Читать книгу Die Spur der toten Engel - Norwegen-Krimi - Kjersti Scheen - Страница 8
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ОглавлениеNice work if you can get it
and you can get it if you try.
Gershwin/Gershwin
Wie sie vermutet hatte, lag Vårsolsvingen in Manglerud. Margaret Moss manövrierte den alten Renault zwischen zwei Reihen geparkter Autos und fand sowohl die richtige Adresse als auch einen freien Parkplatz. Es war ein Tag nach dem Besuch in Bislett, und sie hatte Bente Bertelsen für eine Weile hinter sich gelassen.
Neue Horizonte, das war es, was sie brauchte.
Sie wußte nicht, auf wen sie am wütendsten war, auf Roland Rud oder sich selbst.
There’s no trusting a man, sagte die theatralische Radiostimme in ihrem Kopf, mit einem unerwarteten englischen Akzent. They are all playthings of their passion.
»Aha«, sagte Moss laut. »Und wer war das jetzt? Shakespeare?«
Dickens war das, antwortete das Alter ego, bevor sie aus dem Renault stieg und die Tür zweimal hinter sich zuknallen mußte, ehe sie ins Schloß fiel.
Es war ein Mietsblock aus den frühen sechziger Jahren, drei Stockwerke, gut instand gehalten. Schneeglöckchen schauten an der Hauswand aus der Erde, und die Haustür war offenbar frisch gestrichen. Sie suchte sich durch die Reihe der Hausklingeln, doch bevor sie bei Kolbjørnsen angelangt war, wurde die Tür von innen geöffnet, und eine spitznäsige Alte tauchte auf. Sie ähnelte so sehr dem Bild der Hexe im Märchen, daß Margaret zusammenzuckte. Der Kopf war zwischen den Schultern versunken, das dünne, gelblichweiße Haar war hinten zu einem strengen Knoten zusammengefaßt, und der Mund war wegen der fehlenden Zähne zusammengeschrumpft.
»Wo wollen Sie hin?« kreischte sie.
Margaret räusperte sich. »Zu Kolbjørnsen«, sagte sie.
»Aha, und was wollen Sie da?«
»Das geht Sie doch wohl eigentlich nichts an«, sagte Margaret und spürte, wie ihre Wangen zu glühen begannen.
»Mich geht alles hier im Haus was an«, sagte die Frau, und ein beinahe lautloses Lachen drang aus ihrer Mundöffnung.
Warum benutzte sie kein Gebiß?
Margaret Moss steckte die Hände in die Manteltaschen und schob sich nicht allzu behutsam vorbei. »Dritter Stock!« gellte es hinter ihr. »Und es gibt keinen Fahrstuhl!«
Moss seufzte und begann die Treppen hinaufzusteigen.
Er öffnete, sobald sie geklingelt hatte. Ohne Windjacke wirkten seine Schultern noch schiefer, der lange Hals verbreiterte sich sozusagen und trug ein grauweißes Nylonhemd und eine dunkelblaue Strickjacke, bis das Ganze unten in braunen Hausschuhen endete.
»Guten Tag«, sagte Margaret Moss. »Jemand hat mich unten hineingelassen. Eine alte zahnlose Frau.«
»Ach so, ja, das war wohl Frau Gundersen«, sagte Kolbjørnsen und trat zur Seite, um sie eintreten zu lassen. »Sie sagt, daß sie sich den Gaumen aufscheuert, wenn sie ein Gebiß trägt. Sie ist ganz harmlos, aber, wie soll ich sagen, etwas schroff. Ein einsames altes Weib, sie hat einen Sohn, der aber nicht viel wert ist, und ein einziges Interesse im Leben, nämlich mitzuverfolgen, was im Haus passiert. Ja, und dann hat sie, glaube ich, noch eine kleine Hütte oder so in Bjørkelangen. Früher war sie die Hälfte des Jahres dort, aber jetzt, wo sie so alt ist ...«
Er sprach nicht weiter, war offenbar fertig mit der Konversation und ging voraus ins Wohnzimmer, wo der Kaffeetisch gedeckt war, mit Tassen, Kuchentellern, Thermoskanne, silbernem Sahnekännchen und einem kleinen Glasteller mit gefüllten Keksen. Margaret setzte sich auf die Kante des mit beigem Velours bezogenen Ohrensessels, Kolbjørnsen ließ sich schwer aufs Sofa fallen.
»Es ist nämlich so«, sagte er und preßte die langen, gelblichweißen Hände im Schoß gegeneinander, »daß meine Mutter vor nicht allzu langer Zeit gestorben ist. Sie hat bis zum Schluß zu Hause gewohnt und mein Bruder und seine Frau im oberen Stock, sie haben täglich nach ihr gesehen. Der Ort liegt in einem kleinen Ort in Vestlandet, ein Stück südlich von Ålesund. Meine Mutter hat keinerlei Erbe hinterlassen. Wir waren da und haben ein paar Kleinigkeiten geholt, wissen Sie, alte Erinnerungen, aber sonst gab es nichts.«
»Aha«, sagte Margaret und fixierte die Kaffeekanne. Er folgte ihrem Blick, war aber offenbar so konzentriert dabei, seine Angelegenheit darzulegen, daß er nicht reagierte. Er verzog die Augenbrauen und fuhr fort: »Die Sache ist die, wir haben von anderer Seite erfahren, daß mein Bruder auf einmal Geld in die Hände bekommen hat. Viel Geld, heißt es. Es gibt keinen ersichtlichen Grund dafür, er hat nie einen richtigen Beruf gehabt, sondern mal hier, mal da gelebt, bis er sich schließlich zu Hause zur Ruhe gesetzt hat. Damals lebte mein Vater noch. Wir hatten eine Wiese unten am Fjord, und da baute er – also mein Bruder – irgendwann in den siebziger Jahren ein paar Campinghütten. Keine große Sache, nur zehn bis zwölf Campinghütten unten am Fähranleger.«
Es wurde still.
Endlich richtete er seinen Blick auf die Thermoskanne, schraubte den Deckel auf und schenkte sich und Margaret ein. Eine halbe Tasse für jeden. Dann schob er den Teller mit den Keksen etwas näher zu ihr, bevor er sich lange und umständlich räusperte und wieder ansetzte.
»Wir sehen einfach keinen Grund für das viele Geld. Wir würden gerne ein bißchen mehr darüber wissen. Ob er irgendwas bei der Bank eingezahlt hat, zum Beispiel.«
»Glauben Sie, daß Ihre Mutter doch etwas hinterlassen hat?«
»Das ist es ja«, sagte er und rieb mit den Händen über die Knie, als hätte er dort Schmerzen, »genau das haben wir uns auch überlegt. Es gab kein Testament, das haben wir schon abgeklärt, aber sie kann irgendwo ein paar hübsche Sümmchen versteckt haben, alte Leute machen ja so was. Mein Bruder leugnet das, und ich will ihn nicht bedrängen, bevor ich nicht mehr weiß.«
»Wäre es nicht einfacher, wenn Sie selbst hinreisten und sich erkundigten?« sagte Moss, die spürte, wie sich seine umständliche Redeweise auf sie übertrug. »Sie kennen ja die Verhältnisse und die Menschen dort.«
»Genau das geht nicht«, sagte Kolbjørnsen und erhob sich. »Der Ort ist sehr klein. Es würde Gerüchte geben.«
Er ging zur Tür und verschwand im Flur.
Margaret sah sich um. Das Wohnzimmer war geprägt von der Angewohnheit älterer Menschen, Dinge anzuhäufen, sogar die Wände waren so voller gerahmter Fotografien, daß die Tapete kaum zu sehen war. Sie erhob sich halbwegs und betrachtete die Bilder, die am nächsten hingen. »Das Heilige Land, 1972« stand mit spitzer Schrift darunter. Daneben war eine ganze Gruppe von Damen und Herren mittleren Alters auf einer Verandatreppe abgebildet, Moss erkannte überrascht den stellvertretenden Vorsitzenden der Christdemokraten, natürlich saß er auch hier im rechten Flügel und sah so selbstgefällig aus wie immer. Das eckige Gesicht mit den buschigen Augenbrauen war ihr aus Fernsehen und Zeitungen wohlbekannt, insbesondere dann, wenn es um Abtreibung und Homosexuelle ging, aha, sie waren offenbar Anhänger von Dombestein.
Im Flur waren Schritte zu hören, sie zuckte zusammen und griff schuldbewußt nach der Kaffeetasse.
Kolbjørnsen kam wieder herein. Hinter ihm trippelte eine kleine, gebrechliche Dame. Margaret Moss dachte, es sei seine Frau, doch er trat beiseite, wies auf sie und sagte: »Das ist meine Schwester Marta.«
Marta Kolbjørnsen trug einen grauen Plisseerock und ein rosa Twinset. Ein Haarnetz war sorgfältig über die steifen, weißen Locken gezogen. Die Nase war so krumm wie die ihres Bruders, aber Frau Kolbjørnsen mußte früher einmal schön gewesen sein.
Jetzt sah sie in erster Linie gekränkt aus. Margaret dachte bei sich, daß das ein passender Gesichtsausdruck für eine alte Schönheit war, die mit ihrem Bruder in Manglerud gelandet war, aber es stellte sich heraus, daß sie ganz andere Dinge beschäftigten.
»Er ist ein gottloser Mensch«, sagte sie und setzte sich sofort aufs Sofa, daß die Federn quietschten. »Und seine Frau ist um keinen Deut besser!«
Der Vestlandsdialekt hatte bei ihr besser überwintert als bei ihrem Bruder.
Die Stimme war dünn und hitzig wie das Summen von Bienen: »Wir wollen unser Geld!« sagte sie und sah Moss eindringlich an. »Das ist es, was wir wollen. Was nicht unser ist, wollen wir niemandem nehmen, aber wenn es uns gehört, möchten wir es auch haben!«
»Ach so«, sagte Moss und räusperte sich.
»Es ist ja nicht so«, sagte Kolbjørnsen rasch und versuchte offenbar zu vermitteln, »es ist ja gar nicht so, daß wir auf großem Fuß leben. Das wollen wir auch gar nicht, aber es gibt da Sachen, die wir unterstützen wollen.«
»Eine Sache«, verbesserte seine Schwester schnell.
»Ja, ja, vor allem eine Sache«, sagte der Bruder. Dann räusperte er sich und sagte: »Sie haben vielleicht noch nichts vom Bruderkreis gehört?«
»Nein«, sagte Moss.
»Gut«, sagte Kolbjørnsen, und dann erzählte er ihr vom Bruderkreis.
Der Bruderkreis war eine wohltätige christliche Organisation mit einer eigenen Zeitung (er zeigte ihr ein Käseblatt von vier A5-Seiten) und einem Versammlungsraum in Sagene. Ein Ferienheim hatten sie auch, auf Nøtterøy. Dort nahmen sie unter anderem unverheiratete Mütter auf. Das Problem war natürlich, genug Geld zusammenzubekommen, um das Ganze zu betreiben. Vor allem das Ferienheim schluckte Geld, aber auch die Evangelisation in den Städten, etwas, das sie als ganz zentral ansahen.
»Sie sind wie die Lilien auf dem Felde«, sagte Marta Kolbjørnsen.
Moss warf ihr einen Blick zu.
»Die jungen Mädchen«, fuhr sie fort. »Sie spinnen nicht, sie weben nicht, und dennoch nimmt sich Gott ihrer an.«
Moss dachte, daß es in dem Fall wohl eher der Bruderkreis war, der sich um sie kümmerte, aber sie sagte nichts.
»Wir leben in einer weltlichen Zeit«, sagte Kolbjørnsen und legte die langen, gelblichen Hände übereinander. »Heute spenden nicht mehr so viele für die Sache wie früher.«
Dann richtete er sich auf und sah sie eindringlich an. »Es gibt einen großen Bedarf an Mitteln für den Bruderkreis, und wenn Marta und mir auf unrechtmäßige Weise bedeutende Summen vorenthalten worden sind, können wir uns damit nicht abfinden. Das verstehen Sie sicher.«
Doch, Moss verstand das. Sie war gleichzeitig sehr froh darüber, daß sie keine hilfebedürftige unverheiratete Mutter war und deshalb auch nicht riskierte, im Ferienheim von Didrik Dombestein zu landen.
Als sie endlich das Haus verließ, hatte sie versprochen hinzufahren, allerdings erst kurz vor den Sommerferien. Das war Kolbjørnsens Wunsch gewesen, denn davor würde jeder Fremde in dem kleinen Ort auffallen, meinte er. Es würde reichen, wenn sie im Juni hinführe, da wimmelte es von Touristen am Verkehrsknotenpunkt auf der Fährstrecke zwischen Geiranger und Ålesund.
Das paßte Moss ziemlich schlecht.
Sie hatte geglaubt, eine kurze Reise dorthin machen und die ganze Sache schnell abschließen zu können, da sie in der Angelegenheit Bente Bertelsen noch immer im trüben fischte.
Und daß ein bißchen Geld hereinkommen würde.
Vor dem Mietshaus war Frau Gundersen damit beschäftigt, den Hauseingang zu fegen. Mit dem langen Besen in der Hand sah sie mehr denn je aus wie eine Hexe. Sie hörte sofort mit der Arbeit auf, als sie Margaret sah, die sich wünschte, daß Frau Gundersen nicht zu alt wäre, um auf ihrer Hütte in Bjørkelangen zu wohnen. Sie hatte für heute genug von alten Sonderlingen.
»Na?« sagte Frau Gundersen und blickte zu ihr hoch. »Ist die Sekte mal wieder unterwegs?«
Moss schüttelte den Kopf und versuchte vorbeizukommen, aber Frau Gundersen war kein Mensch, der jemanden ohne weiteres vorbeiließ.
»Kolbjørnsens kriegen nur wenig Besuch«, sagte sie im Konversationston und starrte Moss neugierig ins Gesicht. Zwei lange Haare sprießten am Kinn und leuchteten regelrecht in der Frühlingssonne. Ein graugrünes altes Auto wollte gerade in zweiter Reihe neben dem Renault parken, und Moss hob die Hand, legte sie der Hexe auf die Schulter und schob sie beiseite.
»Ich bin Detektivin«, sagte sie mitten in das zahnlose Grinsen hinein. Sie ging zum Renault, schickte dem Mann im graugrünen Wagen einen so wütenden Blick zu, daß er sofort rückwärts fuhr, setzte sich in ihr Auto und knallte die Tür zu.
Als sie um die Ecke fuhr, sah sie in den Rückspiegel. Das kleine alte Weib stand mit dem Besen in der Hand neben dem Auto. Sie starrte dem Renault hinterher.
»Dir hab ich’s aber gezeigt!« sagte Moss laut und zufrieden, schaltete in den zweiten Gang und nahm Kurs auf die Stadt.