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Standortbestimmung

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Was ich wahrnehme, ist, dass sich mittlerweile sehr viele Menschen vor allem in den Industrieländern fragen, ob Einkommen, Ansehen und all die materiellen Werte, denen sie hinterherjagen, wirklich so wichtig sind. Die Zahl psychischer Erkrankungen und sogenannter Burn-outs steigt rapide an. Der geradezu heilige Fetisch ewigen, unbegrenzten Wachstums ist ins Wanken geraten. Die ökologischen Folgen unserer Unachtsamkeit und Gier sind unübersehbar. Die Krise unseres Finanzsystems stürzt immer mehr Menschen in Arbeitslosigkeit, Armut und Verzweiflung. Die Folgen sind nicht nur eine wachsende Wut angesichts der Verteilungsungerechtigkeit, sondern auch zumindest der Beginn der Einsicht, dass wir nicht einfach weitermachen können mit der Ausbeutung anderer Menschen und unserer Lebensgrundlagen.

Wirtschaftswissenschaftler arbeiten an neuen Modellen, um das im Kapitalismus geradezu heilige „Bruttosozialprodukt“ in ein an ganz anderen Faktoren zu messendes „Bruttosozialglück“ zu verwandeln. Gefühltes Leben statt materieller Besitz.

Vielleicht bahnt sich ja tatsächlich ein Bewusstseinswandel an, vielleicht zieht künftig mehr Spiritualität ein in unser Leben und unsere verfestigten Wahrnehmungsmuster. Unter Spiritualität verstehe ich etwas, das wir eigentlich alle kennen: ein Mit-dem-Herzen-Schauen, eine Haltung des Mitgefühls, das Wissen darum, dass wir alle miteinander verbunden sind. Dass wir die Welt, in der wir leben, selbst kreieren, und dass es wenig hilfreich ist, die Verantwortung für sie nur auf „die anderen, die sich ja auch nicht verändern“, zu verlagern.

Ich beobachte, dass viele Menschen, die erschöpft und unzufrieden mit ihrer Arbeit, ihrem Leben und sich selbst sind, beginnen – mitunter gezwungen durch ihren Körper – innezuhalten. Sie suchen Ruhe, Rat und innere, erfahrbare Antworten. Während die Kirchen Mitglieder verlieren, erleben fernöstliche Entspannungstechniken wie Yoga, Tai Chi oder Chi Gong einen Boom. Zahlreiche Menschen erwandern den Jakobsweg in der Hoffnung auf innere Einkehr. Psychologen, Coaches, Zen- und andere spirituelle Lehrer sind gefragt.

Bücher und Seminare östlicher und westlicher Mystiker sowie nicht selten hanebüchene esoterische Angebote verzeichnen einen wachsenden Absatz. Sie alle werden vom auch dort Rendite witternden Markt begierig als „Wellness“-Dienstleistung ins Sortiment aufgenommen.

Achtsamkeit und Meditation sind heute für viele Menschen keine Fremdwörter mehr. Manager meditieren in Klöstern, Unternehmen richten Entspannungsräume ein, Yoga wird in Fitness-Studios unterrichtet und etliche entsprechende Kurse u.a. in Mindfulness Based Stress Reduction (MBSR)* werden von den Krankenkassen finanziert.

Einer der neueren Vorreiter dieser Entwicklung war Bhagwan alias Osho. Googelt man den bis heute umstrittenen Guru, tauchen über hundert Buchtitel allein im Online-Buchhandel auf. Seine Werke wurden in 47 Sprachen übersetzt und stehen in fast jeder größeren Buchhandlung.

Mehr als 20 Jahre nach seinem Tod gilt Osho in seiner Heimat Indien als einer der größten Mystiker des Landes, dessen Bücher zur Sammlung der indischen Nationalbibliothek gehören. Seine Meditationstechniken, allen voran die sogenannte „Dynamische“ und die „Kundalini“-Meditation, werden von therapeutischen Kliniken in Deutschland eingesetzt. Weltweit betreiben Sannyasins Meditations- oder kleine Ferienzentren, viele leben in losen Gemeinschaften zusammen. Der Ashram im einstigen Poona, das heute Pune heißt, zieht weiterhin als Meditationsressort zahlreiche Besucher an. Auch wenn Sannyasins schon lange nicht mehr die einzigen Anbieter im mittlerweile sehr großen spirituell-esoterischen Supermarkt sind, hat mich ihr Weg besonders interessiert. Denn meine Erfahrungen in der Szene warfen für mich jedes Mal so viele Fragen auf, dass ich immer weiter forschte. Ich recherchierte in Zeitungsberichten von damals und heute und sah mir Fernsehdokumentationen an. Ich arbeitete mich durch zahlreiche Bücher, Vorträge und Pressekonferenzen von Osho und durch die Bewertungen der Kirchen und ihrer Sektenbeauftragten.1 Ich las den persönlichen Erfahrungsbericht des Stern-Reporters Jörg Andrees Elten, der sich Mitte der 1970er Jahre nach Poona aufgemacht hatte, um für sein Magazin über Bhagwan zu berichten2. Er blieb im Ashram und wurde Sannyasin. Ich besuchte Osho-Zentren und Lebensgemeinschaften, nahm im Selbstversuch an Therapiegruppen, einer „Sannyas-Celebration“ und verschiedenen Meditationen teil. Ich erlebte tiefe Momente innerer Stille und Bewusstheit, in denen es keine Fragen mehr gab. Und wollte trotzdem verstehen und weiter erforschen, wer dieser Inder war und was von ihm bis heute weiter wirkt.

Bei meiner Recherche stellte ich teilweise eine seltsame Diskrepanz fest zwischen dem, was medial bis heute vermittelt wird über den Inder und seine Schüler, und dem, was ich selbst erfuhr. Hatten die Journalisten recht, die damals nach Poona und Oregon reisten und nahezu ausschließlich über den „Sexguru“ und dessen Luxusautos berichteten? Waren bzw. sind die vielen Menschen, die freiwillig manchmal mehr als zwölf Stunden täglich sieben Tage die Woche für die Vision ihres Meisters gearbeitet hatten, wirklich alle „esoterisch angehauchte Realitätsflüchtlinge“, die beim Bhagwan einer „Gehirnwäsche“ unterzogen worden waren? Was genau lehrte der Inder? War er ein Sektenführer oder einfach nur einer von vielen Mystikern des 20. Jahrhunderts? Nur eben ein extrem exzentrischer, der es mit gezielten Provokationen geschafft hatte, die Medien für sich zu interessieren? Hatte Osho eine politische Botschaft?

In diesem Buch erzählen fünf deutsche Sannyasins und ein Grieche, der in Deutschland aufgewachsen ist, von ihren eigenen ganz unterschiedlichen Erfahrungen in der Sannyasin-Welt. Natürlich ist diese Auswahl in keiner Weise repräsentativ. Ich habe mich bewusst entschlossen, aus der weltweiten Sannyasin-Bewegung vor allem Deutsche ausführlich zu Wort kommen zu lassen, also Menschen aus einem Land, das einen selbst ernannten „Führer“ hinter sich hat. Bis auf meine jüngste Gesprächspartnerin Waduda haben zudem alle Osho noch selbst erlebt.

Mich hat besonders interessiert, welche Motive Turiya alias Wibke von Gunsteren, Klaus Peter Horn, Ramateertha alias Robert Doetsch, Pari alias Aristides Laskaridis, Navino alias Sylvia Szymath und Waduda alias Marieke Olthoff hatten, Osho als ihren Meister zu wählen – und warum einige von ihnen die Bewegung wieder verlassen haben. Ich wollte wissen, wie sie die Zeit in Poona und natürlich auch die Ereignisse auf der „Ranch“ im amerikanischen Oregon erlebt und verarbeitet haben, wo zum Schluss bewaffnete Wachen patrouillierten, wo es Mordanschläge gab und wo Bhagwans Vertraute Sheela ein Machtregime installierte, gegen das fast niemand aufbegehrte – während der Meister sich dreieinhalb Jahre in Schweigen hüllte.

Wie sehen die, die dabei waren, ihre persönliche Verantwortung für die Ereignisse in Oregon, über die Osho selbst später sagte: „Ich habe euch eine Erfahrung von Faschismus gegeben“?

Was passierte nach Oshos Tod und wie stehen die sechs mittlerweile zu der Vision des „neuen Menschen“, den Osho einst propagierte? Finden sie ihren Meister heute noch zeitgemäß, oder halten sie seine Lehren für überholt? Wie haben sie ihre Erfahrungen mit Osho in ihr heutiges Leben integriert?

Vor allem aber: Haben sie gefunden, wonach sie gesucht haben?

* MBSR ist ein 1979 von Jon Kabat-Zinn in den USA entwickeltes und wissenschaftlich begleitetes Meditationsprogramm zur „Stressbewältigung durch Achtsamkeit“.

1 Mittlerweile benutzen die Kirchen meistens den Begriff „Beauftragte für Weltanschauungsfragen“.

2 Jörg Andrees Elten: „Ganz entspannt im Hier und Jetzt“, Erstausgabe 1979

Vom Mut, den eigenen Weg zu finden

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