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Köln Nippes, gegen 15 Uhr

Schweigend saßen Frey und Haferkorn auf der Rückbank des Polizeiwagens, der sie zum Fundort der Leiche nach Köln Nippes brachte. Sie hätten sich sicher viel zu sagen gehabt, aber es lag nicht nur daran, dass Müllenbeck zwischen ihnen saß, warum jeder für sich stumm aus dem Fenster starrte.

Frey war schlichtweg überfordert mit den Ereignissen des bisherigen Tages. Auch wenn man ihm gegenüber mittlerweile etwas wohlgesonnener zu sein schien, die Anschuldigungen hatten ihn doch hart getroffen. Zusätzlich malträtierten ihn noch die Videos, die man ihm gezeigt hatte und nun in Endlosschleife durch seinen Kopf spukten.

Dieses unerträgliche Leiden der Opfer.

Echtes Leiden.

Nicht wie am Filmset, wo zwischen den Szenen auch schon mal makabere Scherze gemacht wurden, selbst von den „Opfern“, die das teilweise auch brauchten, um die nötige Distanz zu den Taten zu bekommen.

Das hier war echt. Verdammt echt.

Und dann war da noch die Sache mit Walter. Welche Rolle spielte er nur in dieser grausamen Geschichte? Sein eigenartiges Geständnis irritierte Frey zutiefst. Er kannte ihn schon seit über zwanzig Jahren und hätte ihm sein Leben bedingungslos anvertraut. Bis zum heutigen Tag hatte er nie an Walters vollständiger Integrität gezweifelt.

Mit leerem Blick sah er aus dem Fenster und nahm doch nicht das Geringste wahr. Er war völlig erschöpft und hatte eine Wahnsinnsangst vor dem, was ihn gleich noch erwarten würde. Man hätte Herwig nicht informiert, wenn der Fall nicht wieder im Zusammenhang mit den aktuellen Geschehnissen rund um die Serie stünde. Wenn der Irre sich an die Reihenfolge hielt – und davon war Frey überzeugt – dann würde es in der Tat sehr gruselig werden.

Magensaft arbeitete sich langsam seine Speiseröhre hinauf und ihm wurde wieder schlecht.

Haferkorn hingegen focht einen erbitterten Kampf mit der eigenen Courage. Ein ganz winziger Teil in ihm bedauerte seinen Entschluss, sich der Polizei offenbart zu haben und dafür schämte er sich zutiefst.

Völlig perplex hatten er und Breckerfeld mit ansehen müssen, wie Herwig mit seinen Leuten in Begleitung von etwa zehn uniformierten Kampfmaschinen die Firma förmlich geentert und Christoffer unter Mordverdacht stehend, verhaftet hatten.

Haferkorn wusste, von welchen Morden da die Rede war.

Ganz im Gegensatz zu Frey, den es wirklich eiskalt erwischte.

Was hätte er Christoffer nicht alles ersparen können, hätte er sofort den Mund aufgemacht! Zumindest einen Teil der Verdächtigungen gegen seinen Freund und Zögling hätte er schon an Ort und Stelle entkräften können.

Stattdessen hatte er sich dazu entschlossen abzuwarten und darauf zu bauen, dass sie Christoffer schließlich nichts nachweisen konnten.

Um seinen eigenen Hintern zu retten.

Er war also erst mal zum Präsidium hinterher gefahren und hatte dort deutlich das Profil seiner Schuhe dezimiert, indem er ununterbrochen auf dem Flur auf- und abmarschierte und hoffte, jeden Moment würde die Tür aufgehen und ein gut gelaunter und rehabilitierter Christoffer käme heraus. Es war auch einiges an Betrieb in dem engen Gang, sein Freund tauchte jedoch nicht wieder auf.

Haferkorn hatte seinen gesamten Charme aufgebracht und gezeigt, dass man auch mit 55 Jahren, Vollglatze und stolzen 130 Kilogramm Lebendgewicht auf 1,85 Meter Körpergröße noch Frauen umgarnen konnte und so hatte er zumindest in Erfahrung bringen können, was genau man Frey überhaupt vorwarf.

Das war dann der Moment gewesen, in dem ihm klar geworden war, dass er seinen Kopf nicht aus der Schlinge bekäme, ohne Christoffer zu opfern. Und das kam natürlich überhaupt nicht in Frage.

Also war er kurzerhand zu dem Büro gestiefelt in dem man Frey festhielt, hatte resolut die beiden Wachhabenden beiseite geschoben und sein unerwartetes Geständnis abgelegt. Er würde so einiges zu erklären haben, wenn sie erst mal begannen, ihn zu befragen und er hoffte, dass Christoffer ihn anschließend nicht verachten würde. Denn, so gut die beiden sich auch kannten, das eine oder andere dunkle Geheimnis hatte er schon noch. Selbst seine Frau Elli wusste längst nicht alles über seine Aktivitäten.

Indirekt war sie sogar mit Schuld, dass Frey und er jetzt in diesem Schlamassel steckten. Hätte sie nicht so einen Stress gemacht...

Nein, das war unfair. Er selbst und niemand sonst hatte das zu verantworten. Diese verfluchte Mail aber auch!

Haferkorn, der an sich eine sehr glückliche Beziehung mit Elli genoss, hatte schon früh festgestellt, dass er sexuelle Vorlieben besaß, die Elli niemals mit ihm teilen würde. In der irrigen Annahme, all die positiven Seiten ihrer Beziehung würden ihn diese Bedürfnisse vergessen lassen, hatte er sie eine Zeit lang verdrängt. Irgendwann hatte er jedoch einsehen müssen, dass sich gewisse Neigungen nicht einfach ignorieren oder wegdiskutieren lassen und er wurde zunehmend von ihnen eingeholt. Eine Weile war er ziemlich ratlos gewesen, wie er damit umgehen sollte. Denn wenn er Elli gestanden hätte, dass er sie beim Sex gerne gefesselt und geschlagen hätte, sie hätte ihn sicher sofort verlassen. Und „nur“, weil ihm sexuell etwas fehlte, die traumhafte Beziehung aufzugeben, das konnte es ja wohl auch nicht sein.

Daher hatte er nach Alternativen gesucht, seinen Bedürfnissen Nahrung zu geben, ohne seine Elli betrügen zu müssen.

Das Internet bot einem da reichliche Möglichkeiten und Walter klickte sich durch zahlreiche Portale, Foren und Anbieter von Hardcore Pornos. Doch gab es meist überall das selbe Problem; die Filme wirkten einfach zu gestellt, die Mitwirkenden oftmals unglaubwürdig. Auf Dauer brachten ihm diese Clips also auch nichts. Über einen befreundeten Hacker war er dann an ein neues – und darin bestand das Hauptproblem – nicht ganz legales Suchprogamm gekommen, welches das Netz nach etwas spezielleren Filmen durchsuchte. Dabei war er auch immer wieder auf Pornos gestoßen, deren Darstellerinnen ganz sicher unfreiwillig in den Filmen auftauchten. Mit schlechtem Gewissen hatte er stets weitergeklickt, vergessen konnte er sie aber nicht. War das nicht genau das, was er zuvor immer bemängelt hatte? Dass die Filme nicht echt genug wirkten? Diese waren ihm aber nun wiederum zu echt. Irgendwann hatte er sich jedoch mit seinem schlechten Gewissen arrangiert und hatte klammheimlich auch das eine oder andere dieser Videos angesehen. So hatte er seinen Kopf frei gemacht für den Blümchensex am Abend mit der geliebten Elli und sich anschließend für seine eigene Doppelmoral gehasst.

Bis er auf die Foltervideos gestoßen war, die Christoffer nun so in Bedrängnis brachten. Schockiert hatte Haferkorn mit angesehen, wie die Frauen ums Leben gekommen waren und hatte sofort den Bezug zur Serie erkannt. Und das nicht nur, weil der oder die Täter die Filmchen zynischerweise nach den Serienfolgen benannt hatten.

Doch was damit tun?

Ignorieren konnte er das nicht, zur Polizei gehen aber genauso wenig, ohne dass sein schmutziges Geheimnis aufgeflogen wäre.

Dann kam ihm die rettende Idee. Er würde der Presse einen Hinweis geben und die würde sich dann schon an die Polizei wenden. So wäre er aus dem Schneider und könnte dennoch sicher sein, dass die Sache verfolgt wird.

So hatte er sich das zumindest vorgestellt.

Und es hätte sicherlich auch funktioniert, wenn er den Kopf noch ein wenig länger eingeschaltet gelassen hätte, bevor er handelte.

Doch sein Kopf war schon in der Nähe von Hamburg, wo Elli bereits in ihrem kleinen Ferienhaus am See darauf wartete, dass sie endlich, mit einem Jahr Verspätung, ihre Silberhochzeit nachfeiern würden.

Gefühlt alle fünf Minuten schepperte sein Telefon und Elli fragte nach, ob er schon unterwegs sei und wann er denn nun endlich kommen würde, er wisse doch, dass auch Freunde da wären und überhaupt habe sie die Nase voll davon, stets hinter seinen Firmenterminen zurück stehen zu müssen.

So genervt Haferkorn dadurch auch war, musste er ihr doch recht geben. Sie hatte schon unendlich viel Verständnis gezeigt für seine meist spontanen und ach so wichtigen Termine. Aber nachdem er letztes Jahr die Silberhochzeitsfeier hatte platzen lassen, weil er meinte, unbedingt an diesem Tag mit den Dreharbeiten für die neue Brender-Staffel beginnen zu müssen, war es ihr dann doch zu viel geworden und er hatte eine ganze Weile Dackelaugen zur Schau tragen müssen, um sie zu besänftigen. Demzufolge hatte er zugesehen, dass er sie diesmal nicht wieder enttäuschte und endlich los kam.

Doch als wäre eine stressende Ehefrau nicht schon genug gewesen, hatte Christoffer auch noch ein paar Termine telefonisch mit ihm abklären wollen, wofür er Freys Kalender brauchte. Also musste er noch einmal in dessen Büro und dass, wo er doch fast schon auf dem Weg zum Parkplatz gewesen war. Missmutig hatte er zugesehen, wie der PC langsam, nein, elendslangsam hochgefahren war. Denn zu allem Überfluss besaß Frey keinen ordinären Terminkalender, wie er auf Haferkorns Schreibtisch zu finden war, sondern selbstverständlich einen Organizer im Computer.

„Was machst du eigentlich, wenn dein Computer mal abstürzt?“, hatte er seinen Freund gefragt, der am anderen Ende der Leitung hing und Haferkorns neuerliches Gefluche über die Lahmarschigkeit des PCs geduldig über sich ergehen ließ.

„Vielleicht sollten wir einfach mal ordentlich aufrüsten, wenn wir mit der neuen Brender-Staffel durch sind“, lachte er. „Dann sind auch meine Termine vorerst sicher.“

Schnell hatten sie die Termine abgeglichen, zwischendurch mit zwei Hörern gleichzeitig am Ohr, weil Kitty, die gute Seele des Hauses, ihm auch noch das Gerät aus dem Empfangszimmer herein brachte und an dem – welche Überraschung – Elli noch mal ordentlich Dampf machte.

Glasklar erinnerte Haferkorn sich an jede noch so banale Situation dieses Tages vor nicht ganz einer Woche, nur nicht daran, was ihn geritten hatte, besagte Mail an Özkilic noch schnell von dort aus zu schicken, wo er sich gerade befand.

Von Freys Computer!

Was hatte er da nur angerichtet?

Es war Herwig, der Frey und Haferkorn aus ihren trüben Gedanken riss.

„Wir sind gleich da. Den Kollegen vor Ort zu Folge, werden wir es mit ziemlich ekligem Getier zu tun bekommen. Wir sind also in der zweiten Staffel angekommen.“

Frey nickte nur bestätigend und sah wieder aus dem Fenster. Haferkorn holte tief Luft, als wolle er etwas sagen, schwieg dann aber doch. Vielleicht hatte sich ihm auch nur der Magen umgedreht. Nicht nur Frey fragte sich, welche Rolle Haferkorn wohl spielte. Er hatte zugegeben, Özkilic angeschrieben zu haben. Mit den Morden habe er, selbstverständlich, nichts zu tun. Die ganze Geschichte wurde immer verwickelter.

„Worum geht es in diesem vierten Fall?“, fragte Müllenbeck von hinten. Er war der Einzige von ihnen, der es tatsächlich geschafft hatte, noch keine einzige Folge von „Brender ermittelt“ gesehen zu haben, was Herwig ihm ein bisschen neidete.

„Sie müssen entschuldigen“, sagte Müllenbeck an Frey gewandt. „Ich muss gestehen, dass mir Ihre Serie bislang völlig unbekannt war.“ Frey zog eine eigenartige Grimasse. Vermutlich sollte es ein verständnisvolles Lächeln sein, sah jedoch ziemlich verrutscht aus. Da Herwig Müllenbeck offenbar keine Antwort auf seine Frage geben wollte, erläuterte der Schauspieler ihm den Inhalt von „Die Rache der Unschuldigen“.

„Die Folge handelt von einem religiösen Fanatiker. Er rächt sich an Menschen, die nicht achtsam mit empfindungsfähigen Wesen umgehen. Seine Opfer sind sowohl Manager großer Ölkonzerne, als auch Forscher der Pharmaindustrie oder einfach wildfremde Leute, die, ohne es zu merken, in seinem Beisein eine Ameise zertreten haben.“

Bereits an dieser Stelle brach Frey das erste Mal die Stimme, wie Herwig mit grimmiger Zufriedenheit zur Kenntnis nahm. Er dachte gar nicht daran, Frey diese Aufgabe abzunehmen. Er hatte sich den Mist ausgedacht, dann sollte er auch damit klarkommen.

„Er hat … er hat ein großes Wasserbecken aus Glas, eine Art Aquarium oder besser Terrarium“, fuhr Frey zu Herwigs Überraschung zögerlich fort. Aber je länger er sprach, desto schwächer wurde seine Stimme, bis er nur noch schlucken und krächzen konnte. „Er legt die von ihm zum Tode Verurteilten gefesselt da rein und … Und gibt Unmengen an Maden, Würmern, Käfern und anderem Viehzeug mit in das Becken, verschließt es und beobachtet dann … Naja, den Rest können Sie sich wohl...!“ Ein kräftiges Schlucken beendete die Erzählung.

Herwig sah in den Rückspiegel und konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Gleich drei blasse Gesichter leuchteten ihn da an.

„Ich glaub', so genau will ich es dann auch gar nicht wissen,“ kam es von Müllenbeck. So sehr er sich auch bemühte, seine Stimme männlich und fest klingen zu lassen, es gelang ihm nicht wirklich.

Ben war noch nicht lange fester Bestandteil seiner Truppe. Er war mit gerade mal 29 Jahren der Jüngste in seinem Team und hatte noch nicht viel Erfahrung an der „Front“, wie Herwig ihren Arbeitsbereich zu nennen pflegte. Müllenbeck hatte, wie jeder von ihnen, nach der Ausbildung zum Kriminalbeamten erst mal eine Zeit lang bei der Schutzpolizei seinen Dienst verrichtet und sich dann auf Cyberkriminalität spezialisiert. Demzufolge hatte er fortan hauptsächlich in Büros und an PCs gesessen, was ihn im Vergleich zu seinen Anfängen bei der Polizei ein wenig behäbig hatte werden lassen. Herwig und Grzyek versuchten dem unauffällig entgegenzuwirken, indem sie ihn alle „Laufburschentätigkeiten“ verrichten ließen und ihn so ein wenig auf Trab hielten.

Außer Rina und Ben gehörte noch Joachim „Jojo“ Karstens zu seinen Leuten, doch der Glückliche befand sich auf Hochzeitsreise und ahnte noch gar nicht, dass seine Kollegen gerade die Tage und Nächte durcharbeiteten, während er sich die Sonne auf den Bauch scheinen ließ.

Als Grzyek nach links abbog, konnten sie gleich sehen, dass sie ihr Ziel erreicht hatten. Wie Leuchtreklame wiesen die zahlreichen Blaulichter den Weg, auch wenn ihnen die Sicht von einer ganzen Schar Schaulustiger versperrt war.

Und natürlich von der Presse.

Verschiedene Kamerateams hatten bereits ihre Gerätschaften aufgebaut und lauerten auf die erste offizielle Stellungnahme der Polizei. Die Wartezeit vertrieb man sich mit Interviews mehr oder weniger fragwürdiger Art und Live-Schaltungen zu sogenannten Experten. Denn, dass die aktuellen Morde, die der Polizeibericht verzeichnete der Brender-Serie nachempfunden waren, hatte auch der letzte von ihnen inzwischen bemerkt und die Gerüchteküche brodelte gewaltig.

Herwig bereute augenblicklich, dass er darauf bestanden hatte, Frey mit zum Einsatzort zu nehmen. Die ersten Neugierigen hatten ihn schon erblickt und bildeten eine Traube um den mittlerweile geparkten Wagen. Ein Blitzlichtgewitter ging auf sie nieder und Mikrofone bedeckten die Scheiben des Fahrzeugs, als hofften ihre Besitzer, das Glas würde sich entmaterialisieren und ihnen Zugang zu den erhofften Schlagzeilen verschaffen, solange sie nur fest genug drückten.

„Da vorne ist auch Özkilic“, bemerkte Grzyek und deutete auf einen der vielen Journalisten, die gerade vor der Kamera den aktuellen Stand der Dinge zusammenfassten, was eigentlich noch nicht viel sein konnte. Herwig wartete, bis die von Grzyek per Funk angeforderten Kollegen den Wagen freigeräumt hatten, dann forderte er alle auf auszusteigen und ihm zügig zu folgen.

„Für Autogrammstunden ist jetzt nicht der richtige Augenblick“, sagte er sarkastisch und wandte sich zu Frey um. Doch dem war das Kameralächeln gründlich vergangen, wie es aussah. Eher schien er überall, nur nicht hier sein zu wollen. Auch Haferkorn wäre anscheinend lieber im Wagen geblieben. Dabei hätte der Kommissar wetten können, dass die beiden jetzt eine gewaltige PR-Nummer aus der Geschichte gemacht hätten. Vielleicht hatte er sie doch falsch eingeschätzt.

„Gehen wir zuerst zu Özkilic“, meinte Müllenbeck beim Aussteigen. „Der kann uns sicher schnell aufklären, was hier los ist.“

Das war zwar nicht ganz ernst gemeint, aber auch nicht gerade die schlechteste Idee und so bahnten sie sich mühsam einen Weg in die entsprechende Richtung.

Als Herwig Tim Özkilic das erste Mal gesehen hatte, hatte er an einen Scherz geglaubt. Denn allen Annahmen zum Trotz, er würde vorurteilsfrei durch sein Leben gehen, hatte er bei dem Namen Özkilic ganz bestimmt nicht mit dem gerechnet, was er zu sehen bekam. Özkilic sah so wenig türkisch aus, wie man nur aussehen konnte. Er war strohblond, riesengroß, hatte fast schon kitschige, klischeehafte blaue Augen und wäre eher als Schwede, denn als Türke durchgegangen. Doch seine Mutter war Deutsche und er hatte wohl eher ihr Äußeres geerbt, war jedoch zweisprachig und mit den Lehren des Islam groß geworden.

Zwischendurch verlor Herwig den Journalisten trotz seiner bemerkenswerten Größe aus den Augen, weil er selber ständig ein Mikrofon unter die Nase gehalten bekam.

Doch obwohl er hartnäckig jede Stellungnahme verweigerte, kamen sie kaum voran.

Erst durch die Kollegen abgeschirmt gelangten sie schließlich zu Özkilic, der inzwischen einen Interviewpartner hatte und mit betroffener Miene seine Fragen stellte.

„Dann waren Sie es also, der das bedauernswerte Opfer gefunden hat?“

Der Mann, dem die Frage galt, polterte sogleich laut los.

„Na, und ob ich das habe. Ist 'ne verdammte Sauerei das hier! Früher, da hätte es so was nicht gegeben. Is' alles das verdammte Fernsehen und Computerzeug schuld, sag ich Ihnen. Das macht die Leute krank im Kopf!“

Bevor Özkilic zur nächsten Frage ansetzen konnte, kam von irgendwo

eine schrille Frauenstimme, gefolgt von einem mageren aber durchaus drahtigen Arm und der Mann wurde einfach vor laufender Kamera weggepflückt.

„Der Mann von der Polizei hat doch extra gesagt, dass du bei ihm bleiben sollst, weil er noch ein paar Fragen an dich hat, Hermann“, keifte die Frau und schob ihn resolut zu dem Haus hinüber, das der Schauplatz des Geschehens zu sein schien.

Verdutzt sah Özkilic den beiden hinterher, dann moderierte er ab und kam zu Herwig herüber.

„Herr Kommissar“, begrüßte er ihn herzlich. „Kommen Sie, um mir zu sagen, wem ich diese ominöse Mail verdanke?“

Haferkorn starrte angestrengt seine Schuhspitzen an.

Dann erblickte der Journalist Frey und man sah ihm förmlich an, wie er 1&1 zusammenzählte. „Ah, dann habe ich also richtig gelegen mit meinem Verdacht, dass alles mit „Brender ermittelt“ zu tun hat? Und Sie haben gleich den Fachmann hinzugezogen, wie ich sehe!“

Für einen Moment drohten Herwig die Gesichtszüge zu entgleisen, doch er war Profi genug, sich zu beherrschen.

„Ja, genau. Als Profi“, sagte er und dem geübten Ohr entging der mitschwingende Unterton keineswegs. Frey sagte er jedenfalls, dass er noch längst nicht aus der Schusslinie war.

Özkilic konnte ihnen tatsächlich einen ziemlich genauen Abriss dessen geben, was sich im Keller des mehrstöckigen Mietshauses zugetragen haben sollte. Viel mehr konnte ihnen der herbeieilende Kollege der Kripo auch nicht mitteilen.

Hermann Biesenbach, wie der ältere Mann, den Özkilic hatte interviewen wollen, mit vollem Namen hieß, war zwar Mieter in dem zehn Parteien zählenden Haus, erledigte aber als Minijobber auch Hausmeistertätigkeiten für die Wohnungsgesellschaft, der das Haus gehörte. In dieser Funktion war er auch beauftragt worden, im Keller nach dem Rechten zu sehen, weil Scharen von Ameisen aus der Parzelle des neuen Mieters dringen würden und man merkwürdige Geräusche vernehmen könne.

Als Biesenbach dann, nach minutenlanger Suche mit den von der Gicht versteiften Fingern endlich den richtigen Schlüssel gefunden hatte, war er sich vorgekommen, wie in einem Film von Alfred Hitchcock. Der ganze Raum schien angefüllt zu sein, mit fliegendem, krabbelndem und kriechendem Getier. Die eine oder andere Ratte war an ihm vorbeigehuscht, kaum dass er die Tür geöffnet hatte und sorgte bei den übrigen Nachbarn, die sich neugierig auf dem oberen Absatz der Kellertreppe stapelten, für ein ordentliches Gekreische.

Betont lässig hatte Biesenbach den Raum betreten und das Gekeife seiner Frau ignoriert, die der Meinung war, er solle die Tür lieber gleich wieder schließen und den Kammerjäger rufen.

„Das ist keine Aufgabe für dich“, hatte sie mit sich überschlagender Stimme den Gang hinunter gerufen. „Hinterher schleppst du das Viehzeug noch mit in die Wohnung!“

Biesenbachs Antwort war seiner Aussage zu Folge nicht sehr freundlich gewesen, eher so etwas wie: „Ach was, Weib, halt doch einfach mal deinen Sabbel!.“

Er hatte das Fenster öffnen wollen, um zumindest schon mal das fliegende Getier loszuwerden. Da erst hatte er inmitten der zuckenden und krabbelnden Masse die zertrümmerten Reste des Terrariums und die darin befindliche Leiche entdeckt. Nun war es an ihm gewesen, ein Kreischkonzert zu geben.

Als die von seiner Frau umgehend informierte Polizei eingetroffen war, hatte er noch immer am selben Fleck gestanden und japsend um Atem gerungen.

Wie zuvor schon bei den anderen Toten, handelte es sich auch diesmal wieder um eine Frau. So viel hatte die anwesende Gerichtsmedizinerin, Vanessa vom Stein auch ohne Labor und Obduktionstisch sagen können und ebenfalls wie bei den anderen, trug auch diese Leiche einen kleinen Zettel mit Widmung an Tom Lenz dort, wo einmal ein Zeh gewesen war.

Als Herwig, Grzyek und Müllenbeck den Keller betraten, waren die Kollegen von der Spurensicherung gerade dabei, alle Details fotografisch festzuhalten und potentielle Beweismittel einzutüten, damit endlich jemand kommen und das Gekrabbel wegräumen konnte. Von irgendwoher war ein verdächtig vertrautes Würgegeräusch zu hören.

„Ein Neuer?“, fragte Herwig und nickte in Richtung der Geräusche.

„Nein“, grinste vom Stein. „Ein angehender Schriftsteller, der unbedingt praxisnah recherchieren wollte, bevor er anfängt zu schreiben.“

„Na, wenn der mal nicht eine ordentliche Schreibblockade hat, nach dem Erlebnis“, meinte Grzyek trocken. „Wer weiß, vielleicht wird es dann doch eher ein Selbsterfahrungsbericht, als ein Krimi.“

Doch wenn sie alle ehrlich zu sich selber gewesen wären, hätten sie sich sicherlich liebend gern dazu gestellt. So einen Anblick brachte einem der Alltag selbst in ihrem Job nicht oft.

Zum Glück nicht.

„Kannst du schon irgendwas sagen, Vanessa? Irgendwas, was dir ins Auge gesprungen ist?“

Als vom Stein sich zu Herwig umdrehte, um ihm zu antworten, lächelte sie schief. Seine Wortwahl hatte etwas ungewollt Komisches, bei all dem Gewusel zu ihren Füßen.

„Nichts, was euch weiterhelfen würde oder was ihr nicht selber seht. Ich muss sie wirklich erst genauer untersuchen. Ich kann euch aber sicher im Verlaufe des Abends Näheres zum vermuteten Todeszeitpunkt sagen und ob sie schon tot war, bevor man sie den Tieren überließ. Eigentlich kann man das nur für sie hoffen...“

Sie alle überlief bei ihren Worten ein unangenehmes Schaudern. Selbst Müllenbeck ahnte, ohne die „dazugehörige“ Folge zu kennen, dass die Frau keineswegs schon vorher tot war.

„Was ist mit dem Mieter, dem der Keller hier gehört? Hat man den schon aufgetrieben?“, wollte Grzyek wissen.

„Nicht dass ich wüsste. Aber sie suchten gerade nach diesem Biesenbach, der die Tote gefunden hat. Kurz bevor ihr herein gekommen seid. Als Hausmeister soll er wohl von allen Türen einen Zweitschlüssel besitzen.“

„Oh, den dürfte seine Frau inzwischen bei den Kollegen abgeliefert haben“, grinste Müllenbeck in Erinnerung an die Szene vor dem Haus.

„Dann gehen wir doch mal sehen, ob sie die Wohnung schon auf haben!“

Frey und Haferkorn waren, von zwei Uniformierten bewacht, im Hausflur zurückgeblieben und schwiegen sich an. Der mindestens faustgroße Knoten im Hals des Schauspielers hätte auch gar keine Unterhaltung zugelassen und Haferkorn war dankbar für jede Minute, in der ihm eine peinliche Beichte erspart blieb.

Schließlich hielt er es aber einfach nicht mehr aus. Die Vorstellung, dass Christoffer ihn nach allem was er wusste, für den Mörder halten musste, war unerträglich für ihn. Lieber die Verachtung in den Augen seines Freundes sehen, für das, was er wirklich getan hatte, als die Hilflosigkeit, die Freys ganze Erscheinung derzeit ausdrückte.

„Christoffer, bitte, lass mich dir erklären...“, begann er unsicher.

Dieser sah ihn zwar an, zuckte aber nur resigniert mit den Schultern. Was auch immer Walter ihm zu sagen hatte, er glaubte nicht, dass er es hören wollte. Aber er hätte ja nicht einmal mehr die Kraft gehabt, ihn davon abzuhalten, also wartete er auf das Unvermeidbare.

„Ich weiß ehrlich gesagt gar nicht, wie ich anfangen soll … und wie ich Elli das alles erklären soll …“

„Vielleicht solltest du erst mal der Polizei erklären, was du getan hast!“, giftete Frey ihn an. Ohne jede Vorwarnung war der Knoten in einer Explosion aufgegangen und eine Welle der Wut und Verzweiflung übermannte ihn, die ihn zu zerreißen drohte.

„Die wollen mir diese Morde anhängen! Mir! Warum???“ Wild gestikulierend stapfte Frey unter den wachsamen Augen der Kriminalbeamten den Hausflur auf und ab. „Was zum Teufel hast du getan, Walter?“

Haferkorn sah betreten zu Boden. Er konnte seinem Freund einfach nicht in die Augen gucken.

„Walter!“

„Ja. Ja, Du hast ja recht. Es ist alles meine Schuld. Ich hab' da Riesenbockmist gebaut! Das tut mir …!“

„Was? So Leid?“, fuhr Frey ihm dazwischen und blieb wie angewurzelt stehen. „Oh, wie tröstlich!“

„Bitte, Christoffer!“, flehte Haferkorn. „Hör mich bitte an! Ich hab' das wirklich nicht gewollt.“ Er wirkte tatsächlich ziemlich zerknirscht und da Frey wusste, dass Walter in Sachen Schauspielerei vollkommen talentfrei war, glaubte er ihm sogar. „Nun, ich höre!“

Haferkorn sah sich verstohlen um. Er hätte sich all die Polizisten am Liebsten weggewünscht, aber er musste wohl damit leben, dass zumindest die Beiden in unmittelbarer Nähe sein Geständnis miterleben würden. Er holte noch einmal tief Luft, dann begann er zögerlich, später aber zunehmend hastiger redend, seine Geschichte zu erzählen.

Er berichtete von seiner Erkenntnis, dass Elli und er sexuell unterschiedlich gepolt seien, was er gegen seine immer intensiver werdenden Bedürfnisse unternommen und wie er sie über Jahre hinweg heimlich ausgelebt hatte. Dass er Elli nicht verlieren wollte und deshalb so gehandelt hätte. Wie er schließlich an das illegale Programm gekommen war, das ihm völlig neue Möglichkeiten bot. Dass er Elli nicht verlieren wollte und nur aus diesem Grund solche Filme gesehen hätte und wie ihm schier das Herz stehengeblieben war, als er die Filme von den Morden entdeckt habe. Dass er aber nicht zur Polizei gehen konnte, weil er Elli ja nicht verlieren wollte und deshalb auf die Idee gekommen war, der Presse einen Wink zu geben und wie es dazu gekommen war, dass er das von Freys Computer aus getan hatte. Und natürlich, dass er Elli nicht verlieren wolle.

„Ich habe keine Ahnung, was mich da geritten hat“, schloss Haferkorn seinen Bericht. „Ich schätze mal, ich wollte dem Ganzen den nötigen Nachdruck verleihen – und habe wohl deshalb mit Tom Lenz unterschrieben.“

Einen kurzen Moment lang hatte er das Gefühl, einen Befreiungsschlag getan zu haben, doch als er sah, dass Frey ihn wie einen ekeligen Außerirdischen musterte, sackte er kraftlos in sich zusammen. Es war, wie er befürchtet hatte, sein Zögling, der immer zu ihm aufgeblickt hatte, worauf Haferkorn stets stolz gewesen war, hatte nur noch Verachtung für ihn übrig.

Während Frey noch nach der passenden Formulierung suchte, die seiner Abscheu den nötigen Ausdruck verliehen hätte, kam plötzlich Bewegung in den Flur. Das Ermittlerteam der SoKo „Brender ermittelt“ kam deutlich blasser als zuvor aus dem Keller zurück und erkundigte sich bei den beiden Beamten, die Frey und Haferkorn bewachten, wo die Wohnung des gesuchten Mieters zu finden sei.

Einer von ihnen konnte Auskunft geben, bat Herwig jedoch noch um ein Gespräch unter vier Augen.

„Dieser Haferkorn“, kam er gleich zur Sache, kaum dass sie etwas abseits waren. „Der hat hier gerade in unserem Beisein ein umfassendes Geständnis abgelegt. Er hat detailliert geschildert, dass er ein illegales Suchprogramm auf seinem Rechner habe, mit dem er nach Gewaltpornos gesucht und dabei die Filme von den Mordfällen, in denen Sie ermitteln, entdeckt habe. Um seinen eigenen Hals zu retten, habe er die Presse statt der Polizei informiert. Sollen wir sofort ein paar Leute losschicken und sein Gerät beschlagnahmen? Ihr Kollege Müllenbeck kann doch sicher an dieses Programm rankommen?“

Herwig musste nicht lange überlegen.

„Veranlassen Sie bitte schon mal alles Nötige während wir oben sind!“

Anerkennend schlug er dem Beamten auf die Schulter, der sich sofort auf den Weg machte und mit dem zuständigen Richter telefonierte, der ihnen die Durchsuchungsbefehle ausstellen sollte. Er redete in Höchstgeschwindigkeit auf den Mann ein und hatte das Anliegen schon geschildert, als Herwig wieder bei seinen restlichen Teampartnern ankam. Der Kommissar konnte nur staunen, zumal der Kollege gleichzeitig bereits - im wahrsten Sinne des Wortes - ein Team zusammenstellte, um es zu Haferkorns Privatwohnung und zu „HFP“ zu schicken.

„Hauptkommissar Herwig? Ist der Kommissar irgendwo da unten?“, schallte es aus einem der oberen Stockwerke herunter.

„Ich bin hier!“, rief er zurück.

„Sie sollten schnell hochkommen, Herwig. Das hier wird sie interessieren...“

Unverzüglich machten sie sich auf den Weg nach oben. Natürlich wohnte der Mensch ganz oben. Immer wohnten alle ganz oben.

Ein ungutes Gefühl breitete sich von Stufe zu Stufe mehr aus und Herwig beschloss dem entgegenzuwirken, indem er nur jede dritte Stufe benutzte. Es half nicht wirklich.

Die betroffenen Gesichter, die sie erwarteten, als sie oben ankamen, nährten seine Befürchtungen noch. Linker Hand stand eine Wohnungstür offen und als der erste Beamte mit einem gefüllten Beweisbeutelchen die Wohnung verließ, bestand kein Zweifel mehr. Den Bewohner würden sie sicher nicht lebend antreffen.

Kurz darauf fanden sie ihre Annahme bestätigt.

Immerhin, dieses Mal war es eine unblutige Angelegenheit, der Tote hatte scheinbar Tabletten geschluckt und wenn es stimmte, was er in seinem Abschiedsbrief geschrieben hatte, dann war es auch nicht unbedingt traurig um ihn. Und sie hätten zumindest einen von vier Mördern gefunden.



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