hüften gestemmten Armen kam Vicki auf Paul zugeflogen.
„Oh Vicki, bin ich froh, dass es dir gut geht!” Erleichtert ließ Paul zu, dass die Fee sich auf seiner Handfläche niederließ.
„Du kommst doch mit?”, fragte sie und blickte ihn erwartungsvoll an.
„Natürlich! Lass uns hier verschwinden!”
Und gemeinsam gingen sie in den Tunnel, den wohl schon seit Jahrzehnten niemand mehr betreten hatte.