Читать книгу Der rote Feuerstein - Kim Scheider - Страница 7
Das Thema des Tages
ОглавлениеMit den hundert bis tausend Fragen, die Paul beim zugegebenermaßen sehr späten Frühstück durch den Kopf gingen, hätte er sicherlich ein ganzes Buch füllen können. Natürlich, er hatte auch einiges Neues erfahren, zum Beispiel über die Rochusmenschen. Doch was es mit ihnen und vor allem mit Atlantis nun genau auf sich hatte, wusste er noch immer nicht. Letztendlich hatten sich nur so viele neue Fragen ergeben, dass es ihm vorkam, als wäre keine einzige beantwortet worden.
Und jetzt ließ Vicki ihn einfach so sitzen.
Das war eindeutig unfair!
Sie wird sich doch nicht einfach alleine auf den Weg gemacht haben?, dachte er erschrocken und fasste sich unwillkürlich sofort an die Brust. Aber nein, der Stein war noch da und alleine hätte sie ihn ja sowieso nicht zum Tor schaffen können.
„Dieses Atlantis scheint ja ziemlich interessant zu sein”, bemerkte Pauls Vater plötzlich.
Ertappt starrte Paul ihn an.
„Woher weißt du...?”, wollte Paul gerade fragen, da fiel sein Blick auf den Stapel mit den ausgeliehenen Büchern. Erleichtert entspannte er sich.
„Na ja, geht so”, antwortete er betont gelangweilt. „Stand nicht viel Neues drin, nur, was ich sowieso schon gehört hatte.”
Paul zeigte auf den hochgetürmten Stapel. „Die werd’ ich wohl gleich mal wieder zurückbringen, vielleicht haben die ja noch andere Sachen da.”
„Wie wär’s, wenn du dir einen Augenzeugen besorgst?” Augenzwinkernd sah seine Mutter ihn an und grinste. „Dann kannst du ja um ein Exklusivinterview bitten.”
Irgendwie konnte Paul nicht mitlachen, als seine Eltern in schallendes Gelächter ausbrachen.
Enttäuscht trat Paul bald darauf aus der Bücherei und sah sich um. Die Sonne strahlte am Himmel, als wolle sie schon im Frühling die Sonnenscheinstunden für das ganze Jahr zusammenbringen und nur ein leichter Wind spielte mit Pauls Haarspitzen. Es war ein richtig idyllischer Tag und nichts Auffälliges war zu sehen, weder auf der Düne, noch auf der Insel. Als wolle die allgemeine Atmosphäre Pauls Erlebnisse vom Vortag Lügen strafen. Lediglich die Ankündigung eines Unwetters vorhin im Radio passte zu seiner miserablen Laune, und der Besuch in der Bücherei hatte diese nicht gerade verbessert. Kein einziges Buch hatte er mehr ergattern können. Alles, was die Bücherei zu bieten hatte, hatte er gestern schon bekommen.
Einen Augenzeugen finden, sehr witzig!, dachte Paul verärgert, als er darüber grübelte, wie er sonst noch an Informationen kommen könnte. Mein Augenzeuge hat offenbar beschlossen, den Kontakt zu mir abzubrechen.
Gemächlich stieg er die 181 Stufen der Haupttreppe vom Unterland zum Oberland hinauf und blickte von oben erneut zur Düne. Die Dünenfähre tuckerte gerade gemütlich hinüber. An den Stränden der Düne spazierten vereinzelt ein paar Touristen und versuchten sich darin, Bernsteine zu finden und Seehunde zu beobachten. Alles war so wie es sein sollte. Vielleicht war ja doch einfach nur seine Phantasie mit ihm durchgegangen und er hatte letzten Endes alles nur geträumt.
Bestimmt sogar!
Zwar wusste Paul ziemlich genau, dass dem nicht so war, aber ein Eingeständnis hätte auch bedeutet, dass er es akzeptiert hätte und soweit war er einfach noch nicht. Er stapfte nachdenklich und auch etwas ärgerlich durch die Gassen des Oberlandes und bemerkte erst, als er davor stand, dass seine Füße ihn mit traumwandlerischer Sicherheit zu dem einzigen offiziellen Eingang der Bunkeranlagen geführt hatten. Dort unten hatte er den Stein gefunden, der ihm nun all diese unglaublichen Ereignisse bescherte. Und irgendwo hier unter ihm sollte es also liegen, das geheime Tor nach Atlantis.
Laut Vicki.
Einer kleinen geflügelten Fee, die behauptete, nicht nur eine Prinzessin mit Zauberkräften zu sein, sondern obendrein noch bald zur Königin der sagenumwobenen Insel gekrönt zu werden.
So wirklich konnte Paul es immer noch nicht glauben.
Sein Blick fiel auf ein kleines Plakat neben dem Bunkereingang. Die Termine für die Führungen waren dort angeschlagen, nebst Kontaktperson, Preisen und Treffpunkt zur jeweiligen Veranstaltung.
Vielleicht sollte ich noch einmal eine mitmachen, überlegte Paul. Die nächste wäre noch am gleichen Nachmittag. Der Zugang muss doch eigentlich ganz in der Nähe von der Stelle sein, wo ich den Schlüsselstein gefunden habe. Ich brauche also nur noch das richtige Loch zum Schlüssel finden. Vielleicht? Wenn man in etwa weiß, wonach man sucht... Das kann doch nicht so schwer sein, ich will ja nur mal gucken!
Gerade hatte Paul den Gedanken zu Ende gebracht, da war ihm, als hätte er eine Bewegung hinter dem Gitter gesehen, das den Zugang zum Bunker versperrte. Aufgeregt ging er ein Stück näher heran. War da nicht was? Etwas, das noch dunkler war, als das sowieso schon trübe Licht im Bunker?
Als ihm bewusst wurde, was das zu bedeuten hatte, fixierten ihn auch schon zwei giftgrün leuchtende Augen aus dem Dunkel heraus. Eiskristalle schienen sich in Pauls Haut bohren zu wollen. Er fühlte sich plötzlich von der Außenwelt wie abgeschnitten. Eine selbst für Helgoland ungewöhnliche, fast schon schmerzhafte Stille umgab ihn. All die sonst so charakteristischen Geräusche - Meeresrauschen, Möwengeschrei, ein vorbei tuckerndes Fischerboot, das Gebrabbel der ihn umgebenden Menschen - einfach ausgeblendet. Eine Stimme, wie das dunkle Grollen eines Erdbebens, dröhnte ihm aus der Tiefe entgegen.
„Bring mir die Fee und du hast nichts zu befürchten!” Bis dicht an den Bunkereingang war das Untier inzwischen aus der Tiefe hervorgekrochen.
„Niemals!”, schrie Paul, obwohl die Angst ihm wie eine Würgeschlange den Brustkorb zerquetschen wollte.
„Dann hat sich dein Schicksal entschieden”, fauchte der Rochusmensch wutentbrannt, während der Junge die Flucht vor dem Dämon antrat. Als er um die nächste Ecke rannte, konnte er gerade noch erkennen, wie sich der Rochusmensch einem Gespenst gleich durch das Gitter gleiten ließ und die Verfolgung aufnahm.
Wieder rannte Paul um sein Leben, und wieder bewies ihm sein Muskelkater, dass er hellwach war und keineswegs träumte. Er flog geradezu die Stufen der Treppe zum Unterland hinab und versuchte dabei, die Schmerzen in seinen Schenkeln zu ignorieren.
Die anderen Leute auf der Treppe starrten ihn irritiert an. Den einen oder anderen schien er in der Hast auch über den Haufen gerannt zu haben, aber die Panik hatte ihn so im Griff, dass er das Geschimpfe kaum wahrnahm. Er fragte sich vielmehr, warum keiner der anderen Anstoß an dem schwarzen Ungetüm nahm, das inzwischen ebenfalls die Stufen erreicht hatte und ihn mit den grün leuchtenden Augen auszumachen suchte.
Ein älterer Mann, scheinbar ein Insulaner, hielt Paul am Arm fest und redete entrüstet auf ihn ein. Was für ein ungehobelter Rüpel er doch sei, ob er sich nicht wenigstens mal entschuldigen wolle und so weiter. Doch das alles interessierte Paul herzlich wenig. Er nahm nur wahr, dass jemand ihn an der Flucht hindern wollte, wo der Rochusmensch ihn doch fast schon erreicht hatte. Er konnte bereits wieder die Eiskristalle in seine Haut stechen spüren. Ruckartig riss er sich von dem alten Herrn los und rannte wie ein gehetztes Tier weiter.
„Eingebildeter Festlandaffe!”, zeterte ihm der Alte hinterher, doch Paul hörte ihn schon gar nicht mehr.
Wohin nur? Wohin?
Zur Ferienwohnung war es zwar nicht mehr weit, aber er wollte nicht auch noch seine Eltern in Gefahr bringen. Also lief er nach rechts, die Siemensterasse entlang. Wieder musste der eine oder andere „Im-Weg -Rumsteher” dran glauben, unter anderem auch Frau Piel, die aber auch wirklich blöd dastand.
Wenn das so weiter geht, kann ich mich hier bald nicht mehr blicken lassen!, dachte Paul, während sein Herz gegen den Brustkorb hämmerte und er verzweifelt überlegte, wie er den Verfolger am besten würde abhängen können.
Paul bog in eine Seitengasse ab, schlug Haken wie ein Kaninchen und landete schließlich am Südstrand, wo er an den ganzen Hotels vorbei lief und sich in einen der zollfreien Läden am Lung Wai, Helgolands „Hauptstraße” flüchtete. Noch völlig außer Atem tat er so, als würde er die Auslage im Schaufenster bewundern, doch in Wirklichkeit wollte er natürlich wissen, ob der Rochusmensch es geschafft hatte, seiner Spur zu folgen.
Drei, hatte Vicki gesagt, gäbe es von diesen Alptraumgestalten. Ob sie sich wohl alle drei auf Helgoland aufhielten? Was, wenn sie ihn bereits umzingelt hatten? Er würde wohl kaum eine plausible Erklärung finden, warum er sich spätestens zum Ladenschluss nicht aus dem Geschäft bewegen lassen würde. Zumal er offenbar der einzige war, der die Rochusmenschen überhaupt sehen konnte. Von Vicki mal abgesehen. Vielleicht lag das an dem Feuerstein, der ihn mit Atlantis und damit seinen Wesen verband.
Doch zunächst sah auch er keinen einzigen von ihnen und er entspannte sich etwas. Dafür sah eine der Verkäuferinnen ihn und begann auch sogleich ein gut geübtes Verkaufsgespräch.
„Na, junger Mann, womit kann ich dir denn helfen? Vielleicht eine große Tafel Schokolade für die Liebste zu Hause? Oder eine extra große Packung Weingummi?” Als Paul nicht antwortete, wechselte sie blitzschnell die Spur. „Obwohl, so ein sportlicher junger Mann wie du möchte bestimmt gar keine Süßigkeiten? Wie wäre es stattdessen mit einem wunderschönen Helgoländer Leuchtturm? Er blinkt sogar!” Erwartungsvoll lächelte sie ihn an und zeigte auf eine Auswahl besagter Leuchttürme, die im Regal um die Wette blinkten.
„Haben sie auch magische Abwehrzauber oder so was? Das wäre es, was ich jetzt wirklich brauchen könnte”, fragte er die verdutzte Frau. „Nein?” Und ohne eine Antwort abzuwarten, verließ er den Laden hastig wieder. Er wusste selbst nicht, was ihn störte, aber da zog er doch lieber die Gesellschaft eines Dämons vor, als sich weiter das affektierte Gehabe der Verkäuferin anzutun. Kopfschüttelnd sah diese ihm hinterher.
„Wohl zu viele Zauberergeschichten gelesen, was?”, nuschelte sie verärgert und stürzte sich flugs auf den nächsten Kunden.
Unbehelligt von irgendwelchen Rochusmenschen und Verkäuferinnen erreichte Paul kurz darauf die Ferienwohnung. Kaum hatte er die Türe hinter sich geschlossen, als die wohlige Wärme und die vertraute Umgebung dafür sorgten, dass die Anspannung schlagartig von ihm abfiel. Er musste sogar etwas grinsen, als er sich noch einmal das entrüstete Gesicht der Verkäuferin ins Gedächtnis rief. Sie würde ihr mechanisches Grinsen wohl an einen anderen Kunden verschwenden müssen. Paul dachte an das Plakat am Bunkereingang mit den Terminen der nächsten Führungen. Inzwischen hatte er beschlossen, tatsächlich die Bunkerführung später am Nachmittag mitzumachen. Er hoffte inständig, das Monster würde sich mittlerweile woanders aufhalten und nicht wieder am Eingang Stellung bezogen haben. Jetzt galt es nur noch, seine Eltern von der Notwendigkeit eines erneuten Besuches der Anlagen zu überzeugen. Sein Taschengeld hatte er schließlich schon direkt zu Anfang des Urlaubes verbraten. Davon würde er sich höchstens noch eine Pommes leisten können. Hoffentlich kämen sie nicht gleich auf die Idee mitzukommen, dann hätte sich die geplante Extratour in den einen oder anderen Nebenstollen wohl gleich erledigt.
Doch zunächst einmal waren seine Eltern gar nicht da. Ein Zettel lag auf dem Tisch, darunter klemmte ein Fünf-Euro-Schein.
Sind bei Kwitschinskis zum Kaffee
eingeladen. Hol’ dir von dem Geld
bitte etwas zu essen.
(Aber etwas Vernünftiges!!!)
Kannst ja später nachkommen, wenn du magst.
Ansonsten noch einen schönen Tag!
Mama & Papa
Perfekt! Somit waren alle Probleme auf einmal gelöst. Er hatte genügend Geld für den Eintritt und seine Eltern stünden ihm auch nicht im Weg. Schlagartig verbesserte sich Pauls Laune. Der Zwischenfall mit dem Unhold war schon fast vergessen.
Dass er sowohl den Rochusmenschen als auch das Felsinnere noch besser kennenlernen würde, als ihm lieb war, ahnte er zum Glück noch nicht.
„Da bist du ja endlich!” Mit vorwurfsvoller Miene saß Vicki auf der Küchenzeile.
„Das Gleiche könnte ich ja wohl zu dir sagen”, gab Paul entrüstet zurück, dem vor Schreck beinahe das Herz stehen geblieben wäre. „Erst fängst du an, mir lauter unglaubliches Zeug zu erzählen und dann verschwindest du einfach und lässt mich allein mit all den Fragen.”
„Und mit dem Rochusmenschen”, fügte er noch beleidigt hinzu.
„Du bist einem von ihnen begegnet? Was wollte er von dir?”
Vicki schien ernsthaft besorgt zu sein und diese Tatsache besänftigte Paul ein wenig. „Er wollte dich! Er meinte, wenn ich dich ihm übergeben würde, dann hätte ich nichts zu befürchten.”
Vicki sah auf einmal ganz grau und irgendwie stumpf aus. Bei genauer Betrachtung bemerkte Paul, dass das geheimnisvolle Leuchten, das immer von der Fee ausgegangen war, wieder wie ausgeknipst wirkte.
Wahrscheinlich ist das ihre Art, vor Schreck blass zu werden, vermutete er im Stillen.
Aufgeregt war die Fee vor ihn auf den Tisch geflattert. „Und was,... Was hast du gemacht?”
„Ich habe dankend abgelehnt und gesehen, dass ich weg kam.” Betont lässig lehnte Paul sich auf seinem Stuhl zurück und beschloss, ihr besser nichts davon zu erzählen, dass er sich vor Angst beinahe ins Hemd gemacht hatte.
„Dann hast du also das Chaos auf der Treppe angerichtet?”
Knips, da war das Leuchten wieder.
„Du solltest die nächste Zeit besser nur noch mit Tarnkappe vor die Tür gehen, mein Lieber. Deine, ich zitiere „rücksichtslose Gestalt, die harmlose Kurgäste wie von Sinnen über den Haufen rennt” scheint da draußen nicht sonderlich erwünscht zu sein. Deine Aktion ist das Thema des Tages!”
Diese Ankündigung hatte durchschlagende Wirkung, denn augenblicklich sackte die lässige Gestalt auf dem Stuhl in sich zusammen.
„Oh Mann, was hättest du denn an meiner Stelle gemacht?", sagte Paul deprimiert. „Ich mein, ich bin ein ganz normaler Junge, der seit er denken kann, jedes Jahr viel Zeit hier verbracht hat. Das ist hier sozusagen mein zweites Zuhause. Hier war immer alles in Ordnung.
Bis gestern zumindest.
Und auf einmal passieren mir Sachen, wie in einem schlechten Film. Fabelwesen reden mit mir, Monster greifen mich an... Und da soll einem nicht die Muffe gehen? Außerdem hast du mich gestern selber dazu aufgefordert, so schnell ich kann wegzurennen. Ich weiß ja noch nicht einmal, was mir geschehen würde, wenn er mich bekäme.”
War da nicht eine Spur von Mitleid in Vickis sonst eher amüsiert wirkendem Blick?
„Warum passiert mir das alles, Vicki?”
„Das erklär’ ich dir alles ein andermal. Jetzt müssen wir -”
„Ein andermal, ein andermal”, unterbrach Paul sie ärgerlich. „Immer alles ein andermal. Was glaubst du eigentlich, wie viel Zeit wir noch haben? Übermorgen reisen wir ab!”
„Eben drum”, würgte die Fee ihn energisch ab. „Eben weil wir nicht viel Zeit haben, kann ich dir das alles erst erzählen, wenn wir erstmal unterwegs nach Atlantis sind. Jetzt müssen wir zusehen, dass -”
Aber wieder unterbrach Paul sie.
„Was soll das heißen, wenn wir erstmal unterwegs sind? Du glaubst doch nicht etwa...?” Die Erkenntnis traf ihn wie ein Schlag in die Magengrube. Natürlich! Was sonst hätte sie von ihm gewollt haben können als das? Sie konnte den Schlüsselstein schließlich nicht zum Tor schaffen, das war ihm ja auch klar gewesen. Aber hatte sie nicht auch von mehreren Toren auf dem Weg nach Atlantis gesprochen? Das würde bedeuten, das sie von ihm jetzt erwartete...
„Nein! Nein! Nein und noch mal nein! Auf gar keinen Fall und niemals und nie!”
Deutlicher hätte er es wohl kaum ausdrücken können.