Читать книгу Vom Mut, den eigenen Weg zu finden - Kirsten Pape - Страница 7
Prolog Oktober 2012
ОглавлениеIch bin, wieder mal, in der Wüste. Die endlose Weite der marokkanischen Sahara umhüllt mich wie ein schützender Mantel. Ich fühle mich geborgen und verbunden mit dem, was einfach IST. Es ist die Leere, das vermeintliche Nichts, die hörbare Stille, die mir immer wieder den Raum öffnet, ich selbst zu sein. Nicht mehr und nicht weniger. Ich spüre meinen Körper. Ich beobachte meine auch hier rastlosen Gedanken, die mich entweder an schöne und weniger schöne Erfahrungen in meinem Leben erinnern oder in eine imaginäre Zukunft führen. Wenn es mir gelingt, sie zu stoppen, bin ich einfach hier. Jetzt. Kann in der Stille der Wüste einen tiefen inneren Frieden wahrnehmen. In der Wüste ist alles so, wie es eben ist. Ich verliere mich in den endlosen Formen und Farben der Sandlandschaft. Zeichne mit den Augen die weiblichen Formen der Dünen nach, der „Malerei des Windes“, wie sie die Nomaden nennen. Die Wüste ist für mich das Sinnbild der Hingabe an das Leben. Hier kann ich am besten meine innere Stimme hören. Jene Stimme, die im Alltag so oft überlagert wird von vermeintlich wichtigeren Dingen. Sie sagt mir, dass alles gut ist, so wie es ist. Dass es nichts zu tun, nichts zu erreichen gibt. Dass es genug ist, zu sein. Zu leben und alles, was mir in diesem Leben begegnet – das Schöne genauso wie das Schmerzhafte – als Erfahrung anzunehmen.
Dieses tiefe Wissen ist in mir. Es ist uralt und erschließt sich immer wieder neu. Ich kann es jederzeit abrufen. Hier in der Wüste, oder auch an anderen stillen Plätzen in der Natur, geht das leichter als im richtigen Leben. Ich habe lange danach gesucht. Glaube zwischendurch immer mal wieder, es verloren zu haben. Doch es ist und bleibt da. Gibt mir Kraft und hilft mir, zu vertrauen. Ich habe mir dieses Wissen, diese Bewusstheit selbst erschlossen – und habe immer wieder Unterstützung erfahren. Dabei bin ich mir selbst begegnet – und vielen verschiedenen Menschen, die auf dem gleichen Weg sind. Ihre Geschichten interessierten mich. Egal ob Buddhisten, Yogis, Schamanen, Menschen, die neue Formen des Zusammenlebens und Teilens ausprobieren, und natürlich alle die, die einfach ihren Alltag leben – jeder versucht auf seine Art, glücklich zu werden, seinem oder ihrem Leben einen Sinn zu geben.
Immer wieder traf ich auch Sannyasins, Anhänger des verstorbenen indischen Mystikers Rajneesh Chandra Mohan alias Bhagwan, der sich später Osho nannte. Er war in den 1970er- und 1980er-Jahren als radikaler Sektenführer verschrien, der seine Anhänger angeblich zu Unterwerfung und hemmungslosem Sex nötigte. Die Sannyasins, die ich kennenlernte, erzählten andere Geschichten. Selbst die, die Osho später den Rücken kehrten, betonten, wie dankbar sie für eine Erfahrung seien, die ihr Leben bereichert habe.
Um einige von ihnen soll es in diesem Buch gehen. Denn das, was sie erzählten, weckte meine Neugier.
Eine, die nach Wahrheiten im Leben suchte, war ich schon immer.
Ich kann mich noch gut an den Beginn der 1980er-Jahre erinnern: Gerade volljährig geworden, war ich aktiv in der Friedens- und Umweltbewegung, sympathisierte mit den Grünen und wollte die Welt, wenn schon nicht retten, dann doch wenigstens dazu beitragen, sie positiv zu verändern. Frieden und Gerechtigkeit schaffen für alle Menschen, das war meiner Meinung nach nur durch aktive politische Betätigung zu erreichen. Mit mir selbst, meinem Sein in der Welt, mit der Frage, wie ich mich auf andere Menschen beziehe, hatte das nach meiner damaligen Wahrnehmung eher wenig zu tun. Ich orientierte mich vorwiegend an dem, was in der Welt passierte, an wissenschaftlichen Theorien, an ideologischen Diskussionen über (partei-)politische Konzepte. Mir wurde klar, dass ich ganz persönlich mit meinem Lebensstil dazu beitrage, wie hoch mein Anteil am Ressourcenverbrauch ist. Dass ich durch Teilen dessen, was ich ‚habe’, andere Menschen unterstützen kann. Immer wieder mal flackerte eine vage Erkenntnis auf, dass Unfrieden schon im Kleinen da entsteht, wo ich selbst nicht bereit bin, andere so zu lassen, wie sie sind.
Der Satz von Mahatma Gandhi „Sei du selbst die Veränderung, die du dir wünschst für diese Welt“ überzeugte mich. Gelegentlich wurde mir für kurze Augenblicke klar, dass ich meine Umwelt in jedem Moment anders wahrnehmen kann. Als Paradies oder als Hölle – je nachdem, wie bewusst mir die Brille ist, durch die ich gerade auf mich selbst und die Welt schaue. Doch für diese damals wie heute schwer in Worte zu fassende Sichtweise konnte ich mich zunächst noch nicht wirklich öffnen. Manchmal erlebte ich einen Zustand, in dem ich meinte, einfach zu wissen, dass das, was wir Menschen einander und der Erde antun, nicht im Einklang ist mit unserem wahren Selbst. Dass wir eigentlich alle miteinander verbunden sind: Ich bin du und du bist ich. Dass die vermeintlichen Schattenseiten, die „negativen“ Eigenschaften, die ich in meinem Gegenüber wahrzunehmen meine, oft meine eigenen Anteile spiegeln, die ich auch in mir selbst ablehne.
Diese Erkenntnis wurde schnell wieder überlagert. Von eigenen negativen Erlebnissen oder von rationalen und intellektuellen Betrachtungen – und Ängsten – darüber, wie wir Menschen und die von uns geschaffenen Verhältnisse auf der Erde offenbar „sind“. Augenscheinlich eben nicht miteinander verbunden, sondern jeder nur auf persönlichen Vorteil und Gewinn bedacht. Ein Blick in die Geschichte der Spezies Mensch mit ihren unzähligen, unsinnigen Kriegen um Land und Macht und Einfluss scheint ja genau das zu beweisen. Über die Menschen, die Auswege aus Ungerechtigkeit und Unfrieden suchen, die einen spirituellen Weg gehen oder gemeinschaftlich neue Wirtschafts-, Arbeits- und Lebensmodelle erproben, wurde und wird eher wenig und oft mit mildem Spott berichtet. Sie werden als sogenannte Gutmenschen belächelt oder verunglimpft. Erstaunlich viele fühlen sich von „Gutmenschen“ in dem bedroht, was sie als ihre Freiheit empfinden.
Wie sähe die Welt wohl aus, wenn unser Fokus auf Geschichten des Miteinanders statt Gegeneinanders gerichtet wäre? Wenn wir es für möglich hielten, dass wir als Menschen auch anders, nämlich respekt- und liebevoller miteinander umgehen könnten? Wenn die Medien regelmäßig auch über ‚gute‘ Nachrichten berichteten? Wenn unsere Grundwahrnehmung von uns selbst und der Welt eine positive und liebevolle wäre – wäre unsere Realität dann eine andere?
„Zu komplex und unrealistisch“, befand die rational geschulte Denkerin in mir. Zudem doch auch nur ein mögliches Konzept, eine mögliche Erklärung dafür, wer wir sind und wer wir sein könnten. Wenn auch ein Konzept, das mir bis heute ziemlich gut gefällt. Die Sucherin jedenfalls jagte Antworten auf die drängenden gesellschaftlichen Fragen weiterhin vor allem auf der praktisch-politischen Ebene hinterher.
Gleichzeitig begann ich damals schon, mich für Meditation, Yoga und die Lehren verschiedener spiritueller Lehrer zu interessieren. Besonders im Mittelpunkt des Medieninteresses stand in jener Zeit ein Inder mit einem langen weißen Bart, der sich Bhagwan nannte und der die Abkehr von allen politischen und religiösen Glaubenssystemen empfahl. Der seine Anhänger in radikalen sogenannten „Encounter-Gruppen“ ermunterte, alle ihre negativen Emotionen herauszuschreien, herauszuprügeln und noch einmal zu durchleben – um sie dann in der Meditation ganz loszulassen. Sein immer wieder vorgetragenes Credo: „Komm zurück zu deinem eigentlichen Wesen, das nur überlagert ist von all dem, was du gelernt hast durch deine Eltern, Lehrer, Priester und Politiker, und erkenne, was du wirklich bist: reine, bedingungslose Liebe. Kein Politiker kann jemals die Welt verändern. Die Welt wird sich nur durch erwachte und bewusste Individuen verändern.“ Eine Sichtweise, die nicht nur von mir als esoterischer Quatsch abqualifiziert wurde. Der indische Mystiker Bhagwan galt wie viele seiner spirituellen Vorgänger in anderen Jahrhunderten als Ketzer. Er war rational nicht zu fassen mit seinen nihilistisch gegen alle Gesellschaftsordnungen gerichteten Thesen. Der belesene Philosophieprofessor, der unter anderem Jesus, Buddha, Mohammed, Lao Tse, Sufi-Gelehrte, Nietzsche oder Freud ohne auch nur einen kleinen Notizzettel referierte, lehrte eine radikale Eigenverantwortung, die sich in keine Ideologie, kein Glaubenssystem einordnen ließ. Bhagwan bezeichnete sich selbst damals gerne als „gefährlichsten Mann der Welt“. Er provozierte mit seinem Auftreten, seinen Vorträgen und seinen fast hundert Rolls-Royces Politik, Kirchen und Medien. Die Bewegung seiner Anhänger, der sogenannten Sannyasins, galt als Sekte. Trotzdem zog Bhagwan Hunderttausende Menschen aus aller Welt an. Auf der Suche nach Antworten auf existenzielle Fragen reisten sie zu ebendiesem Guru nach Indien – und viele von ihnen blieben gleich dort. Für mich damals so interessant wie unverständlich. Das ganze Leben ausrichten auf Meditation – also rumsitzen und nichts tun –, statt den vermeintlich normalen Gang der Dinge zu gehen: Schule, Ausbildung, Job, Familie gründen, eventuell sogar aktiv beitragen zur Veränderung der Welt? Wie konnte man sich sehenden Auges auf fragwürdige Psychogruppen einlassen, auf eine „spirituelle Hingabe“, die auch ich mit Unterwerfung gleichsetzte? Noch dazu, wenn man aus Deutschland kam, das immer noch dabei war, seine schrecklichen Erfahrungen mit einem selbst ernannten Führer zu verarbeiten? Was bedeutete „radikale Eigenverantwortung“ und wie konnte man seine persönliche „Selbstfindung“ derart wichtig nehmen?
Völlig unpolitisch, purer Egoismus und Hedonismus, esoterisches Brimborium, befand ich. Dass Tausende Sannyasins später ein politisches Großexperiment im amerikanischen Oregon starteten, wo sie im Schweiße ihres Angesichts eine Kleinstadt aufbauten, die eine ökologische Modellkommune der „neuen Menschen“ werden sollte, erwies sich zudem als gefährliche Illusion. Auch die Sannyasins mit ihrem vermeintlich erleuchteten Guru waren ganz offensichtlich nicht gefeit vor Machtmissbrauch, Kriminalität und Mitläufertum.
Vorerst blieb ich in der Welt zu Hause, in der ich mich auskannte. Ich engagierte mich politisch, führte mein Studium zu Ende und wurde Journalistin. Also Angehörige einer Zunft, deren Selbstverständnis es ist, immer in der Beobachterrolle zu bleiben und Distanz zu allem zu wahren.
Doch eine gewisse Bewusstheit blieb – eine bewusste Beobachterhaltung, aus der heraus ich auch ganz andere Fragen stellte als die üblichen rationalen zum Zustand der Welt. Ich hinterfragte die vermeintliche Distanz in der Berichterstattung. Folge ich bei dem, was ich sage und schreibe, nicht viel zu oft nur dem jeweils gerade gültigen Mainstream und damit einer vorgegebenen Sicht auf die Welt und die Menschen? Oder lasse mich selbst, genauso ohne „Distanz“, von meiner eigenen Haltung leiten? Mein Bewusstsein und Unbehagen darüber, welche Rolle die Medien bei der Auswahl von Themen und Gesprächspartnern sowie der zunehmenden Skandalisierung bestimmter Sachverhalte spielen, wuchsen. Bei jeder Begegnung, ob beruflich oder privat, wurde mir klar, dass jeder Mensch schlichtweg seine eigene Geschichte, seine eigene Wahrnehmung von sich selbst und der Welt besitzt. Egal ob sie Politikerin oder er Bäcker ist – oder eben Journalistin. Gibt es überhaupt „richtig“ und „falsch“? Oder gibt es nur subjektive Wahrheiten und gesellschaftlich geformte und als Theorie oder Ideologie akzeptierte Sichtweisen dessen, was wir „Realität“ nennen? Sichtweisen, welche wiederum zu allen Zeiten von wirtschaftlichen, politischen und religiösen Eliten instrumentalisiert wurden und werden?
Ich kreise bis heute um die schon von Millionen anderen angestellten Überlegungen zum immer gleichen Komplex: Wer sind wir und wozu sind wir hier? Wird es uns jemals gelingen, unser Zusammenleben friedlich und gerecht zu gestalten? Der Ansatz, dass ich bei mir selbst beginnen muss und unter anderem durch mein (Konsum-)Verhalten, meine Kommunikation und mein Sein immer wieder winzige Mosaiksteinchen der Veränderung einfügen kann ins große Ganze, überzeugt mich bis heute am meisten: Wie innen, so außen.
In der Außenwelt befasse ich mich weiterhin mit der großen und kleinen Politik, mit interessanten Konzepten und interessanten Menschen.
Die Begegnung mit anderen Suchern und ihren Lebensentwürfen inspiriert mich immer wieder neu auch zu einer inneren Auseinandersetzung damit, wann und wodurch in meinem eigenen Leben Unfrieden entsteht. Warum ich anderen Menschen wie begegne – welche Bewertungen, Gefühle und möglicherweise alten Verletzungen mich dabei bewusst oder unbewusst steuern. Ich lerne täglich neu – und halte es für eine extrem schwierige Übung, Menschen, so weit mir eben möglich, ohne Urteile und mit Mitgefühl zu begegnen. Ihnen die Wertschätzung entgegenzubringen, die ich mir auch für mich selbst wünsche. Die wir uns alle wünschen.
Ein wichtiger Impuls auf dem Weg dorthin war die Begegnung mit einer Frau namens Turiya.