Читать книгу Die Spur der toten Engel - Norwegen-Krimi - Kjersti Scheen - Страница 4
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ОглавлениеIn the still of the night.
Cole Porter
Noch herrschte schwarze Nacht.
Vorn zumindest – achtern leuchtete die Großstadt –, von den giftgelben Laternen am Containerhafen von Nedre Bekkelaget bis zum weißen Strahlenglanz von Aker Brygge.
Die See war dunkel und still, doch direkt unter ihr schäumte es grünlich, wo sich der Bug vorwärtspflügte, begleitet vom regelmäßigen Tuckern des Motors. Margaret Moss hing über der Reling und verfolgte mit den Augen die Bugwelle, die sich emporwälzte und nach hinten brauste. Sie fror, wollte aber nicht ins Steuerhaus zu Fischer Bertelsen.
Später, nicht jetzt.
Er würde nur von seiner Tochter sprechen.
Ihre eigene Tochter Karen hatte seit vielen Wochen kein Lebenszeichen mehr von sich gegeben. Margaret Moss kam heute nacht gut ohne die Töchter anderer Leute aus. Soweit es möglich war.
Sie schauderte.
Sie hatten gerade Langøyene und Rambergøya passiert. Vor ihnen lag der verlassene Fährkai von Nesoddtangen und wartete auf den nächsten Tag, der neue Passagiere mit Kreuzworträtseln und Walkmans bringen würde, die sich auf den Weg von der einigermaßen ländlichen Ruhe in Nesodden zu Oslos eher urbanem Rhythmus machten, ja, ja, Moss schauderte wieder.
Furchtbar, wie depressiv und ironisch sie sich in letzter Zeit fühlte. Ihr alter Begleiter und Alter ego, die Stimme im Kopf, die altmodisches Hörspiel produzierte, sendete mehr Störgeräusche als je zuvor: Und hier ist Margaret Moss (nennen Sie mich Moss, das ist am einfachsten), auf ihrem Weg aus den dunklen Hafenvierteln und hinaus zu einem neuen Fall, und die Nacht ist ebenso dunkel wie das Gewissen eines Pfarrers in Gesellschaft eines Transvestiten, hu, sie schüttelte sich wieder.
Seitliche Wellen brachten den Fischkutter kräftig ins Schaukeln, sie lehnte sich gegen die breite Reling und stemmte die Joggingschuhe gegen das Deck. Sie wartete, bis das Boot einen regelmäßigen südlichen Kurs erreicht hatte und aus dem Fjord hinausfuhr, dann richtete sie sich auf und atmete tief durch.
Schrecklich, wie angespannt sie heute nacht war.
Sie wußte nicht, wie es kam; düster starrte sie auf den Leuchtturm von Dyna, der steuerbords lag. Vielleicht sollte sie sich für den Posten eines Leuchtturmwärters an irgendeinem gottverlassenen Ort bewerben. Ein sogenanntes inneres Exil, wobei es sich da wohl eher um ein äußeres handeln würde, und außerdem waren die Leuchttürme heutzutage längst automatisiert und wärterlos.
Die meisten jedenfalls.
»Hallo! Kaffee!«
Sie drehte sich um. Willy Bertelsens Gesicht leuchtete bleich im Halbdunkel. Sie seufzte, dann nickte sie und balancierte nach achtern über das rutschige Deck.
Bald war es fünf. Es war Ende März, und der Tag dämmerte über den Hügeln im Osten.
Es war gemütlich drinnen im Steuerhaus, und der Kaffee war heiß. Sie trank ihre zweite Tasse, stand hinter Bertelsen und hatte etwas wacklige Beine. Eine Dünung, ein Gruß vom starken Wind der vergangenen Nacht, brachte den Fischkutter ins Schlingern. Willys Sohn Bjørn stieg die vordere Treppe hinauf, streckte sich und setzte sich auf die Luke. Er holte ein Päckchen Tabak aus der Hosentasche und begann, sich eine Zigarette zu drehen.
»Wie alt ist er?« fragte Moss und nickte hinüber zu dem Jungen dort draußen.
»Bald zwanzig«, sagte Willy Bertelsen. »Zwei Jahre älter als Bente.«
Sie bemerkte, wie er ihr einen raschen Blick zuwarf – der Frau, die er um Hilfe gebeten hatte, als seine Tochter verschwunden war. Sie stand mit dem Kaffeebecher in der Hand da, im Parka und mit einer Falte zwischen den Augenbrauen. »Dann ist er ein Jahr älter als meine Tochter«, sagte sie. »Karen.«
»Und was macht Ihre Tochter?« fragte Bertelsen höflich. Seine Tochter war seit mehreren Wochen spurlos verschwunden, und vermutlich pfiff er darauf, was anderer Leute Töchter trieben. Er hob die Hand und machte dem Jungen dort draußen ein Zeichen, vielleicht näherten sie sich den ersten Netzen.
»Sie macht gerade den ex. phil.«, sagte Moss. »Zulassungsprüfungen für die Uni. Aber sie lernt ja nicht, deshalb läuft es vermutlich nicht so doll.«
Genau wie ihre Mutter, glaubt, daß sie alles kann, ohne ein Buch zu öffnen, ja, ja.
»Sie wohnt also zu Hause, Ihre Tochter«, sagte Bertelsen.
»Nein«, sagte Moss.
Karen war in eine Wohngemeinschaft in der Altstadt gezogen. Inzwischen war sie offenbar nicht mehr nur Wochenendpunkerin. Zu Hause meldete sie sich auch nicht. Margaret Moss hatte das unangenehme Gefühl, daß ihre Tochter nichts von sich hören ließ, weil sie sich mit Dingen beschäftigte, über die sie nicht ausgefragt werden wollte. Und was hatte das zu bedeuten?
Alles.
Der Kutter hatte die Geschwindigkeit verringert. Sie befanden sich irgendwo zwischen Spro und Fagerstrand, dort vorne lag dunkel Håøya. Margaret trat aus dem Steuerhaus und atmete den Geruch von Meer ein: Ein sanfter Märzmorgen war im Entstehen begriffen, der schönes Wetter verhieß. Die Reling war feucht vom Tau, sie hielt sich fest und spürte, wie sich das Tuckern des Motors durch den ganzen Körper fortpflanzte. Sie wollte nicht an Karen denken, bestimmt ging es ihr gut. Daß sie nicht angerufen hatte, konnte ebensogut darauf hindeuten, daß sie sich darin übte, ihr eigenes Leben zu führen.
Es war nichts passiert.
Sie war inzwischen ein großes Mädchen und konnte auf sich selbst aufpassen. Außerdem waren es eher die Jungen, denen etwas zustieß, sie fielen der unprovozierten Gewalt, die unter ihnen herrschte, zum Opfer – dort in der Stadt hinter ihnen, die noch immer unterhalb der Hügel schlief. Sie drehte sich um, doch sie war nicht mehr zu sehen.
Auch auf See regte sich nichts.
Im inneren Oslofjord waren zwar nicht besonders viele Fischer registriert, aber einige gab es doch. Vielleicht lagen sie außerhalb des Drøbaksterskelen, sie wußte, einige von ihnen verfügten über Boote, die so schnell waren, daß sie in aller Herrgottsfrühe bis nach Færder und wieder zurückfahren konnten.
Ein Ruf des Jungen unterbrach die Stille.
Hinter ihr sagte Willy Bertelsen irgend etwas, und sie drehte sich um. »Er sagt, da vorne treibt irgendwas.«
Bjørn stand mit dem einen Fuß auf der Reling und zeigte ins Wasser. »Es sieht aus wie ein Netz«, rief er nach hinten. »Es hat einen Benzinkanister als Boje, der muß sich gelöst haben, er treibt herum. Sollen wir ihn hochnehmen?«
»Nein!« rief sein Vater zurück. »Paß nur auf, daß er nicht in die Schiffsschraube gerät!«
Er bereitete sich darauf vor, ihn in einem Bogen zu umschiffen, da rief der Junge wieder: »Stop! Warte mal, fahr rückwärts, verdammt! Rückwärts!«
Margaret ging nach vorne, während Bertelsen die Maschine auf Rückwärtsgang einstellte und die Gischt achtern aufschäumte. Sie lehnte sich vor, der Parka flatterte, und das Haar flog ihr um die Ohren.
»Da!« sagte der Junge und zeigte. »Da! Was zum Teufel ist das?«
Sie folgte seinem Blick. Etwas Schweres lag da und wurde im Wasser hin- und hergetrieben, am einen Ende war ein Plastikkanister befestigt, und als der Kutter langsam näherglitt, rollte es zur Seite und schlug gegen die Bootswand.
Sie trat schnell einen Schritt nach hinten.
»Eine Leiche«, sagte sie leise, so leise, daß sie glaubte, es wiederholen zu müssen, obwohl Bjørn Bertelsen sicher dasselbe sah wie sie. »Es ist eine Leiche!« rief sie, und jetzt hatte auch Willy es gehört, er kam mit langen Schritten nach vorne.
Der Motor tuckerte im Leerlauf, das Boot drehte sich langsam mit der Breitseite in die Wellen, während sie sich alle drei über die Reling lehnten.
»Verdammt«, sagte Willy Bertelsen schließlich. »Sicher ist das eine Leiche.«
Sie holten sie nicht an Bord.
Der Junge hing über der Reling und hielt sie mit einem Bootshaken fest, während sein Vater über Sprechfunk die Polizei anrief. Dann kam er wieder heraus. »Übernimm mal da drin«, sagte er kurz, und der Sohn nickte und ging. Sein Gesicht war in der Umgebung des Mundes ganz weiß.
Willy Bertelsen schob den Bootshaken etwas besser unter die Seile, mit denen zwei Füße in schwarzen Stiefeln zusammengebunden waren, und hatte einen verbissenen Gesichtsausdruck. »Ja, ja«, sagte er bloß. »Da ist ja für Sie aus der Angeltour nichts geworden, Moss.«
Sie antwortete nicht.
Weder das Alter noch das Geschlecht der Person dort unten im Meer ließ sich bestimmen. Die Haare wie Seegras um den Kopf, das Gesicht nach unten, der Rücken nach oben, halb in die Wasseroberfläche getaucht, ein Hosenboden, der dunkel von Feuchtigkeit war, ein rotes T-Shirt und dazwischen ein breiter Streifen bläulich weißer Haut. Sie räusperte sich. »Es ist auf jeden Fall kein Selbstmörder«, sagte sie mit rostiger Stimme. »Hier wollte irgend jemand etwas Lästiges loswerden.«
Willy Bertelsen wechselte die Hand, die Knöchel, die den Bootshaken umklammerten, waren weiß, denn es war mühsam, gegen die Wellen anzukämpfen. »Woher wissen Sie das?« fragte er.
»Ich weiß gar nichts«, sagte sie. »Aber hätten Sie sich Ihre Füße so zusammengebunden, wenn Sie vorhätten, ins Meer zu springen?«
Er sah sie an und schüttelte den Kopf. »Ich frage mich bloß, warum ein Schwimmer daran befestigt ist«, antwortete er nur.
»Der Kanister war vermutlich mit Sand oder Wasser gefüllt«, sagte Moss. »Er sollte wohl als Ballast dienen, nicht als Schwimmer. Dann ist irgendwas schiefgelaufen, und das Wasser, oder was auch immer, ist ausgelaufen. Wieviel faßt der Kanister, was meinen Sie?«
»Sieht aus wie ein Fünfundzwanzig-Liter-Kanister«, sagte Bertelsen.
»Der Verschluß sitzt noch drauf«, sagte Moss. »Kann es sein, daß der Kanister leckgeschlagen ist?«
»Gestern war doch so ein schreckliches Wetter«, sagte Bertelsen und blickte über die Reling. »Sturmböen, haben sie beim Wetterdienst gesagt. Anscheinend ist zuviel Lose gegeben worden.«
»Lose?«
»Sehen Sie nicht die Leine da, zwischen ... na ja, von der Leiche zum Kanister? Sie ist mindestens anderthalb Meter lang. Bei den Wellen gestern war der Kanister wahrscheinlich einem ziemlichen Zug ausgesetzt, vor allem, wenn ... das da, die Leiche, nach oben wollte. Die füllen sich mit Luft, wissen Sie. Ein unglaublicher Auftrieb. Und dann ist der Kanister über den Meeresgrund geschleift worden, in dieser Gegend gibt es viel scharfen Schiefer, und dann ist er wohl leckgeschlagen. Er sieht nicht aus wie die Kanister, die man sonst verwendet, das Plastik ist so dünn, vielleicht ist er eher fürs Campen geeignet.«
Er schaute wieder ins Wasser.
Margaret Moss tat dasselbe. Der eine Arm der Leiche klatschte gegen die Bootswand. Die Hand war klein. Vielleicht war es ein Mädchen? Sie konnte sich nicht dagegen wehren: Schnell versuchte sie sich zu erinnern, ob Karen ein rotes T-Shirt besaß.
Sie wußte es nicht.
Selbstverständlich war es nicht Karen.
Natürlich nicht!
Sie warf Bertelsen einen raschen Blick zu. Er hatte erzählt, daß Bente blond sei, konnte die hier blondes Haar gehabt haben, bevor es so salzwassernaß und tangartig geworden war? Sie glaubte es zwar nicht, hatte aber auch keinerlei Erfahrung mit Wasserleichen. Im Lauf der kurzen Zeit, die sie bei der Polizei gewesen war, hatte sie nur eine Wasserleiche gesehen, einen Penner, der vom Bootssteg gefallen war. Er hatte einige Tage im Wasser gelegen. Wie lange diese Leiche an den Stränden entlanggetrieben war, ließ sich nicht ohne weiteres sagen, aber der Körper in dem T-Shirt wirkte so aufgedunsen, daß es wohl schon eine ganze Weile sein mußte. Es graute ihr davor, daß die Polizei kommen und die Leiche umdrehen würde.
Sie blickte schnell zu Bertelsen hinüber. »Kommt die Wasserschutzpolizei hierher?«
»Ja«, sagte er, hielt den Bootshaken mit aller Kraft fest und versuchte, die Leiche ruhig treiben zu lassen.
Margaret dachte, es ging doch mit dem Teufel zu, daß sie ausgerechnet auf diese Tour mitgekommen war, auf der Bertelsen und sein Sohn eine Wasserleiche fanden. Sie schniefte und wischte sich mit dem Ärmel die Nase. Sie überlegte, ob sie Bertelsen bitten könnte, sie als seine Cousine oder so auszugeben, aber noch bevor sie den Gedanken zu Ende gedacht hatte, war ihr klar, daß das ein alberner Einfall war. Sie war Zeugin, sie würde auf dem Präsidium verhört werden, und sie würde gezwungen sein zu sagen, wer sie war.
Die erfolgloseste Detektivin der Stadt – at it again!
Verdammt!
Sie schniefte erneut und hielt sich an der Reling fest, während das Boot hin- und herschlingerte, und blickte hinüber zu den nördlichen Hügeln.
Das da im Meer war definitiv nicht sehenswert.