Читать книгу Die Spur der toten Engel - Norwegen-Krimi - Kjersti Scheen - Страница 6
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ОглавлениеLook at me, I’m as helpless
as a kitten up a tree.
Burke/Garner
»Du hast mir da überhaupt nicht reinzureden«, sagte Karen, als sie im Taxi saßen, und starrte vor sich hin. »Du hast doch selbst niemals ein geordnetes Leben geführt.«
Nein, das hatte sie natürlich nicht, Margaret Moss sah aus dem Autofenster. Sie fuhren Richtung Smestad, so schnell, daß der Kies eines langen Winters hochspritzte. »Kannst du begreifen, warum sie nie die Straßen kehren?«
»Nein«, sagte Karen.
»Dafür bezahlen wir doch Steuern, oder etwa nicht?« sagte Margaret.
»Weiß nicht, ich hab noch nie welche gezahlt«, sagte Karen. »Mama, er ist ein anständiger Typ, echt jetzt.«
»Warum meldest du dich denn nie zu Hause?« fragte Margaret.
»Ach Mann«, sagte Karen. Dann schwieg sie und kaute auf der Innenseite ihrer Wange.
»Hat er gesessen?« fragte Margaret.
»Nein!«
Karen kaute weiter, blickte hartnäckig aus dem Fenster.
»Okay, was ist es dann?« sagte Margaret.
»Ich wußte, daß du Streß machst«, sagte Karen. Dann drehte sie sich um und betrachtete ihre Mutter eingehend. »Pfui Teufel, wie siehst du eigentlich aus? Hast du dich heute nicht gekämmt, oder was?«
»Nein«, sagte Margaret. »Ich ... ach, Karen, ich ... wir haben eine Wasserleiche gefunden! Heute frühmorgens, draußen bei Fagerstrand, sie lag mit dem Gesicht im Wasser, und einen ganz kurzen Moment habe ich gedacht, du bist das!«
Ohne Vorwarnung begann sie zu weinen. Sie beugte sich vornüber und preßte die eine Hand vor den Mund.
»Was?« sagte Karen. »Wo bist du gewesen?«
»Auf einem Schiff«, sagte Margaret, ohne die Hand wegzunehmen. »Sie hatte ein rotes T-Shirt an, und ich wußte nicht, ob es deines war, ich wasche ja nicht mehr deine Wäsche.«
Sie weinte und weinte, und als das Taxi in Smestad vor der verfallenen Villa im funktionalistischen Baustil anhielt, mußte Karen in ihrer Umhängetasche nach Geld suchen, um zu zahlen. Dann stiegen sie aus, und Karen sah unentschlossen aus, bevor sie einen Arm um den Rücken ihrer Mutter legte und sie die schmale Auffahrt entlang stützte.
Als sie an die Haustür kamen, stand dort eine alte Dame in schmutzigen rosafarbenen Pantoffeln, heruntergerutschten Kreppstrümpfen und einem Tweedrock voll weißer Katzenhaare. Margarets Tante Maisen.
»Das schlägt doch dem Faß den Boden aus!« sagte sie und tippte die Asche von ihrer Zigarette ab, die sie zwischen zwei Fingern hielt. »Wart ihr alle beide auf Zechtour?«
Eine Viertelstunde später lag Margaret in der Badewanne und hörte ihre Tante und Karen draußen in der Küche laut reden. Maisen lachte ihr gackerndes Lachen, dann erklangen Karens schnelle Schritte im Flur, und die Tür öffnete sich mit einem Knall.
»Willst du Tee oder Kaffee?«
»Kaffee«, sagte Margaret, die eigentlich vorgehabt hatte, sich einen Wodka zu gönnen. »Ich habe schon im Oslo City Tee getrunken.«
»Oh Mann«, sagte Karen. »Du hältst dich aber auch an den merkwürdigsten Orten auf. Vermutlich wolltest du in die Weinhandlung.«
»Ja, das wollte ich vermutlich», sagte Margaret Moss laut zu sich selbst, denn Karen hatte schon die Tür hinter sich geschlossen und war wieder in die Küche gegangen.
Dann saßen sie zusammen wie schon so oft. Tante Maisen, die mit zitternden, blau geäderten Händen ihre Tasse festhielt, während die Zigarettenasche über ihren Pullover rieselte, der früher vielleicht sogar schön und teuer gewesen war, Karen mit ihrer neuesten Frisur, streichholzkurz und schwarz-blau-gestreift, und Margaret im Frotteebademantel, das Haar in ein Handtuch gewickelt.
Plötzlich ging es ihr beinahe richtig gut.
Sie spürte, wie Wochen der Unruhe von ihr glitten, weil ihre Tochter hier saß und weder ertrunken noch unglücklich war. Jedenfalls nicht unglücklicher als sonst.
»Leg mal diese Miene ab, die du gerade machst, ich hab nicht vor, wieder nach Hause zu ziehen«, sagte Karen und schenkte sich Tee nach.
»Schon gut«, sagte Moss. »Kannst du ein bißchen erzählen, was du gerade so machst?«
Es stellte sich heraus, daß der Junge aus der Nähe von Tønsberg stammte und Vebjørn hieß, aber der Name schien ihm nicht besonders zu gefallen, denn er nannte sich Vokter, der Wächter.
»Ach Gott«, sagte Margaret. »Warum denn das?«
»Weiß ich nicht«, antwortete Karen. »Es gefällt ihm wohl einfach. Mama! Es ist nicht so, wie du denkst! Er hat nicht ... er hat nicht in Ullersmo oder so gesessen! Er ist nur ... er hat bloß ... Ach, Mama! Er ist total nett. Wirklich!«
Es wurde still. Die Kolsås-Bahn arbeitete sich von der Haltestelle Smestad aus langsam bergauf, eine Kohlmeise hing kopfüber in der halben Kokosnuß vor dem Fenster und sang zizibäh-zizibäh.
»Eigentlich sah eher der Hund aus wie ein Wächter«, sagte Margaret schließlich.
»Er heißt Vebjørn«, sagte Karen. »Ist das nicht witzig?«
»Doch«, sagte Margaret und seufzte.
»Ich hab mir einen Job besorgt«, sagte Karen nach einer Weile.
»Wo denn?« fragten Margaret Moss und die Tante im Chor.
»Im Kindergarten«, antwortete Karen und blickte triumphierend in die Runde. »Oben auf Ekeberg. Wirklich wahr. Ich hab ihn gestern gekriegt. Ich bleib auf alle Fälle bis zum Sommer. Vielleicht auch länger.«
»Hat er denn Arbeit, dein Typ?« fragte Margaret und hätte sich selbst ins Gesicht schlagen können, weil sie so dumm war, denn natürlich hatte er keine Arbeit, und jetzt hatte sie den großen Auftritt von Karen vermasselt.
Von Karen, die noch nie einen Job gehabt hatte.
»Er kriegt demnächst eine«, sagte Karen und sah an ihrer Mutter vorbei. »Es liegt nicht daran, daß er es nicht versuchen würde. Aber er muß so viel anderes machen. Ich meine, er hat zwischendurch immer mal wieder irgendwelche Jobs.«
»Ich glaube, ich brauche jetzt trotzdem einen Wodka«, sagte Margaret und erhob sich langsam. »Und du, Maisen?«
»Meine Güte, es ist ja ein bißchen früh, und eigentlich mag ich ja keinen Wodka«, sagte die Tante und sah munter aus. »Aber ich kann mich ja hinterher immer noch ein bißchen hinlegen.«
Und während der Märztag verging, Tante Maisens Zigaretten das Wohnzimmer mit blauem Rauch füllten und der Wodka seine Wirkung auf Margaret Moss’ Nerven und das Mundwerk der Tante zeigte, saß Karen mit angezogenen Füßen da, wippte eine halbleere Teetasse hin und her und gähnte.
Maisen befand sich mitten in einer ihrer längeren Ausführungen über das Leben am Theater, damals, als sie Schauspielerin und alles viel besser gewesen war. Margaret schwebte in einem Nebel von Müdigkeit und Alkohol und rief sich ins Gedächtnis, daß sie noch immer nicht vernünftig mit ihrer Tochter gesprochen hatte. »... und damals war er brillant, sag ich euch, er ... oh, ihr wißt, wen ich meine, der mit dem Schnurrbart, er ist inzwischen tot, aber, ach, wie hieß er noch, hilf mir mal, Margaret!« unterbrach die Tante irritiert ihre Gedanken.
»Mjøen«, sagte Margaret aufs Geratewohl. Das stimmte oft, denn es hatte in dieser Familie viele Schauspieler gegeben. Und auch jetzt schien es zuzutreffen, die Tante zwitscherte erleichtert weiter, während Margaret Karen im Sofa anschaute.
Sie wohnte in der Altstadt mit einem Typen zusammen, über den sie nicht sprechen wollte.
Sie wirkte auch mager, die Schlüsselbeine traten auf eine ungesunde Weise hervor, wie sie es sonst nicht taten.
»Ißt du auch mal was?« fragte Margaret und unterbrach den Redestrom ihrer Tante.
»Essen?« erwiderte Karen. »Was meinst du?«
»Imbißbudenessen?« meinte Moss.
»Bohnen«, antwortete Karen. »Linsen, Kichererbsen, mengenweise Gemüse. Kauf ich in Einwanderergeschäften. Sehr billig und viel gesünder als das ganze eklige Zeug, das du dir so reinstopfst. Wenn du dir überhaupt mal was reinstopfst – ich wette mit dir, daß du hier diejenige bist, die an der Imbißbude ißt!«
Margaret sah beschämt unter sich. Es stimmte, daß sie es mit dem Kochen nicht so genau nahm, jetzt, wo Karen nicht mehr zu Hause wohnte. Eine begnadete Köchin war sie ohnehin nie gewesen.
»Du bist so dünn«, sagte sie sauer.
»Ja, das kann man von dir jedenfalls nicht behaupten«, sagte Karen.
Tante Maisen, die Konfrontationen haßte, griff sich ihre Zigaretten und das Feuerzeug, während sie sich und den Sessel, auf dem sie gesessen hatte, von Asche befreite. »Nein, ich glaube, ich leg mich ein bißchen hin«, sagte sie rasch. »Früher war das anders. Da konnte ich die ganze Nacht aufbleiben.«
»Das kannst du immer noch«, sagte Karen. »Wenn du dich nur vorher etwas ausruhst.«
Sie versöhnten sich über einem Nudelgericht, das sie in trauter Zweisamkeit zubereiteten. Es gelang Margaret, sich nach nichts anderem als dem Essen zu erkundigen, und Karen ihrerseits war versöhnlich genug, um ihrer Mutter beizubringen, wie man Spaghettisoße kocht, ohne etwas im Schrank zu haben.
»Hab ich von Vokter gelernt«, sagte sie geschäftig und raspelte alte Käserinden in einen tiefen Teller. »Er kann fast alles, weißt du?«
Sie aßen, während Margarets Augen die ganze Zeit zuzufallen drohten, und Karen erzählte eifrig vom Kindergarten Eikenøtten, von ihrer Wohngemeinschaft und der Kunst, Sauerteigbrot zu backen, während die Dunkelheit draußen sich verdichtete. Das letzte, was Margaret in ihrem müden Gehirn wahrnahm, bevor sie am Tisch einschlief, war das Haar des ertrunkenen Mädchens: Wie Seegras oder braune Bindfäden schwamm es auf der Wasseroberfläche.