Читать книгу Die Spur der toten Engel - Norwegen-Krimi - Kjersti Scheen - Страница 9
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ОглавлениеMy baby even left me,
never said a word.
Crudup
Es war ein kalter und grauer Frühling.
Die Krokusse steckten gerade ihre Köpfe hoch und breiteten zwischen den Frostnächten ihre Kronblätter aus. Maisens Kater schrie im Morgengrauen unter den Apfelbäumen.
Margaret Moss fiel es schwer, das Mädchen im Meer zu vergessen.
Wer war sie gewesen?
Eines Tages rief sie im Polizeipräsidium an und fragte nach ihrem alten Freund Charlie, aber es stellte sich heraus, daß er gerade auf einer Fortbildung in Stavanger war. Sie trommelte auf der Tischplatte und fragte sich, ob sie sich zu Inspektor Averøy durchstellen lassen sollte, entschied sich jedoch dafür, keine schlafenden Hunde zu wecken. Wenn Ansgar Averøy erst einmal der Meinung war, daß Margaret Moss etwas mit im Meer treibenden Wasserleichen zu tun hatte, würde sie bis Weihnachten keine Ruhe mehr haben.
Sie dachte an Bente Bertelsen und an das Mädchen, das auf der niedrigen Treppe in Dronningens gate gesessen hatte, das Mädchen mit den Herpesbläschen und der Blasenentzündung.
Sie dachte an Karen.
Sie waren so zart, solche Mädchenkörper.
Es war so wenig nötig, um sie zu zerbrechen.
Und wer weiß, wie gut die Nahrungsreserve war, die man dem eigenen Mädchen mit auf den Weg hatte geben können.
»Du frierst doch wohl nicht?« fragte Moss ihre Tochter, als sie eines Tages überraschend vom Kindergarten aus anrief.
»Nein, sie haben mir einen Overall gekauft. Aber meine Doc Martens sind durchgelaufen, das merke ich jetzt, wo ich fast den ganzen Tag draußen bin. Du kannst mir nicht zufällig was leihen für neue?«
»Ich bezahle sie dir«, sagte Moss.
»Kannst du dir das denn leisten?«
»Klar«, sagte Moss großzügig, obwohl sie nicht einmal wußte, ob ihr Konto überhaupt gedeckt war. »Und wie geht’s dir sonst?«
»Ach, ganz gut«, sagte Karen und klang ein bißchen abweisend.
»Was macht ihr denn so? Du und Vokter?«
»Alles mögliche.«
»Weißt du, das soll kein Verhör sein«, sagte Moss plötzlich resigniert. »Ich treibe nur Konversation. Wollte wissen, wie’s dir geht und so.«
»Na ja«, sagte Karen gedehnt. »Vokter arbeitet ziemlich viel. Also, es ist keine richtige Arbeit, aber immerhin. Er ist viel unterwegs.«
»Unterwegs?«
»Mama!«
»Hör mal, es sieht dir gar nicht ähnlich, so wortkarg zu sein, verdammt noch mal!« Es gelang Moss nicht, den freundlichen Ton aufrechtzuerhalten. »Da bist du dein Leben lang einigermaßen gesprächig gewesen, um nicht zu sagen geschwätzig, und dann ist plötzlich Schluß! Da ist es doch kein Wunder, wenn ich anfange, mir Gedanken zu machen, was da los ist!«
Schweigen in der Leitung.
»Könnte ich ...«, setzte Margaret an, inzwischen ziemlich desperat. »Könnte ich vielleicht mal bei dir vorbeikommen? Sehen, wie’s dir so geht? Damit ich mich vielleicht beruhige? Heutzutage geschehen so viele komische Dinge!«
Wieder Stille, dann schließlich Karens zögernde Stimme. »Doch. Klar kannst du mal vorbeikommen.«
Als der Renault am nächsten Tag über Galgeberg in Richtung Altstadt ratterte, dachte Moss, daß sie viel zu sehr zuließ, wie ihre Beziehung zu Karen von Bente Bertelsens Verschwinden geprägt wurde. Das Kind wollte nur seine Ruhe, Karen hatte den großen Sprung weg von zu Hause geschafft, und man wußte ja, wie sich das anfühlte: Wenn das Band erst einmal zerrissen war, fiel es erstaunlich leicht, nicht mehr zu Hause anzurufen. Es war sogar geradezu unangenehm, das zu tun. Es riß etwas auf, zerstörte, löste Schuldgefühle aus.
Ach!
Sie plazierte den Wagen mit großer Mühe in einer Parklücke und blickte zu dem Haus hinauf, in dem Karen wohnte.
Verfallen und häßlich. Gesims, das aussah, als würde es jeden Moment herabfallen, was es teilweise offenbar schon getan hatte.
Im gesamten Erdgeschoß hatten die Bewohner die Fenster mit Pappe oder aufgespanntem Stoff verhängt, eine Scheibe war zerbrochen und durch Plastik ersetzt, das sich in der Zugluft leicht beulte. Irgendwo baumelte ein Papagei aus Filz, anderswo hatte jemand von innen Plakate an die Fenster geklebt, die für Konzerte einer Gruppe warben, die sich Inhalers nannte, und etwas weiter weg hing Abnormal, ah ja. Sie fand den Namen ihrer Tochter zwischen diversen anderen und drückte auf die Klingel.
Eine freundliche, aber reservierte Karen mit einem langen, gestreiften Wollpullover, verwaschenen Jeans und Filzpantoffeln kam herunter, um zu öffnen.
Karen und Vokter bewohnten ein großes Eckzimmer am Ende eines langen Korridors im zweiten Stockwerk. Ein schnittiges Mountainbike lehnte an der Wand, es wimmelte nur so von Joggingschuhen und Stiefeln in allen Größen und Modellen, irgendwoher erklang Musik, etwas Unbestimmtes und Technoartiges.
Margaret sah sich um, bei Karen war es erstaunlich aufgeräumt, das mußte an Vokter liegen, nicht an ihr. Ein Schreibtisch mit akkuraten Stapeln von Büchern und Papier, auf dem Fußboden ein Bett aus zwei Matratzen, bedeckt mit einer alten Häkeldecke, ein Sofa aus der schlimmsten Teakperiode mit einem Bezug wie Lungenhaschee, und in die Armlehnen waren kleine, amöbenförmige Holzplatten eingelassen. Ein runder Tisch mit Glasplatte, den Karen vom Dachboden in Smestad mitgenommen hatte. Außerdem gab es noch zwei Sessel, die ganz offensichtlich von zwei verschiedenen Möbelfuhren stammten und den Eindruck eines »Blind date« der Möbelstücke erweckten: Sie war klein und mit hellgrauem Bouclee bezogen, er groß und stämmig und aus der ersten IKEA-Periode – unappetitlich gelbes Kiefernholz mit zerschlissenen Wollkissen.
Grünpflanzen auf dem Fensterbrett.
»Ist es nicht schön hier?« fragte Karen und sah sich um.
»Doch«, sagte Margaret und setzte sich auf den gelben Sessel. Er erinnerte sie an die Zeit, als sie Schauspielschülerin am Nationaltheater in Bergen gewesen war.
Bad vibes.
Dann redeten sie. Lockerer Small talk, Margaret dachte sich, sie müsse jetzt behutsam vorgehen, es erinnerte sie daran, wie wenn man eine Katze hervorlockt; man sitzt eine halbe Ewigkeit in der Hocke und sagt miezmiezmiez. Aber es war ihr auf einmal wichtig herauszufinden, was Vokter (und vielleicht auch Karen) so trieben.
Was sie erfuhr, war, daß Vokter selten zu Hause war. Und daß Karen sich manchmal einsam fühlte. Ganz so hatte sie es sich nicht vorgestellt, als sie zu ihm gezogen war.
»Aber das war natürlich mein eigener Fehler, Mama!«
Karen sah sie mit entschlossener Miene an. »Auch als ich ihn kennenlernte, war er fast nie zu Hause«, sagte sie. Dann wechselte ihr Gesichtsausdruck, und sie blickte auf ihre Hände. »Aber ich hatte wohl geglaubt, er würde öfter hiersein, wenn ich herziehe.«
Sie richtete sich auf und fügte hinzu: »Aber das ist er nicht, und ich bin sehr müde, wenn ich den ganzen Tag im Kindergarten gewesen bin, insofern ist es schon okay für mich!«
Margaret Moss betrachtete ihre Tochter.
Sie wurde allmählich erwachsen. Moss hätte erleichtert sein müssen, aber ihr war eher traurig zumute. Es ist bekanntermaßen keine ungetrübte Freude, erwachsen zu sein. Und irgend etwas in Karens Gesicht zeigte, daß sie bedrückt war, daß es etwas gab, womit sie nicht herausrücken wollte. Irgendein Kummer. Eine Anspannung über den Wangenknochen, etwas Dunkles unter den Augen.
Was zum Teufel trieben sie eigentlich?
Karen ging hinaus, um Tee zu kochen, und Moss sah sich in dem hellen Zimmer um.
Die Tapeten an den Wänden waren häßlich und voller Risse, aber es waren Plakate angebracht, die das Schlimmste überdeckten. Es gab keinerlei Hinweise über Vokter als Person. Er war offenbar ordentlich. Das waren ehemalige Knastbrüder allerdings auch.
»Ich hatte gehofft, Vokter zu treffen«, meinte sie versuchsweise, als Karen zurückgekommen war.
»Er ist unterwegs«, sagte Karen und sah zur Seite.
»Mit dem Hund?«
»Nein, Vebjørn ist hier.« Karen erhob sich, offensichtlich erleichtert über den Wechsel des Gesprächsthemas. Sie ging zur Tür und öffnete sie. »Vebjørn?« lockte sie. Auf dem Flur war das Geräusch von Tatzen auf glattem Fußboden zu hören, dann steckte der Hund den Kopf ins Zimmer und sah sich um. »Bei Fuß«, sagte Karen. »Bei Fuß!«
Vebjørn war ein großer Hund. Er sah aus wie ein wenig Deutscher Vorstehhund und ein wenig Golden Retriever plus einem zusätzlichen Einschlag von etwas Großem, denn Vebjørn hatte etwas wie von einem zotteligen Bären, als er über den Boden trottete und seine Schnauze zwischen Karens Knie preßte.
»Das macht er immer«, sagte Karen und streichelte das borstige Fell. »Vokter meint, der Hund hat eine harte Jugend hinter sich. Er hatte vor allem möglichen Angst, als Vokter ihn fand. Ich glaube, er fühlt sich geborgen, wenn er so dasteht.«
Der Hund stand ganz still da mit dem Kopf zwischen ihren Knien. Der Schwanz wedelte sachte hin und her.
Da knallte eine Tür, und im Flur redete jemand. Karen hörte auf, den Hund zu streicheln, und blickte Richtung Tür. Moss bemerkte, daß sie angespannt aussah.
Dann kam jemand herein.
Es war Vokter. Er stellte eine große Nylontasche auf den Boden und zuckte sichtlich zusammen, als er Margaret sah. Dann hob er die Hand und lächelte, breit und charmant. »Hallo!«
Von Karen erklang ein hörbarer Seufzer, als sei sie plötzlich erleichtert, dann lächelte sie ebenfalls und sagte: »Hallo! Wir haben Besuch!«
Auch Margaret versuchte sich an einem Lächeln. »Na, unterwegs gewesen?«
Er nickte. Strich sich über den kahlgeschorenen Kopf. Dann setzte er sich auf den Schreibtischstuhl, drehte ihn so, daß er Auge in Auge mit Margaret saß, und lächelte wieder. Er sah aus wie der Traum einer jeden Schwiegermutter, und wenn er dann noch etwas mehr Haare gehabt hätte ...
»Ich hab mich ein bißchen verspätet«, sagte er. »Der Zug hat eine Ewigkeit zwischen Sande und Holmestrand gestanden. Ich weiß nicht, wieso. Hast du schon gegessen, Karen? Ich bin verdammt hungrig.«
»Es gibt Suppe in der Küche«, sagte Karen. »Aber die ist jetzt wohl kalt.«
»Ich mach sie mir heiß«, sagte er, stand auf und ging hinaus.
Karen warf ihrer Mutter einen Blick zu. »Er hat überall da unten Freunde und Familie«, sagte sie rasch. »Sandefjord und Horten und Tønsberg und so. Er ist ja arbeitslos, er hat Zeit, und da fährt er eben hin, um sie zu besuchen. Ab und zu nimmt er da auch einen Job an. Das ist doch nicht so komisch, oder?«
»Nein, nein«, sagte Moss.
Karen erhob sich halbwegs. »Vokter?« rief sie. »Es gibt frisches Brot in ... ach, er hört mich nicht.«
Sie stand auf und verschwand nach draußen.
Margaret erhob sich ebenfalls, war mit einem großen Schritt drüben bei der schwarzen Nylontasche, die offen war, und sah hinein.
Ein Wollpulli. Ein Taschenbuch. Ein Discman. Eine zusammengerollte ›Verdens gang‹. Ein Taschenkalender.
Sie hörte, wie Karen und Vokter in der Küche miteinander redeten.
Blitzschnell öffnete sie den Taschenkalender.
»Vokter«, stand da in schiefer Schrift und darunter in Druckbuchstaben »Vebjørn Valseth, Budalsveien 7, Nøtterøy«. Mehrere zusammengefaltete Zeitungsausschnitte lagen darin, sie traute sich nicht, sie auszubreiten, hier und da war etwas unterstrichen – »... und vertritt die Ansicht, daß die Abtreibung gegen das biblische Wort und Gottes Auffassung vom Sinn des Lebens verstößt ...«, las sie, traute sich jedoch nicht weiterzulesen, sondern steckte den Kalender wieder zwischen den Pullover und die Zeitung.
Karen konnte doch wohl nicht schwanger sein!
Als die Tochter hereinkam, saß Moss in dem gelben Sessel und wippte mit ihrer Teetasse.
»Ich bin froh, daß ich dich besucht habe«, sagte sie in so natürlichem Tonfall wie möglich. »Es ist hier viel schöner, als ich gedacht hatte. Das Haus ist von außen so verfallen, aber hier drinnen ist es ja richtig gemütlich.«
Karen schien erfreut.
»Willst du auch Suppe?«
»Nein danke«, sagte Moss.
Sie fuhr mit einem unangenehmen Gefühl im Magen nach Hause.
Der Gedanke, daß Vokter mehr Dinge trieb, als sie erfahren durfte, und daß Karen offenbar davon wußte und sich Sorgen machte, plagte sie.
Karen konnte nicht schwanger sein, das hätte sie ihr erzählt. Sie hatte früher schon einmal so etwas befürchtet und hatte freiwillig mit ihr darüber gesprochen.
Im nachhinein allerdings, als die Gefahr vorüber war.
Es mußte etwas anderes sein, oder?
Was sie zu Karen gesagt hatte, nämlich daß sie jetzt beruhigt sei, entsprach nicht der Wahrheit, ganz im Gegenteil. Irgend etwas war da im Gesicht dieses kahlgeschorenen Jungen mit den blauen Augen, eine Verschlossenheit, die nicht zu seinem ansonsten so zuvorkommenden und freundlichen Ton paßte.
Sie hatte das Gefühl, als sei er nett zu Karens Mutter gewesen, damit sie sich nicht einmischte.
In was denn einmischte, Moss?
Sie würgte den Motor an der Smestadkreuzung ab, fluchte und startete den Renault noch einmal, dann schlich sie die Hügel hinauf, begleitet vom lautstarken Protest des Wagens.
Als sie nach Hause kam, lagen vier Rechnungen in ihrem Briefkasten sowie ein gelber Briefumschlag ohne Absender. Sie brachte es nicht fertig, die Rechnungen zu öffnen. Sie hatte ohnehin kein Geld, um sie zu begleichen, legte sie zuoberst auf den Stapel, der sich auf der Kommode im Flur angehäuft hatte, und öffnete den gelben Umschlag.
Dann ging sie noch im Mantel ins Wohnzimmer und setzte sich jäh hin.
Sie hatte einen anonymen Brief bekommen.