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Well, it’s down at the end of

Lonely Street, Heartbreak Hotel.

Durden/Axton/Presley

Es klingelte.

Margaret Moss arbeitete sich durch Schichten von Schlaf und richtete sich im Bett auf. Es war weder das Telefon noch der Wecker. Offenbar stand jemand unten an der Tür und klingelte, sie zog eine Grimasse und strich sich das Haar nach hinten.

Es war halb elf, und die Sonne strömte durchs Fenster, sie hatte vergessen, gestern abend das Rollo hinunterzuziehen.

Es klingelte erneut.

Sie murmelte etwas, schob die Bettdecke beiseite, öffnete die Schranktür und suchte nach einem Bademantel, bis ihr einfiel, daß sie ihn am Abend vorher getragen hatte. Schließlich fand sie ihn halb unter dem Bett verborgen. Sie ging hinaus in die Küche und schaute aus dem Fenster.

Ein großer, glatzköpfiger Mann stand unten auf der Treppe und hatte gerade die Hand erhoben, um noch einmal auf die Klingel zu drücken, als sie das Fenster öffnete und sich hinauslehnte.

Der Mann war über einen Meter neunzig groß, mit langem Hals und schiefen Schultern.

Unten, wo der Körper in einer grauen Windjacke und einer weiten, grauen Hose verschwand, war er seltsam gedrungen und formlos. Er trug eine randlose Brille, seine Haut war gelblichbleich, und er hielt etwas in der Hand, was wie eine Art Melone aussah.

»Ja?« sagte Margaret. »Was ist denn?«

Er zuckte zusammen und blickte hinauf, blinzelte in dem scharfen Frühlingslicht.

»Mein Name ist Kolbjørnsen«, sagte er. »Dürfte ich bitte hineinkommen?«

»Was ist denn?« fragte Margaret. »Zeugen Jehovas?«

»Keineswegs«, antwortete er würdevoll.

»Aha«, sagte Margaret und zog ihren Bademantel enger zusammen. »Worum geht es denn dann?«

»Sind Sie nicht Margaret Moss?« fragte er und holte seine Brieftasche aus dem Inneren seiner Windjacke. Er zog etwas heraus, das aussah wie ein Zeitungsausschnitt. »Hier steht es. Margaret Moss, Privatdetektivin. Aufträge aller Art. Preiswert.«

»Ach ja, das«, sagte Margaret Moss und runzelte die Stirn. Es war eine Anzeige, die sie vor Ewigkeiten einmal in einem Anfall von Übermut ins ›Dagbladet‹ gesetzt hatte. »Es ist so gedacht, daß man vorher anruft. Ich empfange hier keine Kunden.«

»Aber ich habe vorher angerufen«, sagte dieser Kolbjørnsen. »Mehrmals. Aber Sie sind ja nie zu Hause.«

»Es war aber keine Nachricht auf meinem Anrufbeantworter«, sagte Moss abweisend.

»Ich bin es nicht gewohnt, mich solcher Dinge zu bedienen«, sagte er und errötete sofort bis über beide Ohren, als ob sie ihm Noppenkondome empfohlen hätte.

»Ach so«, sagte Margaret. »Aber ich bin jetzt leider gerade nicht angezogen. Wenn Sie sagen, wo Sie wohnen, kann ich im Laufe der Woche mal vorbeischauen. Wenn es was Eiliges ist.«

Er blickte unentschlossen vor sich hin, dann suchte er wieder in seiner Brieftasche und holte eine Visitenkarte heraus, die er ihr entgegenhielt, als könne sie sie auf diesen Abstand lesen.

»Stecken Sie sie in den Briefschlitz in der Tür«, sagte sie und schloß das Fenster mit einem Knall. Sie mochte es nicht, wenn sie vor dem Frühstück mit Kunden konfrontiert wurde.

Aber ein Kunde war immerhin ein Kunde.

Der Briefschlitz war eine Erfindung früherer Zeiten, heutzutage wurden Zeitungen und Post in den Briefkasten neben der Einfahrt gesteckt. Sie ging barfuß die Treppe hinunter, hob das kleine, weiße Rechteck auf und wartete. Dann hörte sie, wie sich seine Schritte auf dem Kies entfernten, und sie atmete erleichtert auf. Sie hatte befürchtet, daß er noch einmal klingeln würde.

»Kristoffer Kolbjørnsen – Vårsolsvingen 18 b« stand auf der Karte.

Vårsolsvingen. Das mußte in einer der Trabantenstädte sein, sie blickte auf die Postleitzahl. Manglerud oder so etwas.

Sie mußte hinfahren. Sie brauchte wirklich das Geld.

Die Tante öffnete ihre Wohnungstür.

»Es ist nichts«, sagte Margaret abweisend. Genauso schlimm wie Kunden war Tante Maisen vor dem Frühstück. »Da war nur jemand, der was abgeben wollte.«

»Ein Kunde?« fragte die Tante hoffnungsvoll. »Du könntest das Geld gebrauchen, oder? Aber er sah ja etwas merkwürdig aus.«

»Du selbst siehst ja auch nicht so besonders aus«, sagte Margaret mürrisch. Ihre Nase in alles stecken, das konnte Tante Maisen gut, aber die Tür öffnen, wenn man selbst noch im Bett lag, das konnte sie nicht.

»Willst du einen Kaffee?« fragte die Tante ungerührt. »Ich habe gerade welchen gekocht.«

Margaret zögerte. Die Küche der Tante war in erster Linie davon geprägt, daß sie sich eine Katze hielt, aber es duftete von dort drinnen zweifellos wunderbar nach Kaffee. Noch während sie das registrierte, ging ihr auf, daß das entfernte Klingeln, das sie hörte, nicht aus ihrem eigenen Kopf stammte, sondern vom Telefon im ersten Stock. Sie raffte den Bademantel zusammen und wollte die Treppe hochlaufen, da stolperte sie über den alten weißen Kater, der für gut befunden hatte zu untersuchen, wer sich im Flur unterhielt. Sie fiel beinahe hin, klammerte sich ans Treppengeländer und fluchte, bis sie das Gleichgewicht wiedererlangt hatte.

Als sie oben in ihrem Wohnzimmer war, hatte das Klingeln aufgehört, aber dafür blinkte der Anrufbeantworter. Sie atmete tief durch und drückte den richtigen Knopf. Willy Bertelsens Stimme klang metallisch durch den Raum: Jemand hat Bente in Bislett gesehen, könnten Sie mich bitte zurückrufen? Wir machen uns solche Sorgen, meine Frau und ich! Ob Sie vielleicht hinfahren könnten, sobald Sie Zeit finden?

Es war ein unscheinbares Mietshaus in einer kleinen Straße hinter dem Stadion von Bislett. Es hatte vier Stockwerke, stammte aus den 1880er Jahren und war voller verwitterter Stuckornamente und Taubenmist. Margaret Moss betrachtete die Namensschilder am Hauseingang: Kurierdienst Blitzexpreß und Bislett Massage. Sonst nur normale Wohnungen, schien es.

Aha.

Es mußte nicht so sein, wie Bertelsen befürchtete, selbst wenn der aufmerksame Nachbar, der zuerst meinte, Bente im Rotlichtviertel gesehen zu haben, jetzt glaubte, daß er sie hier in diesem Haus gesehen hätte. Ein verdächtiger Nachbar, fand Moss. Was trieb der wohl an solchen Orten? Das hatte sie auch zu Bertelsen gesagt, aber er hatte gemeint, daß das Leben seines Nachbarn ihn nichts anginge und daß dieser ansonsten ein zurückhaltender und zuverlässiger Mann mit einer wahren Xanthippe als Ehefrau sei und daß er sich auf seine Informationen verlasse. Moss legte den Kopf in den Nacken. Sie betrachtete die Fassade mit den vielen Fenstern. Überall schmucke Gardinen.

Durch die Haustür von Nummer fünfzehn kam und ging niemand, während sie dort stand. Außer einem Postauto fuhren keinerlei Fahrzeuge vorbei, eine richtig verschlafene Ecke war das, mit Resten von Kiesbelag auf der Nordseite.

Es war ja auch noch früh. Moss gähnte, und das Alter ego meldete sich mit seiner gerissensten Hörspielstimme: Es war ein Morgen von der Art, die man bei Sonnenaufgang erschießt, Privatdetektivin Moss schauderte und ging mit schweren Schritten hinaus in die herzlose Stadt, die niemand verläßt, bevor ... Verdammt, da war das Alter ego wohl über Hamsun gestolpert. Ja, ja, sie mußte tun, wofür sie hierhergekommen war. Sie hatte vorher angerufen, gesagt, wie sie hieß, und um einen Massagetermin gebeten.

Es hatte alles ganz normal gewirkt, kein bißchen verdächtig.

Während sie vor dem Haus stand, dachte sie schnell an Roland Rud.

Den Ritter der Landstraße.

In den vergangenen Jahren waren er und sein Lastzug immer wieder in ihr Leben hinein- und wieder hinausgefahren, aber jetzt war es eine ganze Weile her, daß sie sich zuletzt gesehen hatten. Er hatte gut massieren können. Merkwürdig, daß man an Leute in der Vergangenheitsform dachte, nur weil man sie schon länger nicht gesehen hatte. Vermutlich war er noch immer ein geschickter Masseur, nur daß er jetzt wahrscheinlich seine Frau massierte.

Als ob sie ihn jemals vermißt hätte!

Fuck you, Rud!

Dann drückte sie den Klingelknopf von Bislett Massage und ließ alles auf sich zukommen.

Das Massageinstitut befand sich im Keller. Ein handbemaltes Schild mit einer fröhlichen Sonne war an die Tür geschraubt. Darunter war ein eher alltäglicher Zettel angebracht, der die Kunden höflich darum bat, die Tür zur Straße nicht offenstehen zu lassen, die Anwohner würden sich sonst beschweren.

Die Rezeption war eng, aber nett eingerichtet: ein Tresen mit Telefon, Regale aus Rattan mit dicken Frotteehandtüchern, und der Boden des Flurs, der sich weiter hinten gabelte, war mit rotem Teppichboden ausgelegt. Hinter dem Tresen stand eine hochgewachsene junge Frau mit blondem Pferdeschwanz, weißem Pullover und schwarzen Leggings. Sie drehte Margaret den Rücken zu und war gerade damit beschäftigt, Mineralwasserflaschen in einem Kühlschrank mit Glastür zu stapeln. Auf einer Korkpinnwand befanden sich Ansichtskarten, Notizzettel und überbelichtete Fotos von Menschen in Partylaune, die auf dem Weg nach Rhodos und Lanzarote waren. Ein Radio, das Moss nicht sehen konnte, schmetterte gerade die Erkennungsmelodie von P4 – so laut, daß es eiskalt in den Zähnen zog. Das Mädchen drehte sich zu Margaret um und sah sie an. »Ja?« fragte sie.

»Mein Name ist Moss«, sagte Margaret. »Ich hatte einen Termin vereinbart.«

Die junge Frau musterte sie einen Moment lang, dann sagte sie, daß sie nachsehen werde. Sie holte ein protokollartiges Buch hervor und ließ einen Finger mit langen, silberfarbenen Nägeln über die Seiten laufen.

Peee-viiieeer! gellte es wieder durch die Rezeption, und Margaret Moss wechselte von einem Fuß auf den anderen und fühlte sich in ihrem Wintermantel zu warm angezogen.

Die junge Frau warf einen konzentrierten Blick über Margarets Schulter, dann lächelte sie richtig nett und sagte, ja sicher, klar wäre ein Termin vorgesehen, hier seien ein Handtuch und ein Bademantel, dort drüben sei der Umkleideraum, und dann Kabine sieben, ganz hinten im Flur!

Margaret nahm die Sachen in Empfang, drehte sich um und lief einem Mann in die Arme, der direkt hinter ihr stand. Er war klein und stämmig, trug ein T-Shirt und Jeans, die sich unter seinem Bierbauch an die Hüften klammerten. Er hatte eine Trittleiter in der Hand, ein Goldkettchen um den Hals und einen Zigarettenstummel im Mundwinkel. Er blickte sie mit einem unergründlichen Blick an, dann sah er zu dem Mädchen hinüber und fragte: »Hast du Schrauben gekauft?«

Der Umkleideraum war leer. Braune Schränke mit Rolltüren, in denen reihenweise Kleiderbügel an Stangen hingen. Margaret zog sich aus und wickelte sich so schnell wie möglich in den Bademantel. Es war ihr unangenehm, daß es keine Tür gab, nur ein Vorhang trennte den Umkleideraum vom Flur, aber vielleicht war heute Frauentag? Dann trabte sie den Flur hinunter, auf der Suche nach Kabine sieben.

Die befand sich ganz richtig am Ende des Gangs, und sie war leer. Es roch nach Massageöl, eine prosaische Bank mit einer frotteebezogenen Schaumstoffmatratze stand mitten im Raum, ansonsten war wenig Platz für andere Dinge. An drei Wänden entlang verlief ein Regal, in dem es Ölflaschen, eine große Rolle Haushaltspapier und ein vergessenes Haarband aus hellblauer Seide gab. Kein Fenster, ein riesiges Plakat mit einem Sonnenuntergang und Palmen sollte die Illusion von Licht und Raum vermitteln. Margaret zögerte, sich den Bademantel auszuziehen, sie fühlte sich merkwürdig verunsichert.

Die Frau, die schließlich hineinkam, war klein und zierlich und trug einen hellrosa Baumwollpullover, der ihr ständig die Schulter hinunterrutschte, und dünne Baumwolleggings aus demselben Material. »Hallo«, sagte sie leise und streckte Margaret die Hand entgegen. »Ich bin Nina. Ziehen Sie sich aus, dann fangen wir an. Sie können sich selbst ein Öl aussuchen. Lavendel wirkt beruhigend.«

»Dann nehmen wir das«, sagte Moss.

Sie lag auf dem Bauch und fühlte sich unbehaglich. Teils, weil sie sich noch nie – nicht einmal nach all den Jahren am Theater – unbekleidet in Gesellschaft fremder Menschen wohlgefühlt hatte, gleichgültig, welchen Geschlechts, teils, weil es auf der Massagebank anders als bei Physiotherapeuten und Chiropraktikern keine Aussparungen fürs Gesicht gab. Wenn sie bei einer Massage den Nacken verdrehen mußte, war das Ganze wirklich vergebliche Liebesmüh.

Nach einer Weile sagte sie in die Papierschicht hinein, die das Mädchen auf der Massagebank drapiert hatte: »Sie könnten nicht vielleicht ein bißchen härter zupacken?«

»Ich kann’s versuchen«, antwortete es gehorsam hinter ihr, und die kleinen Finger glitten mit ein wenig mehr Kraft über ihren Rücken.

»Wie nennt man das?« fragte Moss im Konversationston.

»Entspannungsmassage«, sagte die junge Frau, die Nina hieß.

Es wurde wieder still. Irgendwo knallte eine Tür, und im Radio lief noch immer P4, aber jetzt weiter entfernt.

»Ich habe Probleme mit dem Nacken«, sagte Moss.

»Ja, das haben viele Leute«, sagte die dünne Stimme. Dann zögerte sie etwas und fuhr fort: »Es könnte sein, daß Sie eigentlich eine richtige Behandlung brauchen, wissen Sie, medizinische Massage, aber das machen wir hier nicht.«

»Ach so«, sagte Moss. »Sie kennen nicht zufällig ein Mädchen, das Bente heißt?«

Die junge Frau mit Namen Nina hielt inne.

»Nein«, sagte sie.

»Ich hätte so gerne mit ihr geredet«, sagte Moss. »Ich hab gehört, sie soll hier arbeiten.«

Noch immer keine Fortsetzung der Massage.

»Wir sind ziemlich viele, und einige von uns arbeiten auch in Schichten«, sagte die Stimme schließlich. »Aber ich weiß nichts von einer Bente. Ich kann aber mal für Sie nachfragen. Sie sind jetzt fertig.«

Aha.

Moss blieb nichts anderes übrig, als wieder auf die Beine zu kommen. Sie stand im Bademantel da und fühlte sich klebrig und nach Lavendel stinkend, als Nina zurückkam. »Nein, hier gibt’s keine, die so heißt«, sagte sie, begann die Ölflaschen zu sortieren und das Papier wegzuwerfen, auf dem Margaret gelegen hatte.

Moss zuckte die Schultern. »Okay«, sagte sie. »Wo kann ich duschen?«

Das Mädchen blickte sie mit großen, dunkelblauen Augen an. »Wenn Sie aus dem Umkleideraum kommen, links«, sagte sie und zog ihren Pullover zurecht, der wieder hinuntergerutscht war.

Dann ging sie.

Der Duschraum war ganz in Ordnung, mit vier Duschen in jeweils einer eigenen Nische, die Wände und der Fußboden waren weiß gefliest. Moss zog den Bademantel aus, bevor sie sich unter eine der Duschen stellte. Sie mühte sich ein bißchen ab, bevor sie die richtige Temperatur eingestellt hatte. Dann nahm sie sich Seife aus einer Seifenschale an der Wand und dachte, daß Behälter mit Flüssigseife hygienischer wären als diese kleinen, glitschigen Seifenstücke, und sie drehte den Hahn auf, um das Wasser in Gang zu bekommen. Als sie sich schließlich umdrehte und die Augen öffnete, stand dort ein Mann.

Ein dicker, nackter Mann mit schwarzem Haar und Stielaugen. Er blickte sie direkt an, weder neugierig noch erschrocken, er sah sie nur an, bevor er quer durch den Raum ging und durch eine Tür auf der entgegengesetzten Seite verschwand.

»Was zum Teufel ...«, sagte Margaret laut, drehte die Dusche ab und schlüpfte in den Bademantel. Dann platschte sie barfuß in den Umkleideraum und beeilte sich so, die Kleider auf den noch nassen Körper zu ziehen, daß der Träger von ihrem schönsten Spitzenunterhemd abriß. Mit nassen Haaren und Mörderblick ging sie, den Bademantel über dem Arm, zur Rezeption.

Der Sender P4 war offenbar der Meinung, daß es Zeit für etwas Geräuschkulisse sei, und es erklang ein schmetternder Song in einer solchen Lautstärke, daß das blonde Mädchen hinter dem Tresen sie zuerst gar nicht bemerkte, doch dann hob sie den Blick von der Zeitschrift auf ihrem Schoß, stand auf und kam zum Tresen hinüber.

»Hören Sie«, sagte Margaret Moss so ruhig sie konnte. »Da ist doch tatsächlich ein Mann reingekommen, als ich gerade duschte!«

»O Mann, gerade neulich hab ich einen Zettel an die Tür gemacht, aber es gibt Leute, die sehen das einfach nicht«, sagte das Mädchen und kratzte sich mit einem langen Fingernagel im Haar. »Das macht dreihundert Kronen.«

Moss hätte nicht übel Lust gehabt, eine Menge zu sagen, doch sie hielt den Mund und holte das Geld heraus. »Arbeitet hier eine, die Bente heißt?« fragte sie nur. Es konnte nicht schaden, noch einmal nachzufragen.

»Nein«, antwortete die junge Frau und schob die Schublade zu, in der die Kasse lag. »Hier gibt’s keine Bente.«

In diesem Moment öffnete sich die Tür hinter ihr, und ein Mann kam heraus. Nicht der Dicke von vorhin, dieser hier war groß und dünn und trug einen Anzug und einen großen Aktenordner. Er musterte Moss. Mit einem konzentrierten und langen Blick. Sie spürte, wie ihr die Hitze in die Wangen stieg, und ging schnell hinaus.

Erst auf der Straße merkte sie, wie wütend sie eigentlich war, erniedrigt und wütend, verdammte, schwarze Hölle! Wenn das mal nicht ein Massageinstitut von der ekligeren Sorte war! Warum zum Teufel hatte das Klappergestell hinter dem Tresen nicht gleich am Telefon abgesagt, als sie angerufen hatte, um einen Termin zu vereinbaren!

Moss, woher sollte sie wissen, daß du kein Bulle bist!

Korrekt.

Aber wie peinlich! Wie verdammt ... widerlich!

Sie spürte, wie Hitzewellen sie durchspülten, und mochte den Mantel nicht zuknöpfen. Voller Rachegedanken ging sie mit langen Schritten am Stadion vorbei und war schon längst in Pilestret, als sie sich endlich beruhigte.

Sie bog Richtung Westen ab, entdeckte im Parkvei eine Eckkneipe und bestellte sich ein großes Bier.

Sie trank es aus und bestellte sich noch eins.

Verdammt noch mal!

Splitterfasernackt hatte sie dagestanden, während jeder xbeliebige ... verdammt! Und dann der Blick, den ihr der Dicke mit den Stielaugen zugeworfen hatte! Dieser selbstverständlich taxierende Blick, der über ihren Körper geglitten war, er hatte wohl geglaubt, daß sie sich da gerade einen Job abwusch! Ihr Herz pochte so sehr, daß sie glaubte, bald einen Herzschlag bekommen zu müssen, sie streckte die Hand in die Luft, und die junge Kellnerin kam. »Haben Sie nichts Stärkeres?«

»Doch, natürlich«, sagte das Mädchen.

»Dann einen Gammeldansk. Und noch ein großes Bier.«

Eine halbe Stunde später hatte sie einen weiteren Gammeldansk getrunken, an ihrem letzten Pils nippte sie allerdings nur. Sie fühlte sich benebelt und abwesend, und ihre Oberlippe kribbelte.

Sie wurde allmählich betrunken.

Aufs Klo mußte sie auch, sie erhob sich und ging langsam und würdevoll auf die Damentoilette. Dort saß sie eine ganze Weile mit heruntergelassener Jeans und starrte auf die Toilettentür, in deren Lackierung jemand »Trude ist eine Hure« geritzt hatte. »Ja, ja«, sagte sie laut. »Wir werden immer mehr!«

Wieder im Lokal, ging sie zum Münzfernsprecher. Nachdem sie eine Weile gezögert hatte, fummelte sie ein Zehnkronenstück aus der Tasche und steckte es in den Apparat.

Sie wählte die Nummer, zuerst die falsche, doch dann traf sie die richtigen Tasten.

»Rud«, meldete sich eine Stimme am anderen Ende kurz angebunden, als die Münze durchgefallen war. Sie schluckte. »Hallo, also ... du könntest nicht mal eben in die Stadt kommen?«

Es wurde ganz still.

»Margaret?«

»Ja, ich bin im Lorry.«

Erneute Pause.

»Wir essen hier bald zu Abend«, sagte der Ritter der Landstraße schließlich. Pause. Dann: »Ist was passiert?«

»Natürlich, verdammt noch mal, warum sollte ich sonst anrufen!«

»Wirst du von jemandem verfolgt?«

Jetzt war Margaret an der Reihe zu schweigen, die Nase kribbelte auf eine Weise, die nur eins bedeuten konnte.

»Verfolgt dich jemand?«

Die Stimme am anderen Ende war jetzt leise, aber eindringlich. »Nein, schon gut«, sagte sie und merkte, daß ihre Stimme sich auf eine peinliche und entlarvende Weise überschlug. »Ich bin nur massiert worden!«

Na gut, dann kam er eben nicht.

Familienväter verließen nicht Frau und Kinder mitten beim Abendessen.

Sie müßte eigentlich auch etwas essen.

Gestern besoffen und heute besoffen – das war nicht gerade überzeugend, wenn man sich vorgenommen hatte, mit dem Trinken aufzuhören. Das Alter ego meldete sich plötzlich zu Wort: Privatdetektivin Moss sah mit schmalem Blick vor sich. »Die anderen oder ich«, murmelte sie durch die Zähne.

Wie murmelte man durch die Zähne? dachte Moss. Ach, diese alten Klischees, was war eigentlich mit ihnen passiert? Sie taugten zu gar nichts mehr.

Die alten Klischees sind ins Altersheim gekommen, sagte das Alter ego, das offenbar ebenfalls getrunken hatte. Dort sitzen sie und erinnern sich nicht mehr daran, wer sie sind, und bekommen das Essen zerkleinert. Die alten Klischees leiden unter Inkontinenz und haben zittrige Hände, das ist es, was mit den alten Klischees passiert ist.

»Ruhe da!« sagte Moss.

Sie bekam eine Speisekarte. Voller Selbstmitleid sah sie vor sich, was wohl die Familie auf Prinsdal aß, Mutter, Vater und zwei Töchter.

Fischstäbchen vermutlich, mit Tiefkühlgemüse, ach ja.

Sie starrte lange auf die Speisekarte, ohne sich entscheiden zu können. Die Kellnerin betrachtete geduldig ihre Nägel. »Haben Sie Fischstäbchen?« fragte Moss schließlich mürrisch.

»Nein«, sagte das Mädchen. »Aber wir haben Fish ’n’ Chips.«

»Dann hätte ich das gerne«, sagte Moss.

Als das Essen zusammen mit einem Salat aus Chinakohl und Thousand-Islands-Dressing kam, sah es aus wie Fischstäbchen.

Es schmeckte ... wie hieß das noch?

Sortentypisch – und intensiv im Abgang.

Die Spur der toten Engel - Norwegen-Krimi

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