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Helgoland 2007
ОглавлениеPaul rannte.
Seine Lungen brannten, die Beine schmerzten und in seinem Kopf tobten die wirrsten Gedanken.
Das konnte nicht sein. Das, was er gerade erlebt hatte, war einfach unmöglich. So etwas gab es nicht, konnte und durfte es nicht geben! Aus dem Alter war er raus, selbst an den Weihnachtsmann glaubte er schon seit Jahren nicht mehr, geschweige denn an das Wesen, das ihm gerade begegnet war.
Auf dem „Friedhof der Namenlosen” war er gewesen.
Wie jedes Jahr.
Schon dutzende Male war er hier gewesen und nie war ihm derartiges passiert. Die Hochseeinsel Helgoland und die dazugehörige Düne waren schon fast wie ein zweites Zuhause für ihn geworden. Hier fühlte er sich wohl und - zumindest bis gerade – sicher. Das unangenehmste, was ihm hier bislang passiert war, war die Tatsache, dass er noch nicht einmal weit draußen in der Nordsee sicher vor seiner nervigen Nachbarin war. Kaum auf der Düne angekommen, war er ihr erst einmal in die Arme gelaufen und hatte sich gefragt, ob die Frau mit der Motorradhelmfrisur wohl geklont war. Frau Piel war wirklich immer und überall, einfach unglaublich. Aber noch lange nicht so unglaublich, wie das, was er gerade erlebt hatte.
Paul rannte noch immer. Der Weg zum Hafen war eigentlich gar nicht so weit, doch heute kam er ihm vor wie eine unüberwindbare, niemals enden wollende Strecke.
Vom Friedhof aus, der eher eine Gedenkstätte für die zahlreichen namenlosen Ertrunkenen der Nordsee war als ein Friedhof im eigentlichen Sinne, war er auf kürzestem Wege durch die Dünen gerannt, vorbei am Spielplatz und dem neu errichteten Bungalowdorf, immer weiter Richtung Anleger. Endlich kam der Hafen in Sicht und, wie hätte es auch anders sein sollen - die Dünenfähre hatte natürlich gerade abgelegt. Für die nächste halbe Stunde würde er erst mal festsitzen.
„Mist! Verdammter Mist!“, fluchte er vor sich hin.
Er wollte nur noch weg von der Düne, rüber zur knapp zwei Kilometer entfernten Hauptinsel, wo seine Eltern sicher schon auf ihn warteten und ihn wieder auf den Boden der Tatsachen zurückholen würden.
Keuchend setzte er sich hin, mitten auf den Anlegesteg und versuchte das Chaos in seinem Kopf zu sortieren. Das konnte einfach nicht wahr sein, was ihm da Minuten vorher passiert war.
Aber sie war da gewesen, hatte sogar mit ihm gesprochen.
„Hallo! Ich bin Vicki und wer bist du?“, hatte sie ihn gefragt. War dabei aufgeregt mit den Flügeln schlagend vor ihm hin und her geflogen und hatte ihm dann die verrückteste Geschichte erzählt, die er jemals gehört hatte.
Sprachlos hatte er das kleine flatternde Wesen angestarrt, das da unter der alten Schiffsglocke auf dem Friedhof hervor geschossen kam und ihn einfach angesprochen hatte. Nicht nur, dass es sie eigentlich gar nicht hätte geben dürfen, nein, sie sprach auch noch zu ihm!
Ich hätte gestern doch nicht von Mutterns Eiergrog probieren dürfen, dachte Paul und konnte noch immer nicht fassen, was er da sah. Er hatte zwar nur ein mal an dem, wie der Name schon sagt, vorwiegend aus Grog und Eiern bestehenden „Nationalgetränk“ der Helgoländer genippt, aber anscheinend hatte dies bereits eine durchschlagende Wirkung!
„Hallo, redest du nicht mit jedem?”, fragte ihn die Fee - oder war es eine Elfe? „Ich versuch’s noch mal”, sagte sie mit einem frechen Grinsen im Gesicht. „Ich bin Vicki und wer bist du?”
„Ich... Paul ... Das gibt’s doch nicht! Ich, ich bin Paul”, stammelte er vor sich hin.
„So - ein Junge bist du? Ich dachte, du wärst ein Mädchen. Wegen den langen Haaren und so.” Keck lächelte sie ihn an.
Schon wieder dieser Spruch! Wie oft hatte er ihn schon in unzähligen Variationen zu hören bekommen?
„Umso besser”, hatte sie dann gemeint. „Jungen sind angeblich mutiger, soweit ich in Erinnerung habe. Auch wenn du mir nicht gerade diesen Eindruck machst.”
Nach wie vor sprachlos und auch ein wenig beleidigt hatte Paul den Flug des kleinen Wesens verfolgt, das ununterbrochen vor seinem Kopf hin und her flog. Vielleicht war es auch ein Insekt? Dagegen sprachen allerdings das rosa Kleid, das im Wind vor seiner Nase flatterte und die lange blonde Powermähne, die ihn beim Vorbeifliegen jetzt schon mehrmals an der Nase gekitzelt hatte.
„Was willst du von mir?”
Nur mühsam hatte er die Worte hervor gebracht. Eigentlich hatte er fragen wollen, wo sie herkäme - denn eine Sie war es eindeutig -, wieso es sie gab, warum er sie verstehen konnte und überhaupt. Aber da sein Verstand sich nach wie vor weigerte zu glauben, was sich gerade abspielte, war ihm keine bessere Frage über die Lippen gekommen.
Das muss ein Scherz sein. Oder ein Trick. Oder was auch immer, hatte Paul gedacht und noch einmal gefragt: „Was willst du von mir?”
„Deine Hilfe!”, sagte Vicki frei heraus.
Und dann hatte sie ihm ihre schier unglaubliche Geschichte erzählt.