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Selbstversuch: Sannyas-Therapie
ОглавлениеAnfang 2000 betrat ich zum ersten Mal das Osho-Uta-Institut in Köln. Lange war mir dieser Ort suspekt erschienen. Ich ging höchstens mal in Osho’s Place, dem benachbarten Restaurant, essen oder einen Kaffee trinken. Ich beobachtete die Besucher dort, von denen viele irgendwie anders miteinander umgingen. Immer wieder schnappte ich Fetzen tiefgehender persönlicher Gespräche auf. Sie hörten einander richtig zu, auch in größeren Gruppen fiel niemand dem anderen ins Wort. Das Umarmen, das jeder Begrüßung vorausging und minutenlang dauern konnte, fand ich ziemlich übertrieben. Natürlich blätterte ich beim Cappuccino immer mal wieder in den Exemplaren der Osho Times, der Postille der Bewegung. Genauso wie im Jahresprogramm des Uta-Instituts für spirituelle Therapie. Mir war nicht klar, was „spirituelle Therapie“ sein sollte, im Gegensatz zur „normalen“ Gesprächstherapie, mit der ich bereits Erfahrungen gesammelt hatte. Die Texte, in denen die Meditations- und Selbsterfahrungsgruppen beschrieben wurden, berührten mich – ohne dass ich hätte erklären können, warum.
Eine Seminarankündigung stach mir damals besonders ins Auge:
„Liebe und alleine sein“: Da wir Angst davor haben, verletzt, zurückgewiesen, verlassen, missverstanden und manipuliert zu werden, ziehen wir uns von anderen zurück, trennen uns von unseren tieferen Gefühlen ab und verkriechen uns in eine innere Isolation, die wir Alleinsein nennen. Dieses Alleinsein wirkt zeitweilig als Erleichterung, mündet aber meist in ein tiefes Gefühl von Einsamkeit und Leere. Oft verwechseln wir das Gefühl mit Unabhängigkeit oder Meditation, obwohl es tatsächlich eine Flucht vor dem grundlegenden Schmerz des Getrenntseins ist.
Bevor wir wahres Alleinsein erfahren können, müssen wir zunächst herausfinden, was einer erneuten Verbindung mit der wahren Liebe im Weg steht.
Unterstützt durch eine liebevolle Atmosphäre und Intensität, wird während dieses Prozesses die Möglichkeit geschaffen, die Schichten um dein Herz herum zu offenbaren. Von diesem Platz der Verletzlichkeit aus erfährst du ein Alleinsein, das nicht trennt, sondern eine Verbindung zu dir selbst und dem Göttlichen miteinschließt.
Meine Neugier war stärker als meine Vorurteile: Ich meldete mich zu dem viertägigen Seminar an.
Die Gruppe besteht aus 24 Leuten, etwa gleich viele Männer und Frauen. Die meisten sind über 40, ein paar um die 30 Jahre alt. Turiya duzt uns. Sie ist mittelgroß, schmal, ihre langen blonden Haare umrahmen ein interessantes Gesicht. Später erfahre ich, dass die 1948 geborene Therapeutin mit Prinz Welf von Hannover verheiratet war, einem Cousin des englischen Prinzen Charles und Bruder des berühmtberüchtigten „Pinkelprinzen“ Ernst August. Zusammen mit ihrem Mann und ihrer kleinen Tochter ging sie 1975 – zum Entsetzen der adeligen Familie – nach Indien und landete bei Bhagwan in Poona.
Turiya leitet uns durch verschiedene Wahrnehmungs- und Meditationsübungen. Sie redet mit sanfter Stimme. Das, was sie sagt, erreicht und erschüttert mich in meinen tiefsten Tiefen. Sie spricht direkt in mein Herz. Nicht nur bei mir brechen durch ihre Worte alte Wunden auf. Die Assistenten verteilen Taschentücher. Es geht um die Erfahrung, zu lieben und geliebt zu werden – und die Angst, die für viele von uns damit verbunden ist: Die Angst, (wieder) verlassen zu werden. Die Angst, nicht gut genug zu sein. Die Angst, selbst nicht lieben zu können. Die Angst, dass der Partner oder die Partnerin stirbt. Die Angst, sich wirklich einzulassen, sich ganz zu öffnen. Die Angst, vom Partner wirklich gesehen zu werden – mit all den Anteilen, die wir so oft sogar vor uns selbst verstecken. Aus Scham oder Selbstverurteilung und weil wir von klein auf gelernt haben, dass bestimmte Eigenschaften und Anteile in uns nicht liebenswert sind.
Was in mir aufbricht in dieser Gruppe, ist unglaublich schmerzhaft. Ich sehe und verstehe auf eine völlig neue Weise, warum ich die geworden bin, die ich jetzt bin. Es ist kein intellektuelles „Verstehen“. Es ist das intuitive Erfassen einer Wahrheit, die mir bislang zu schmerzhaft erschien. Die damit verbundenen Emotionen wollte ich nicht (wieder) fühlen. Ich hatte sie weggesperrt und rationale Erklärungen für sie gefunden.
In dieser Gruppe aber geschieht das Fühlen einfach.
Ich kann gar nichts dagegen tun. Etwas in mir öffnet sich nach langer Zeit wieder. So weh es auch tut – es ist, als wenn ein Fluss sich Bahn bricht, der nur darauf gewartet hat, sich endlich in Bewegung setzen zu dürfen. Alles bricht wieder auf: die Verzweiflung über die vermeintliche Sinnlosigkeit des Lebens, das Gefühl des kleinen Mädchens, allein zu sein und niemanden zu haben, der es unterstützt.
Immer wieder spielt Turiya zwischendurch kurze Auszüge sogenannter Lectures von Osho ein. Zum ersten Mal höre ich das seltsame Englisch des Inders. Er spricht darüber, wie wichtig es sei, sich auf die Liebe einzulassen.
Die Gruppe geht weiter.
Immer wieder schaltet sich mein Kopf ein, beginnt, kritische Fragen zu stellen und Urteile zu fällen. Erlebe ich gerade eine Art Gehirnwäsche? Sind das die Methoden, mit denen Sekten arbeiten? Aber ich fühle mich nicht manipuliert. Aus dieser Therapeutin spricht eine Erfahrung und Lebensweisheit, die ich als authentisch und unterstützend empfinde.
Wir machen Körperübungen. Zwischendurch tauschen wir uns immer wieder in kleinen Gruppen zu zweit oder dritt aus. Ich erzähle wildfremden Menschen von meiner Kindheit. Ich, die sich immer geschützt hat aus Angst, dass jemand hinter die Maske der „starken Frau“ blickt! Es ist ungewohnt und ziemlich schrecklich. Ich weine. Ich schäme mich. Und es ist befreiend. Niemand verurteilt mich. Die anderen haben ihre nicht minder schmerzhaften Erfahrungen gemacht. Es tut gut, sich auszutauschen. Es tut gut, gesehen zu werden mit diesen verborgenen Anteilen.
Als die meisten von uns völlig aufgelöst sind, gibt es die Kundalini-Meditation. Diese von Osho entwickelte Meditation zur Musik des deutschen Musikers Klaus Deuter besteht aus vier Phasen, die je eine Viertelstunde lang dauern. Zunächst steht man und beginnt, den Körper aus dem Becken heraus zu schütteln. Dann folgt eine Tanzphase. Anschließend setzt man sich auf ein Meditationskissen und lässt sphärische Klänge auf sich einwirken. In der abschließenden Stille-Phase liegt man auf einer Matratze und beobachtet seine Gedanken und körperlichen Empfindungen.
Ich mache eine Erfahrung, die mich bis heute begleitet: Ich bin zutiefst aufgewühlt und emotional in diese Meditation gegangen. Ich bin durch die Übungen in der Gruppe mit einer abgrundtiefen Verzweiflung und Traurigkeit, mit Verbitterung, Wut und Angst in Kontakt gekommen. Nach der Meditation ist all das vorbeigezogen. Ich habe es im wahrsten Sinne des Wortes abgeschüttelt, habe im Tanz meine Lebensfreude wieder gespürt, beim Sitzen und Liegen meine Emotionen und Erinnerungen an die Vergangenheit einfach nur beobachtet und festgestellt: Hier und jetzt ist einfach Stille. Und eine Bewusstheit, dass all diese Emotionen zu mir gehören, mich bis heute prägen – aber dass es an mir liegt, wie viel Aufmerksamkeit ich ihnen jetzt gebe.
Es ist meine freie Entscheidung, ob ich im emotionalen Schmerz verhaftet bleibe oder bewusst wieder herausgehe. Es ist meine Entscheidung, ob ich die unangenehmen Emotionen verdränge, ablehne, nicht spüren will – oder sie liebevoll annehme als einen Teil von mir.
Mein Kopf urteilt, dass ich bestimmt Opfer einer Art Gruppenhypnose geworden bin. Dass es ein guter Trick ist, Menschen in ihre Verletzungen zu führen und ihnen dann eine Erlösungserfahrung anzubieten. Dass ich ein paar Hundert Mark ausgegeben habe, um mich manipulieren zu lassen.
Dabei ist mir dieser Zustand, den mein Verstand als „manipuliert“ einstufen will, gar nicht so unbekannt. Mein Leben lang war ich die Beobachterin: nicht nur der Geschehnisse im Außen, sondern auch all dessen, was in mir selbst passiert. Es gab dort immer eine Art Raum, aus dem heraus ich Zeugin der schmerzhaftesten Emotionen sein konnte. Allerdings war es mir selten gelungen, diesen Zustand des Zeugeseins lange aufrechtzuerhalten. Ich ließ mich entweder vom Drama meiner Gefühle überwältigen und versank dann in manchmal lange anhaltenden Phasen des Unglücklichseins, oder ich analysierte diese Gefühle gründlich und rationalisierte sie damit wieder weg.
Die Erfahrung in dieser Gruppe ist eine andere: Wir gehen in die Emotionen hinein, lassen sie zu, fühlen alles, was gefühlt und angenommen werden möchte, und gehen bewusst wieder heraus aus dem inneren Drama. Diese Art der „Therapie“ kannte ich bis dahin nicht.
Der nächste Tag verläuft ähnlich intensiv. Bei der Abschlussrunde am Nachmittag erhält jeder Teilnehmer noch einmal die Gelegenheit, sich mitzuteilen. Mir scheint es, als könne Turiya jedem Menschen innerhalb von Sekunden tief in die Seele schauen und genau erkennen, was für ihn oder sie wichtig ist. In der geschützten Atmosphäre der Gruppe lerne ich etwas, das mich bis heute begleitet: Ich werde mir meiner eigenen Urteile über andere Menschen bewusst. Ich lerne, ihre Gefühle, ihre inneren Dramen, die Rollen, die sie zum eigenen Schutz spielen, zu verstehen, anzuerkennen – und teilweise als meine eigenen anzunehmen.
Glücklicherweise habe ich nach dem Seminar eine Woche frei. Diese Zeit brauche ich auch, um das Erlebte zu verarbeiten und in meinen Alltag zu integrieren.
Etwas in mir ist tief berührt worden. Das, was ich erfahren und beobachtet habe, widerspricht völlig dem wenigen, was ich bisher wusste oder zu wissen meinte über Bhagwan und Selbsterfahrungsgruppen.
Jahre später beim Verfassen des Manuskriptes für dieses Buch, frage ich mich, ob ich dieses Erlebnis wirklich veröffentlichen soll. Ich kenne die Urteile und Bewertungen über „Esoterik“, ich trage sie selbst in mir. Zudem habe auch ich mein Leben lang alles darangesetzt, mich zu schützen. Niemand sollte diejenige sehen, die ich auch bin. Ich will mich nicht „outen“. Ich spüre, wie stark auch ich immer noch verinnerlicht habe, dass man das „nicht tut“. Wir alle haben gelernt, dass wir uns besser nicht mit unseren verletzlichen Seiten zeigen. Aus nachvollziehbarem Selbstschutz, aber auch deshalb, weil es in unserer Leistungsgesellschaft nach wie vor als peinlich, schwach oder egoistisch gilt, sich mit sich selbst zu beschäftigen.
Doch ich habe in dieser und anderen Gruppen danach die Erfahrung gemacht, wie gut es tut, mich so zu zeigen, wie ich wirklich bin: mit allen Gefühlen, mit meinen Stärken und auch mit meinen „Schwächen“, meiner Verletzlichkeit. Ich habe Verantwortung übernommen für mich selbst, mich den Themen gestellt, die mich immer wieder einholen in meinem Leben, meinen Beziehungen, an meinem Arbeitsplatz. Ich habe eine Ahnung davon bekommen, wie ein achtsamerer Umgang mit mir selbst und mit den Menschen um mich herum einen kleinen Teil zu der Veränderung beitragen könnte, die ich mir wünsche für diese Welt.
Warum nicht davon erzählen? Davon, und von meinen weiteren Begegnungen und Erlebnissen in der Sannyasin-Szene?