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All your fears are foolish fancies, maybe.

Norton/Burnett

Es war Vormittag in Grønlandsleiret, der rote Gelenkbus schaukelte vorwärts und hielt mit einem so lauten Zischen der Druckluftbremsen, daß sich die Tauben von dem gelblich bleichen und matschigen Rasen im Park erhoben und fächerförmig in Richtung Polizeipräsidium flatterten.

Margaret Moss wühlte in ihrem Parka nach ihrer Fahrkarte. Nachdem sie sie entwertet hatte, setzte sie sich auf einen der hintersten Plätze und starrte müde und mit kleinen Augen durch ein Fenster, das grau von Schmutzspritzern war. Der Winter war lang gewesen, und jetzt war Frühling.

Eine Art Frühling jedenfalls. Unter den Büschen im Park lagen noch Schneereste, die aussahen wie die Laken in den Zimmern der Studentenwohnheime von Margarets Jugendlieben: grau.

Frühling in Oslo, der schmutzigsten Stadt der Welt.

Ein einziger Lichtstrahl im schwarzen Tunnel dieses Tages: Inspektor Averøy, ihr ehemaliger Vorgesetzter und alter Feind, hatte nicht mitbekommen, daß sie im Präsidium war. Das war immerhin etwas. Sie hatte sich für jemand von auswärts ausgegeben, aus Nordnorwegen.

Und die Leiche war die eines Mädchens. Das hatten sie gesehen, sobald die Wasserschutzpolizei gekommen war und sie aus dem Wasser geholt hatte. Jetzt durchforsteten sie vermutlich die Listen über vermißte Personen, versuchten herauszufinden, wie lange sie im Meer gelegen hatte, ob sie tot gewesen war, bevor man sie ins Wasser geworfen hatte.

Solche Sachen.

Mit denen Margaret Moss zum Glück nichts zu tun hatte. Zumindest war es kein Mädchen gewesen, das sie gekannt hatte.

Es zog im Magen. Wurde sie plötzlich reisekrank?

Da fiel ihr ein, daß sie seit beinahe achtzehn Stunden nichts mehr gegessen hatte. Der Bus hielt mit einem verdrießlichen Rülpser am Oslo City Einkaufszentrum, und ohne weiter nachzudenken, stieg sie aus. Es gab massenhaft Cafés im Oslo City.

Und eine Filiale des staatlichen Wein- und Spirituosenhandels.

Das brauchte sie.

Es würde ein langer Tag werden. Das tote Mädchen trieb in ihre Gedanken hinein und wieder hinaus, genau wie es von der See hin- und hergetrieben worden war.

Nach einem Krabbenbrot und einer Tasse Tee fühlte Moss sich allmählich etwas besser. Sie würde sich jedenfalls nicht mehr übergeben müssen.

Sie gähnte lange und schüttelte sich, sie spürte, daß sie einen pelzigen Belag auf den Zähnen hatte, und das Haar hatte sich draußen auf See verfilzt. Vermutlich hätte sie einen Blick in einen Spiegel werfen sollen, bevor sie ins Café ging. Besonders stadtfein war sie auch nicht in ihrem ausgeblichenen Parka, den verwaschenen Jeans und den schmutzigen Joggingschuhen.

Die Fahrt heute nacht war vergeblich gewesen, in jeder Hinsicht.

Warum hatte sie sich überhaupt in die Sache mit Bertelsens verschwundener Tochter hineinziehen lassen?

Gib’s zu, Moss. Du hast es nicht verwunden, daß du bei der Ortskundigkeitsprüfung für den Taxischein durchgefallen bist!

Nein, vermutlich hatte sie das nicht.

Sie hatte versucht, den Taxischein zu machen, hatte gemeint, es müsse ein leichtes Spiel sein für eine, die die Stadt wie ihre eigene Westentasche kannte. Eine, die in kalten und defekten Autos in jeder verdammten Nebenstraße von Oslo gesessen hatte, auf der Jagd nach untreuen Ehemännern und ebensolchen Ehefrauen. Daher hatte sie es mit dem Lernen nicht so genau genommen. Allerdings war sie deshalb durchgefallen, und so würde es weiterhin kein Zubrot zu dem wenigen geben, was sie als Privatdetektivin zusammenzukratzen vermochte. Typisch fehlgeschlagener Plan. Und davon hatte sie ja genug gehabt in ihrem Leben, von dem Tag, an dem sie als mittelmäßig erfolgreiche Schauspielerin das Nationaltheater verlassen hatte, über ein miserables juristisches Examen auf der Grenze zum Nichtbestehen, bis zu dem Tag, an dem sie im Jähzorn beim Polizeipräsidium von Oslo gekündigt hatte, noch vor Abschluß des praktischen Teils der Ausbildung, und als Privatdetektivin begonnen hatte.

Aus diesem Grund hatte sie auch keine Zulassung als Rechtsanwältin.

Und jetzt bekam sie nicht einmal eine Zulassung als Taxifahrerin.

Shit!

Und Karen wollte nicht mehr zu Hause wohnen, und anrufen tat sie auch nicht. Die depressive und ironische Verfassung war also kein Wunder. Und Moss wußte, daß eine solche Stimmung sie zu merkwürdigen Dingen verleitete. Zum Beispiel, nach den ausgerissenen Gören anderer Leute zu suchen. Die berühmten Nadeln im Heuhaufen. Normalerweise übernahm sie keine solchen Fälle, es hatte keinen Sinn, die Jugendlichen hauten aus freien Stücken ab und kamen erst zurück, wenn sie selbst Lust dazu hatten. Aber offenbar hatte sie ihren empfindsamen Tag gehabt, als Bertelsen sie gefragt hatte, ob sie ihm helfen könne. Der freundliche Bertelsen, bei dem sie manchmal Fisch kaufte, wenn er mit seinem Fischkutter unten an der Anlegebrücke beim Rathaus lag.

Das war vor drei Tagen. Sie war an den Beinen zu dünn bekleidet gewesen, hatte sich auf einen verräterischen Föhnwind verlassen und die hochhackigen Lederstiefeletten mit der dünnen Sohle angezogen. Mit klappernden Absätzen war sie gutgelaunt in die Stadt gegangen und hatte sich lediglich die Zeit genommen, von unterwegs anzurufen und sich nach dieser Taxiprüfung zu erkundigen.

Und dann war sie durchgefallen.

Sie hatte auf dem Platz vor dem Rathaus gestanden, und der Tag war plötzlich kalt und grau geworden.

Sie spürte, daß sie an den Beinen fror und wie die Blasenentzündung bereits wieder hinter der nächsten Ecke lauerte. Sie dachte daran, daß es heute auf den Tag vier Wochen her war, seit sie eine Art Lebenszeichen von Karen bekommen hatte, und daß zu Hause Rechnungen in Höhe von etwa 15 000 Kronen lagen. Da war sie aus der Telefonzelle und über den großen Platz gegangen, hatte das Glokkenspiel der Rathausuhr eine seltsame Version des Volksliedes ›På solen jeg ser‹ spielen hören und hatte sich dann in der Schlange bei Bertelsens Fischkutter wiedergefunden, wo sie um einen Liter Krabben und eine Portion Kabeljau gebeten hatte.

Irgend etwas mußte sie ja unternehmen.

Das Schiff hieß Oslopiken, das Oslomädel, und es hatte seinen Liegeplatz auf Nedre Bekkelaget. Baujahr 1939, der Motor war 1955 ausgewechselt worden, und jedes Frühjahr war das Deck lackiert und alles unterhalb der Wasserlinie mit Antifouling bestrichen worden.

Bertelsen selbst war etwa fünfzig Jahre alt, dünn und sehnig und mit einem Isländerpulli und einer orangefarbenen Kunststoffhose bekleidet. Er hatte sie mit einem hellblauen und bekümmerten Blick angesehen und gefragt, ob sie tatsächlich Detektivin sei.

So war es gekommen, daß Moss für eine Weile bei Bertelsen anmusterte.

Sie war über ein Deck geschlittert, das glatt war von Seewasser und Fischeingeweiden, und war ungeschickt die steile Treppe hinuntergeklettert.

Unter Deck roch es nach Sonnenöl, Fisch und Petterøes Tabakmischung. Warm war es außerdem, sie öffnete ihre Jacke und sah sich neugierig um. Oslopiken war gut instand gehalten. Ein Kessel brodelte auf dem Propangasherd, und Willy Bertelsen schüttete aus einer Papiertüte Kaffee hinein.

»Der gute alte Kochkaffee«, sagte er, wobei er ihr den Rücken zuwandte. »Es heißt, er sei voller Cholesterin, aber egal. Möchten Sie Sahne?«

»Nein danke«, sagte Moss und nahm den Becher in Empfang, der nach Waldwanderungen und fünfziger Jahren roch.

Unter der niedrigen Decke war es neblig von Zigarettenrauch gewesen, bis Bertelsen endlich auf das Thema gekommen war, das ihm am Herzen lag.

»Sie ist früher schon mal verschwunden«, sagte er. »Und man will ja auch nicht überreagieren. Das sag ich zu meiner Frau. Sie ist vielleicht bei einer Freundin, sag ich.«

»Wie lange ist sie schon weg?« fragte Moss.

Er sah sie unglücklich an. »Das ist es ja, was wir nicht wissen. Sie hat seit einem Jahr ein Zimmer bei ihrer Oma, eine Art Mansardenzimmer. In Tøyen. Aber sie – also die Oma, die Mutter meiner Frau –, die ist ja so senil und verwirrt, daß sie nicht mitkriegt, wenn jemand kommt oder geht, vermutlich wollte Bente deshalb so gerne da wohnen. Sie dachte, sie könnte machen, was sie wollte. Und die Alte, also die Oma, die kann sich nicht mehr daran erinnern, wann Bente zuletzt zu Hause war.«

Er blickte düster in den dickwandigen weißen Becher. »Viel Hilfe können wir von ihr also nicht erwarten!« Er blickte Moss mit rotgeränderten Augen an. »Das heißt, es kann schon viele Wochen hersein.«

»Und die Polizei?«

»Nein, das wollen wir ja nicht. Wenn sie jetzt beispielsweise nur einen Kerl kennengelernt hat ... Wissen Sie, sie bringt uns um, wenn wir die Polizei einschalten. Sie ist so eigensinnig, unsere Bente, das ist sie immer schon gewesen, hat gemacht, was sie wollte. Aber diesmal sind wir unruhig, das sind wir wirklich.«

Moss trank Kaffee und dachte nach. »Was hatten Sie denn gedacht, was ich machen sollte?« fragte sie schließlich.

Da schluckte Willy Bertelsen, so daß sein großer Adamsapfel hüpfte. »Ich dachte, Sie könnten mal einen abendlichen Stadtbummel machen«, sagte er dann.

So kam es, daß Moss in der Abenddämmerung des folgenden Tages, ausgerüstet mit dem Konfirmationsbild von Willy Bertelsens Tochter, in die Stadt ging. Sie lief die ganze Tollbugata hinunter und sah sich an jeder Straßenecke gut um, ging die Prinsensgate wieder hinauf, machte einen Schlenker durch die Øvre Vollgate und ging durch die Akersgata zurück zum Wessels plass. Sie ging und ging durch die frühlingsblaue Dunkelheit, während Straßenbahnen klingelten und Autos Wolken von Abgasen verbreiteten, und sie sah an den Straßenecken und Toreinfahrten mehr als genug verwahrloste und verfrorene Mädchen, aber keines, das Bente Bertelsen ähnlich sah.

Schließlich blieb sie bei einer stehen, die auf der Treppe vor dem Papierwarenladen in der Dronningens gate saß.

»Kann ich dich was fragen?«

Das Mädchen blickte auf, sie hatte blondiertes, beinahe weißes Haar und einen Herpesausschlag am Mund, der schlimm aussah. Sie antwortete nicht. Margaret Moss wühlte in ihrer Tasche. »Hier. Hast du die irgendwo gesehen?«

Das Mädchen nahm das Bild nicht, sie saß da, die Arme um den Körper geschlungen, und sah aus, als wäre ihr furchtbar kalt.

»Bist du von der Polizei?« fragte sie und verfolgte mit den Augen ein Auto, das gerade langsam vorbeifuhr.

»Nein«, sagte Moss. »Ich frage im Auftrag eines Vaters, der sich verdammte Sorgen macht.«

Das Mädchen streckte widerwillig die Hand aus, betrachtete das Bild und zuckte mit den Schultern. »Kommt mir nicht bekannt vor. Wie alt ist sie denn?«

»Fünfzehn auf dem Bild, inzwischen achtzehn«, sagte Moss.

Das Mädchen schüttelte den Kopf und gab ihr das Bild zurück.

»Hättest du es mir gesagt, wenn du gewußt hättest, wer es ist?« fragte Moss. Das Mädchen zuckte wieder mit den Schultern. »Weiß nicht. Wenn ich wüßte, daß sie nicht will, daß ihre Leute sie finden, hätte ich nichts gesagt. Aber ich kenne sie nicht. Echt nicht.«

Sie schob die Hände unter die Pobacken, fröstelte.

»Es muß verdammt kalt sein, auf dieser Treppe zu sitzen«, brach es aus Moss hervor.

»Kalt? Verdammt, ich hab jetzt schon seit vier Monaten ’ne Blasenentzündung! Die Antibiotika helfen nicht.«

»Du hättest dich wärmer anziehen sollen«, sagte Moss, die auch eine Mutter war.

Das Mädchen verzog den Mund, so daß die Wunde im Mundwinkel aufplatzte. »Wollunterhosen? In diesem Job? Gute Idee. Hör mal, kannst du nicht abhauen? Du vergraulst mir die Kunden, ich will hier echt nicht länger sitzen als nötig!«

»Brauchst du Geld?« fragte Moss und fühlte sich dumm.

»Wenn du zweitausend Kröten hast, schon«, sagte das Mädchen.

Moss, die gerade mal hundertzwanzig Kronen im Portemonnaie hatte, drehte sich um und ging.

Als sie zu Hause war, rief sie Willy Bertelsen an. Er sprach leise und murmelnd, und sie begriff, daß er seiner Frau nichts davon erzählt hatte, daß er jemanden in die Stadt geschickt hatte, um nach der Tochter zu suchen. »Können Sie nicht morgen mal zum Anleger runterkommen, dann können wir uns näher unterhalten«, hatte er gesagt, und da hatte sie aus einem Impuls heraus geantwortet, daß sie gerne mitkommen und Netze einholen würde.

Er hatte gezögert. Hatte gesagt, daß es kalt sei und daß sie schon um vier Uhr morgens losführen.

»Ist in Ordnung«, hatte Moss erwidert. »Ich fühle mich wohl auf See, und ich habe nichts vor, was ich versäumen würde.«

Und das war der Grund gewesen, warum sie zehn Stunden später auf dem Vordeck gestanden hatte, als die Oslopiken auf das schwarze Wasser des Bunnefjord hinausgetukkert war.

Margaret Moss sah auf ihre Armbanduhr, es war bald zwei. Sie erhob sich, nahm ihre Umhängetasche und den Beutel aus dem Schnapsladen und ging steifbeinig zur Rolltreppe, auf der sich die Rentner aus Bjerke und Etterstad drängten, auf der Jagd nach Adrenalinstößen im Alltag.

Draußen wehte ihr Straßenstaub in großen Wolken entgegen, sie kniff die Augen zusammen und stemmte sich gegen den Wind. Während sie an der Ampel wartete, sah sie plötzlich, wie ihr eine bekannte Gestalt auf dem Bürgersteig entgegenkam, ihr Herz übersprang einen Schlag und raste dann davon.

Es war Karen.

Zusammen mit einem langen Kerl mit rasiertem Kopf, Lederjacke, Skaterhose und einem riesigen Hund, dessen Leine am ehesten einer Wäscheleine ähnelte.

Sie öffnete den Mund, um zu rufen, doch da hatte Karen sie schon entdeckt, und im Handumdrehen war sie auf der Straße. Sie rannte, daß ihr Haar flatterte, bahnte sich einen Weg zwischen den hupenden Autos und lief hinüber auf die andere Straßenseite.

»Verdammt noch mal!« rief Margaret in den Verkehrslärm. »Stop!«

Ob sie die Autos oder ihre Tochter meinte, wußte sie nicht einmal selbst. Sie begann auch zu laufen, aber ein riesiger Schatten glitt von links heran, und sie hielt sofort an.

Mit einer Straßenbahn sollte man sich lieber nicht anlegen. Sie hat einen langen Bremsweg und hat einem die Beine abgetrennt, ehe man selbst und der Fahrer sich’s versehen haben.

Als die Verkehrslage endlich wieder etwas klarer war, sah sie den Jungen und Karen drüben auf der anderen Straßenseite, ganz hinten am Zeitungskiosk. Er hielt sie am Arm und blickte zu Margaret hinüber, die die Straße bei grünem Licht überquerte. Sie hatte das unangenehme Gefühl, daß er und nicht ihre Tochter stehengeblieben war, um zu warten.

Seine Augen unter den dunklen Brauen waren überraschend leberblümchenblau. Als sie bei ihnen war, ließ er Karen los und drehte sich zum Gehen. »Bis später«, sagte er über die Schulter hinweg, dann gingen er und der Hund über die Straße in Richtung Kirkeristen.

Karen begegnete dem Blick ihrer Mutter und zuckte mit den Schultern. »Okay«, sagte sie. »Es ist ja gar nicht so, daß ich nicht mit dir reden will.«

»Aha«, sagte Moss.

Die Spur der toten Engel - Norwegen-Krimi

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