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VATERS HEIMKEHR

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An einem Abend – zwei Jahre nach Kriegsende – holte ich meine Mama, wie fast jeden Tag, vom Gemeindeamt ab. Es war 20 : 00 Uhr und bereits ziemlich dunkel. Wie üblich, ging ich zu dem rechten Hochparterrefenster, hinter dem ihr Arbeitsraum war, stieg auf die Sohlbank des darunter befindlichen Kellerfensters und klopfte dreimal an das Fensterglas. Von innen kam die äußerst fröhliche Antwort: „Koooooomme gleich, Klausmann.“ Ich wartete. Da es mir aber zu lange dauerte, ging ich die paar Stufen hoch, durch die Haustür und dann rechts rein durch die Tür, an der Gemeindeamt stand. Ich trat ein in einen großen Raum, welcher aber, schon nach reichlich zwei Metern, durch einen Tresen von dem übrigen Arbeitsbereich getrennt war. Es war so, wie ich es eigentlich schon kannte – ich sah Frau Walther, welche wie immer (anders hatte ich sie eigentlich noch nie gesehen) äußerst fleißig arbeitete. Sie hatte handschriftliche Unterlagen vor sich liegen, wobei sie den linken Teil in die Höhe hielt, etwas suchte und dann in eine Tabelle übertrug. Mutti stand daneben und sagte in etwa so: „Ursula, du musst den Umsatz in Getreide, Ergebnis pro Bauer, auflisten und das hier dann in der Tabelle erfassen.“

„Das ist aber mit einer unheimlichen Sucharbeit verbunden, Gretel, wie kommt das Kreisamt nur auf den Termin morgen?“ Mutti holte mitleidvoll tief Luft. „Du weißt, Ursula, für mich bist du der wahre Bürgermeister. Ich bin morgen früh pünktlich da und helfe dir. Jetzt muss ich erst mal mit dem Klaus gehen.“

„Ja, ja, Gretel, gehe nur – ich tue mein Bestes!“ Für mich war aber kaum zu übersehen, dass Muttis Freundin Ursula arg strapaziert wirkte und abgekämpft war. Als wir zusammen gingen, sagte ich ihr dies. „Ach, mein kleiner Klaus, das Leben ist manchmal gar nicht so einfach. Die Ursula ist eine ganz liebe Freundin von mir und wahnsinnig ehrgeizig. Sie will immer alles allein machen, ist aber nicht die schnellste. Bei der Sache, die sie jetzt bearbeitet, durfte ich ihr nicht helfen. Da hat sie ganz einfach ihre schon fast krankhafte Strebsamkeit, alles allein schaffen zu wollen, in etwa so: Da muss ich durch – wenn ich dies allein für das Kreisamt fertig bringe, fragen die sicherlich, wer das denn so rasch zusammengestellt hat und ich habe dann meinen Platz hier im Gemeindeamt gesichert. Eventuell hat ja die Gretel Recht, wenn sie sagt, ich sei der eigentliche Bürgermeister – und nicht der Jupp. Vielleicht werde ich sogar dazu berufen?

Als wir zusammen ein paar Minuten gelaufen waren, erschreckte uns plötzlich eine Stimme aus der Dunkelheit. „Gretel, bist du es?“

„Kann das wahr sein? Herbert, duuuuuu etwa?“ Dann stürmte Mutti zu dem fremden Mann und umarmte ihn fest und inniglich. Beide strichen dem anderen, soweit ich das in der Dunkelheit erkennen konnte, mit ihren Händen über den Kopf, die Schultern, die Brust, den Bauch und sogar den Hintern. Mich verwunderte diese gegenseitige Abtasterei (heute würde ich sagen – es war schon fast ein Abscannen der Figur des anderen) enorm. Ich war wieder einmal unbeteiligt und begriff nur scheibchenweise. Außerdem ließen mich die beiden ziemlich lange, sehr lange – sie hatten ja offensichtlich ihre Befingerungsaufgaben exakt zu erfüllen – abseits liegen. Es erschallten laute Freudenrufe, danach wurde geschmatzt und geknutscht – es nahm kein Ende. „Und ich erst! Wir haben uns so ewig lange nicht gesehen!“ Erneute Umarmung, Umarmung lösen, neue Umarmung, schmatzender Kuss, glucksender Kuss, ein Kuss, den man nicht hören konnte. Ich wartete – steif und beleidigt. Heute als Erwachsener würde ich so formulieren: Ich wartete ziemlich entnervt und überlegte bereits ernsthaft, ob ich nicht vielleicht besser zur Ursula, also Frau Walther, zurückgehen sollte, denn da wäre ich sicherlich besser aufgehoben. Da plötzlich: „Hier ist auch der Klaus.“ Na, so etwas, an mich erinnerte man sich also auch noch – ganz toll, waren so meine Gedanken. Der Mann, wo ich nun wusste, wer es war, kam zu mir, umarmte mich, kramte in der Jackentasche und drückte irgendwas in meine Hände. Es fühlte sich an wie kleine Bausteine mit Ecken und Kanten. „Klaus, für dich, zum Spielen.“ Mutti drängte. „Komm, Herbert’l, wir gehen ins Gemeindeamt, damit wir uns einmal anschauen können.“ Bravo, bezaubernd, es geht rückwärts. Da hätte ich auch gleich zur Ursula gehen können. Mutti schloss zweimal auf und machte Licht. Frau Walther war nicht da. Ich erfuhr am nächsten Tag, dass sie die gesamte Arbeit mit nach Hause genommen hatte. Nun ging die Knutscherei aber erst richtig los. Ich war verblüfft, hatte ja aber die Bausteine mit Ecken und Kanten. Letztlich entpuppten sie sich als kleine Männlein, Zwerge, Bauern, Ringer, Reiter und Pferde aus Holz, hübsch geschnitzt, sie gefielen mir. Dann wandte sich der Mann an mich. „Groß geworden, Klaus, wie geht es dir? Gefällt es dir in der Schule? Hast du ordentliche Zensuren?“ Natürlich gefiel mir die Fragereihe keineswegs. Außerdem kam mir der Mann, der offensichtlich vorgab, mein Vater zu sein, äußerst fremd vor. Schemenhaft konnte ich mich besinnen, dass ich ihn einmal gesehen hatte, als er kurz auf Urlaub war. Mal sehen, wie sich die Sache mit ihm so anlässt und entwickelt, beruhigte ich mich selbst. Anschließend gingen wir dann nach Hause, wo sich alles um unseren neuen Gast, also meinen Vater, drehte. Mutti brachte mich auch nicht ins Bett wie sonst, sein Kommen war also nicht unbedingt ein Vorteil für mich. Am nächsten Morgen war der Neue nicht mit beim Frühstück anwesend. Auf meine Frage antwortete Mutti: „Vati musste jetzt erst einmal schlafen – der hat ja unheimliche Anstrengungen und Entbehrungen hinter sich. Kannst du das verstehen, Klausmann?“ Ich konnte. Zum Mittagessen war Vater dabei und sogar Mutti schaute kurz einmal für zehn Minuten zu uns herein. Das hatte es bisher noch nie gegeben – sie war immer den gesamten Tag im Gemeindeamt und kam erst am späten Nachmittag nach Hause. Plötzlich sagte Vater – zuvor kniff er mir zweimal freundlich in die rechte Wange: „Ich würde mir heute gern einmal das Dorf anschauen, das Gemeindeamt, wo Mutti arbeitet und so weiter und so fort. Du kommst doch mit, Klaus?“

„Das wird schlecht gehen, ich muss noch im Rechnen ein paar Aufgaben lösen und ein kurzes Gedicht lernen.“

„Wir beschränken uns nur auf eine Stunde oder vielleicht nur fünf Minuten darüber. Ich kann dir ja dann auch mit helfen.“ Zunächst liefen wir ins Oberdorf. Plötzlich kam uns eine Lehrerin meiner Schule entgegen. Ich schaute hin und sagte „Guttten Dooaach!“ Mein Vater nahm (elegant – das muss ich schon sagen) seine deutsche Mütze ab, indem er sie an dem großen Schild mit Daumen und Zeigefinger der rechten Hand ergriff, vom Kopf zog und dann schräg nach vorn neigte. Er selbst beugte sich auch etwas vor und schaute die Frau während des Vorbeigehens mit dem Hut in der Hand die gesamte Zeit an. Als wir vorbei waren, setzte er seine Mütze wieder auf und es ging ein fürchterlicher Skandal los. „Klaus, was war denn das? Was stehst du denn hier rum! Stell dich mir gegenüber, schaue mir ins Gesicht und antworte! Wer war das?“ Ich war geschockt, stellte mich aber brav ihm gegenüber hin. „Luss moool, das war nur die Schabracken von unserer Schule, die alte Ziiiiiesche!“, entgegnete ich und spuckte empört zur Seite. Vater holte stoßartig Luft, stotterte vor Aufregung und stürzte Folgendes hervor: „Für dich ist das immer noch die Frau Schabracke, die du höflichst zu grüßen hast. Was macht sie denn in der Schule?“

„Die ist Klassenlehrerin und gibt Deutsch und Mathe“, entgegnete ich. Vater holte noch immer schwer Luft. Ich hatte den Eindruck, dass ihn irgendetwas schwer getroffen hatte. Aber was? „Also – ich stelle fest, sie ist eine Lehrerin. Sie ist deine Lehrerin in Deutsch und Mathe, wie heißt das im Langtext?“

„Demzufolge Mathematik.“

„Also pass auf“, seine Schnappatmung war immer noch da, wurde aber geringer, „wenn du irgendjemand triffst, vor allem Vorgesetzte wie Lehrer, betrifft aber letztlich jedermann, hast du freundlich zu grüßen, deine Mütze abzunehmen und deutlich und laut „Guten Tag, Frau Schabracke“ zu sagen. Verstanden? Dabei haste dich leicht zu verneigen und beim Vorbeigehen zu ihr hinzuschauen! Du darfst erst wegschauen, wenn du vorbei bist! Außerdem – sächsisch kannst du mit deinen Kumpels reden. Es heißt Guten Tag und außerdem – gespuckt wird überhaupt nicht, noch dazu, wenn du mit deinem Vater oder mit einem Erwachsenen irgendwo lang spazierst“, dozierte er mit ziemlichem Ingrimm. Ich spürte, dass ihm vor Erregung fast die Stimme versagte.

Auf der Stelle hatte ich den Kanal voll und war störrisch. Ohne ihn war das alles bisher ordentlich gelaufen. Ich konnte mit meinen Kumpels und Freunden tun und lassen, was ich wollte – Räuber und Gendarm spielen, mit dem Katapult schießen, mit Pfeil und Bogen, sogar mit Gewehren, konnte reden, wie mir der Schnabel gewachsen ist, ob nun sächsisch oder nicht, war egal. Spucken durfte ich auch. Die Frage an meinen Vater war eigentlich, ob das alles bisher Gewesene falsch und verboten war. Es konnte doch nicht alles plötzlich anders sein. Früher wurde ich nie so angeschrien und angemeckert. Ich dachte grimmig für mich: „Wärest du doch dort geblieben, wo du hergekommen bist!“ Dann war plötzlich Stille – bei Vater und bei mir. Mit Sicherheit hatte er mein Mienenspiel verfolgt, wurde etwas unsicher und plötzlich ziemlich sanft im Gesichtsausdruck „Die Schabracken, äh, Verzeihung – nein, so was aber auch – also, die Frau Schabracke, kannst du wohl überhaupt nicht leiden?“ Ich verzog angewidert und schmerzhaft das Gesicht „Die zieht mich immer an dem einen Ohr nach oben aus der Bank und dabei verdreht sie das noch, die doofe Gans. Andere, aber auch vor allem sie, schlagen mit dem Rohrstock auf unsere Fingerspitzen – das tut übelst weh!“ Mich beruhigte, dass Vater jetzt offensichtlich Verständnis, zumindest ein wenig, für meine Situation, erkennen ließ. Er schaute jetzt so, wie ich mir das wünschte, nämlich mitfühlend. Als er allerdings hörte, wie die Schabracken mich am Ohr traktiert und wie mit dem Rohrstock ohne Rücksicht auf unser zarten Finger zugehauen wird, funkelten seine Augen, auf der Stirn bildete sich in der Mitte senkrecht nach unten ein unheimlich dickes Blutgefäß.

Später erfuhr ich von Mama, dass sie sich immer ängstigt, wenn er diese Zornesader bekommt. Dieser Jähzorn richtete sich aber, Gott sei Dank, gegen die Praktiken der Schabracken. Damals wusste ich noch nicht, dass jetzt der wahre Eulenausdruck bei meinem Vater zu Tage kam. Mir fiel erst jetzt auf (wann früher hätte ich das auch feststellen können?), dass er ein ziemlich dunkler Typ ist – schwarze Haare, immer etwas gebräuntes Gesicht, braune Augen. Später, als ich dann seine Mutter Frida in Dresden kennen lernte, dämmerte mir, wer der Ursprung dieses Aussehens war, nämlich die Oma Eulenberger. Außerdem wurde mir später klar, was das bedeutete, wenn Mutti sagte, „Ich habe manchmal den Eindruck, Klaus, dass du in der Klinik vertauscht worden bist.“

„Wieso denkst du so etwas Sonderbares?“

„Na, eben deshalb, weil du eigentlich nichts von der Eulenfamilie geerbt hast. Aber mach dir nichts draus, Klaus, da hast du eben die Gene von mir.“ Mehr als einmal erwähnte Mama auch: „Du bist etwas zart, Klaus, eigentlich hättest du ein Mädchen werden müssen. Es wäre auch insgesamt besser gewesen.“ Außerdem kann ich mich noch ganz deutlich besinnen, dass Mutti in meiner Kindheit mehrfach zu mir sagte: „Wenn du jetzt schon ein richtiger Mann wärest, mein Typ wärest du nicht, Klaus. Eigentlich schade, dass du nicht so hübsch geworden bist.“ Ich machte mir aber darüber nie einen Kopf oder wäre gar beleidigt gewesen. Es interessierte mich einfach nicht. Feststellen musste ich aber, dass Mama später, als ich erwachsen war, mehrfach erstaunt sagte: „Du bist ein sehr hübscher junger Mann geworden, Klaus, zum Verlieben. Das hätte ich nie gedacht, wo du doch als Kind gar nichts in dieser Richtung geboten hast.“

Streben nach der Erkenntnis

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