Читать книгу Im Grenzbereich - Zwischen hier und anderswo - Klaus Böse - Страница 10
Der 12. Februar 1998
ОглавлениеDie Bahnfahrt war unter diesen besonderen Umständen für meine Frau anstrengend. Selbst das monotone Rattern der rollenden Räder auf den Gleisen verfehlte seine sonst so ermüdende Wirkung. Die Gedanken kamen einfach nicht zur Ruhe! Sie kreisten im Kopf herum und fanden kein Ende.
Am Bahnhof in Bad Godesberg wurde meine Frau bereits von einer Bekannten des Grafen v. S. erwartet, die sie in seine Wohnung nahe dem Unfallort brachte. Nach kurzem Kennenlernen wurde über die Sache diskutiert. Dabei kam auch zur Sprache, dass niemand etwas gesehen hatte, man aber der Annahme sei, dass ich den Zusammenstoß selbst verschuldet haben müsse, weil ich beim Überqueren der Straße wahrscheinlich in das Auto, welches mich umgefahren hat, reingelaufen wäre. Diese Annahme habe man auch dem ärztlichen Ersthelfer vor Ort so übermittelt.
Die Vermutung fand dann genau so, als völlig unbegründete Behauptung, ihren Eingang in die Aufnahmenotizen des Krankenhauses und wurde dort meiner Frau später auch zunächst ebenso wiedergegeben.
Sobald die Situation es zuließ, begab sich meine Frau auf Quartiersuche, wobei ihr die Bekannte des Grafen behilflich war. Eine nahe dem Krankenhaus gelegene Pension mit netten Vermietern war bald gefunden und nach erfolgter Zimmerbelegung drängte es meine Frau in die Klinik.
Dort angekommen, wurde sie sofort an den Chefarzt verwiesen, der ihr nach kurzer Wartezeit in seinem Vorzimmer zur Verfügung stand. Von ihm erfuhr sie die näheren Einzelheiten, dass ich auf der Intensivstation unter ständiger Beobachtung lag, und hörte hier aus erster Hand, wie es im Augenblick tatsächlich um mich stand.
Die Bestürzung war groß. Meine Frau musste um ihre Beherrschung ringen. Sie verlor fast die Fassung … hatte doch bis dahin noch immer ein kleines Fünkchen Hoffnung bestanden. Das war jetzt vorbei!
In Begleitung des Chefarztes und des zuständigen, behandelnden Stationsarztes wurde meine Frau zu mir gebracht. Ihr bot sich ein schlimmer Anblick. Und, obwohl von den Ärzten vorher vorsichtig darauf vorbereitet, konnte sie es nicht fassen, war entsetzt. Sie erkannte mich nicht wieder. Reglos, zu unförmiger Masse aufgequollen lag ich da, umgeben von Ständern mit zwölf Flaschen und Plastikbeuteln, aus denen Infusionen in mich hinein tropften und andere Flüssigkeiten aus mir herausliefen. Verbunden mit zahlreichen Schläuchen, die in ihrer Vielfalt kaum noch überschaubar schienen, und außer Messgeräten, deren grün flimmernden Bildschirme und gleichförmigen Töne die einzigen wahrnehmbaren Lebenszeichen von mir wiedergaben, deutete nichts, aber auch gar nichts darauf hin, dass der Mann, den meine Frau geheiratet und von dem sie sich am Vortag verabschiedet hatte, noch da war. Alle Zuversicht auf einen glimpflichen Verlauf wurde fraglich, Befürchtungen, die verdrängt worden waren, bewahrheiteten sich nun doch. Aber trotz allem: Die Ärzte gaben die Hoffnung nicht auf und versprachen alles Menschenmögliche für meine Wiederherstellung zu tun. Sie bestärkten meine Frau darin mutig zu sein, boten ihr persönliche Unterstützung und Fürbitte an und empfahlen, im Gebet zusätzliche um Hilfe zu bitten.
Vertrau des Arztes kundigem Blick
und seiner sicheren Hand
und leiste selbst mit ganzer Kraft
dem Leiden Widerstand!
Den Rest überlass' du dann
getrost und unverzagt
dem, der auch noch helfen kann,
wo Menschenkunst versagt!
(von einem unbekannten Dichter)
Da lag ich nun, reglos mit geschlossenen Augen, schmerzfrei gestellt auf einem Rollbett. Man hatte sich um mich gekümmert, bemühte sich noch.
Abseits aller willkürlichen Wahrnehmung empfand ich um mich herum die Anwesenheit unterschiedlicher Personen. Ich wurde berührt, betastet und versorgt. Es war nicht unangenehm. Zeitweise war ich ganz allein, dann wieder folgten hektische Momente und medizinische Maßnahmen, die mich betrafen, im Einzelnen aber jetzt nicht mehr von mir abrufbar sind.
Es eröffnete sich eine mir völlig unbekannte neue Welt. Kaleidoskopisch wechselten Bilder voller Schönheit mit Geschehnissen wie im Märchen oder aus längst vergangenen Zeiten. Manchmal geschahen Dinge, die mir unerklärliche Angst machten. So fand ich mich auf dem Balkon unserer Wohnung und sah, wie vom siebten Stock eine Katze einem vorbeifliegenden Vogel nachsprang, ihn aber verfehlte. Die Katze kam in elegantem Bogen auf die Erde. Sie landete auf allen vieren im Gebüsch, kam ganz auf den Boden, schüttelte sich kurz und verschwand dann, ohne zu hinken oder sonst irgendwie sichtbaren Schaden genommen zu haben, aus meinem Blickfeld. (Das war tatsächlich einmal so passiert.)
Ich sah mich ebenfalls springen, wollte fliegen … fand mich irgendwie eingezwängt wieder und fragte mich, wie ich so dumm gewesen sein konnte, den Sprung zu machen. Diese sich wiederholende Vorstellung verfolgte mich regelrecht. Dabei wurde mir immer kälter, aber ich hatte nicht das Gefühl, zu frieren.
Dann spürte ich, wie ich wieder in einen Raum gerollt wurde. Gestalten umgaben mich. Über mir war helles Lampenlicht.
Auf einmal veränderte sich alles. Ich erlebte eine Zeitreise. Bilder aus meinem bisherigen Leben rasten an mir vorbei. Längst vergessen geglaubte Ereignisse, meine früheste Kindheit, meine Jugend, die Ausbildungs- und Berufszeit — was immer mir widerfahren war, lief in Szenen an mir vorüber. Und bei jeder Szene war mir sofort klar, was falsch für mich gewesen, wo ich welche Fehler begangen hatte und wo es richtig war. Es gab kein Abwägen. Da existierte nur klare Erkenntnis. Dabei fühlte ich mich zusammengepresst, kam in eine lange, dunkle Röhre, die in einen Tunnel überging, an dessen fernen Ende ein Licht schien. Ich wollte da hin, näherte mich ihm mit zunehmender Geschwindigkeit und während es heller und heller wurde, hatte ich das Gefühl in einen Sog zu gelangen. Dieser ließ urplötzlich nach und der Druck nahm wieder zu, wurde immer stärker. Ich befand mich erneut in der Röhre. Deren Verlassen war unangenehm, in der Folge aber auch erleichternd.
Nun schwamm ich wie ein Meeresbewohner tief unten im Wasser, war umgeben von Schwärmen kleiner, bunter Fische, die in den schönsten Farben leuchteten und die durch grüne Algenwälder schwebten, dabei aber auch manchmal blitzschnell zwischen wogenden Farnen und Seegras verschwanden. Absolute Stille umgab mich. Und doch vernahm ich aus weiter Ferne Stimmen, hörte, ja spürte wie man sich um mich, um meinen geschundenen Körper bemühte, meinte — als sähe ich einen Film — durch meine fast geschlossenen Augenlider die Ärzte und meine Operation von außerhalb meines Körpers mitzuerleben.