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AUFKLÄRUNGSVERSUCH MITTELS DOKTORBUCH
ОглавлениеWir zwei Jungs waren nun öfter bei Tante Frida, vor allem nachmittags nach der Schule. Bei ihr war Ruhe und Geborgenheit und wir vermieden so die ständigen Aufrufe von Oma an uns, irgendetwas aus dem Keller zu holen, aufzuwaschen, abzutrocknen oder irgendetwas irgendwohin zu schaffen. Mitunter erledigten wir sogar unsere Hausaufgaben bei ihr. Viele Schätze hatte Tante Frida nicht, die sich für uns gelohnt hätten – sie hatte keine Karl May-Bände, kein Lederstrumpfbuch – das einzige, was uns reizte, war ein dickes, fettes Doktorbuch. Dieses befand sich in einem Schrank um die Ecke rum, das heißt, wenn man aus Fridas großem Zimmer hinaustrat auf den langen Flur, musste man nur um die Ecke zu dem großen Podest gehen, wo mehrere Schränke dann, eigentlich mit dem Rücken zu dem Kabuff ihres Zimmers, standen. Dazwischen war nur die Trennwand. Zufällig hatten wir das Doktorbuch entdeckt, als Mutti und Tante Friedel im Schrank irgendetwas suchten. Die Prozedur, um unentdeckt an diese dicke Schwarte zu gelangen, war allerdings recht kompliziert.
„Schnell, schnell, der Schlüssel muss sofort zurück!“
Wenn ich jetzt als Erwachsener, der aus diesem kleinen Jungen Klaus hervorging, bzw. sich weiterentwickelte, mir die Frage stelle, weshalb wir dies alles mit diesem fürchterlich hohen Heimlichkeitsgrad und -kodex abwickelten, fällt mir eine Antwort eindeutig schwer. Eines würde ich auf alle Fälle behaupten – wir Kinder dieser Generation waren alle ziemlich straff erzogen und teilweise für heutige Verhältnisse ziemlich devot. Ich hatte schon früher erwähnt, dass ich ziemlich schüchtern in die Welt blickte. Lothar war ähnlich, wenn er auch manchmal einen Wutanfall bekam. Ich muss nachdenken – diese Zeilen und dieses Buch schreibe ich mehr als drei Generationen später, wenn ich für eine Generation zwanzig Jahre ansetze. Jede Generation schimpft auf die Generation vor sich. Ich will hier auch nicht schimpfen, ich möchte ja nur mein Erstaunen zum Ausdruck bringen. Zurzeit biete ich Lesungen für mein Buch „Kleine Kelly – was nun?“ an und habe schon relativ viel ausgeführt. Da ich dies neuerdings fast durchweg nur in Gymnasien tue, habe ich oft Telefongespräche mit Lehrern und, wenn diese nicht gegenwärtig sind, sind meist deren Kinder mein Telefonpartner. Da bin ich jedes Mal erstaunt, mit welcher Aufgewecktheit, Intelligenz und auch Schnelligkeit so ein kleiner Knirps oder ein kleines Mädchen von manchmal nur fünf Jahren diese Angelegenheit abwickelt. „Hat denn meine Mutti Ihre Telefonnummer, wenn nicht, dann geben Sie sie mir. Natürlich habe ich schon einen Stift in der Hand und auch Papier vor mir liegen – es kann losgehen. Wenn meine Mutti wieder da ist, ruft sie dann gleich zurück!“ Wir hatten ja damals auf unserem Bauerngut überhaupt noch kein Telefon – von Computer, iPhone, Handy und anderem elektronischen Kram ganz zu schweigen. Selbst Fernsehen war damals noch in weiter Ferne. Jetzt habe ich mich aber ziemlich verplaudert und verschwatzt. Eigentlich wollte ich mit dieser Darstellung nur deutlich machen, dass wir längst nicht so fix und flott wie die heutige Jugend unterwegs waren und außerdem viel zurückhaltender, viel mehr Respekt und sogar Angst vor Erwachsenen hatten – also deshalb diese Heimlichkeit. Es durfte niemand wissen, konnte für uns nur Ärger bedeuten, wenn es herauskam.
Tante Frida war uns schon wohlgesonnen, schon deshalb, weil wir etwas Abwechslung in ihr tristes Leben brachten. Allerdings bekam sie schon irgendwie mit, dass wir tricksten, um an die knochenharten Brötchen zu kommen. Wenn man in ihr Zimmer trat, waren gleich rechts am Türgewand oben viele Schlüssel zu sehen, die auf einem starken Haken hingen. Wir wussten nie so genau, wofür welcher Schlüssel existierte, hatten aber mit viel Aufwand herausbekommen, welcher für den relevanten Schrank mit dem Doktorbuch zutreffend war. Dazu mussten wir mindestens fünf Schlüssel ausprobieren, bis es schnackelte. Der Ablauf, den wir uns zuvor in mehreren Sitzungen flüsternd erarbeitet hatten, war folgendermaßen. Einer von uns, zum Beispiel in diesem Fall ich, musste Tante Frida in ihre Küche locken. Dies erfolgte mit der Bitte um Kathreiner, ein Glas Wasser oder auch wegen eines Butterbrötchens. Ging dann Tante Frida in ihr Kabuff, war dies das Signal, in diesem Fall für Lutt, einen Schlüssel zu nehmen, hinauszurennen und ihn auszuprobieren. Als wir dann den Schlüssel ermittelt hatten, wurde es einfacher, aber gleichzeitig auch aufwändiger, denn der Schlüssel musste genommen, rausgerannt, Schrank aufgeschlossen, Buch herausgenommen, unter den Schrank gelegt, Tür wieder zugeschlossen, zurückgegangen und Schlüssel wieder hingehängt, werden. Später passierte uns, dass Tante Frida bereits aus ihrer Küche zurück, aber der Schlüssel von Lothar noch nicht wieder hingehängt war. Das war aufregend, sehr sogar. Frieda schaute misstrauisch auf den Schlüsselhaken. „Wo ist denn der große Schlüssel und der Lothar?“ Statt einer Antwort sagte ich erschrocken: „Hast du noch etwas Zucker, Tante Frida?“ Sie schaute mich an, war etwas unschlüssig und gab mir dann den Rat: „Geh doch mal in die Küche, zweites Regal unten links.“ Dann überlegte sie: „Habe es allerdings gar nicht gern, wenn ihr in die Küche geht. Ich hol es lieber selbst.“ Dann drehte sie listig die Daumen weiter, ruhig, wie immer, gaaaanz laaaannngggsaaammm voooorwärts und wieder rüüüückwärts. „Worauf wartest du denn, Tante Frida?“
„Auf Lothar, natürlich!“ So was Ausgefuchstes, dachte ich, jetzt hat sie uns in der Falle. Dann kam Lothar wieder herein und sofort wurde von Tante Frida verlangt, zu wissen, wo er war bzw. herkäme. Lothar wurde bleich, seine Augen traten hervor: „Ich, ich, ich – war auf dem Klo.“ Er erhielt nur eine Antwort. „Interessant!“ Nun war Lothar natürlich in der Zwickmühle bzw. wir, denn er konnte ja nicht vor Fridas Augen den Schlüssel wieder hinhängen. Ich zeigte ihm hinter Fridas Rücken an, er solle sich hinsetzen. Das tat er. Tante Frida drehte listig die Daumen weiter, ruhig, wie immer, gaaaanz laaaannnggggsaaaammmm voooorwärts und wieder rüüüückwärts. Keiner sprach ein Wort. Offensichtlich war es ein Geduldsspiel geworden. Nach langer Zeit, für uns eine Ewigkeit, stand Tante Frida auf, ging in die Küche und holte Zucker. Lothar sprintete hoch, raste zum Schlüsselhaken und hängte das vertrackte Ding hin. Er sprintete zurück. Tante Frida kam mit dem Zucker zurück, schaute auf den Schlüsselhaken und setzte sich hin. Wir schauten in ihr Gesicht und konnten kaum eine Reaktion wahrnehmen.
Spätestens jetzt stellt sich aber doch die Frage, weshalb wir denn so nass auf das Doktorbuch waren. Es war mit Sicherheit die altbekannte Neugier der Kinder. Hören Sie sich mal den Dialog an. „Wonach müssen wir denn überhaupt in dem dicken Wälzer suchen, Lothar?“
„Na, Mensch, mich interessiert vor allem, wie die Kinder entstehen.“
„Quatsch, Lutt, wie die Kinder entstehen, ist für mich Kacke. Mich würde aber brennend interessieren, wo die Kinder herkommen und wie das alles so passiert.“
„Eu ja, ich will alles wissen. Sonst tanzen uns die Erwachsenen immer auf der Nase herum und tun so überschlau. Das kann ich überhaupt nicht leiden.“
„Lass uns doch einfach mal anfangen, Lothar.“
„Ja, ja, ist schon gut.“ Wir blätterten unsystematisch und wild in der fetten Schwarte. „Pass auf, Lutt, dass wir nichts kaputtmachen, sonst kriegen die das alles heraus.“
„Guck mal hier – Nasenbluten. Ei Gott, das sieht ja furchtbar aus, das ist ja alles Blut, was da runter läuft. Der Katarrh der Nasenschleimhaut, alles uninteressant. Asthma, Bluthusten, Blutspucken, Blutsturz – einfach grässlich, das alles. Brustfell- oder Rippenfellentzündung, Herzbeutelentzündung, Herzbeutelwassersucht, Herzvergrößerung und Herzerweiterung, Herzinsuffizienz, die Bauchhöhle mit ihren Eingeweiden – sieht ja schrecklich aus, guck mal hier, das alles – der Darm, darüber Leber, Magen, Milz, absteigender Dickdarm. Nun habe ich es aber bald satt. Sieh mal hier das Bild – der Bauch, Eingeweide, Milz, daneben der Magen. Das ist der, Lutt, in den du immer maximal viel hineinstopfst.“
„So geht das nicht, Klaus – außerdem kommt jemand die Treppe herauf, also sofort unter den Schrank damit!“ Wir gaben an diesem Tage auf. Nun begann aber das fast größere Problem, denn wir mussten den Schlüssel wieder unbemerkt holen, Schrank aufschließen, Buch zurücklegen, Schlüssel wieder stillschweigend hinhängen. Einmal hatten wir Riesenglück, indem Tante Frida auf das Klo musste. Da hatten wir ausreichend Zeit und konnten in Ruhe unseren dunklen Geschäften nachgehen. Leider ging es beim Studium des Doktorbuches weiter so, d. h. uninteressante und eklige Sachen kamen uns bei unserer Suche in den Weg. Einer von uns, in dem Fall war es Lothar, blätterte und redete darüber, während der andere nur zuhörte und schaute. Lothar legte dar: „Die Gaumenspalte oder der Wolfsrachen, Hals- und Mandelentzündung, Magenkatarrh, Mastdarmfistel, Stuhlverstopfung – du, Klaus, wollen wir hier mal lesen, denn da haben wir ja auch manchmal ein Problem.“ Wir lasen, kamen aber bei der altdeutschen Schrift nur schwer zurande. Also ging es weiter. „Wurmkrankheiten, Bandwürmer, Spulwürmer, der Peitschenwurm, die Fettleber und die Speckleber, die Schnür- und die Wanderleber. Mensch, Klaus, ich hab schon wieder den Kanal voll. Kann denn eine Leber wandern?“
„Lutt, wir machen das nächste Mal weiter!“ Nächstes Mal der gleiche Zirkus. „Gallensteine, Gallensteinkolik, zur Anatomie und Physiologie der Harnorgane, die Schrumpfniere, Krankheiten und Leiden der Geschlechtsorgane.“
„Lothar ich denke, jetzt kommen wir ran an das, was wir suchen, fein.“
„Männliche Geschlechtsorgane, zur Anatomie und Physiologie der weiblichen Geschlechtsorgane – Lutt, jetzt komm wir langsam ans Ziel. Die Frauen bekommen doch die Kinder und damit hat das unbedingt was zu tun. Sieh mal, hier ist ein Bild – äußere Geschlechtsteile, große Schamlippen, kleine Schamlippen mit dem Kitzler, Scheide, Eierstock. Großer Gott, wozu das wohl alles gut ist? Sieh mal, hier ist ein Durchschnitt durch den weiblichen Körper in der Mittellinie – Scheiße, bringt uns auch nicht weiter.“
„Klaus, hier geht’s weiter – Harnröhrenentzündung, der akute Tripper, der chronische Tripper, Blasenkatarrh, Entzündung der Vorsteherdrüse, der weiche Schanker, Syphilis mit Bildung von roten Flecken und Papeln –iiiiiiii! Das sieht ja ekelig aus, mir wird ganz schlecht.“
„Lothar, wir machen das so – wir schauen jetzt noch für fünf Minuten weiter und wenn wir das immer noch nicht gefunden haben, dann sicher das nächste Mal. Wir sind ja immerhin schon in der Mitte dieser fetten Fibel.“
„Gut, weiter – die Eichelentzündung, krankhafte Samenergüsse, Krankheiten des Hodens und des Nebenhodens, weibliche Krankheiten – Gebärmutterentzündung, Eierstockentzündung und hier, sieh mal – Erkrankungen in der Schwangerschaft, die Geburt und Entbindung, Wochenbett und Krankheiten des Wochenbettes.“
„Ich glaube, wenn die Frauen ein Kind bekommen, müssen sie ins Bett, eben das Wochenbett – du, wir machen das nächste Mal weiter. Jetzt sind wir am Kern der Dinge, hurra!“
„So ein Quatsch, was du da redest, hier steht doch Das Wochenbett beginnt mit der Ausstoßung der Nachgeburt und dauert 4 - 6 Wochen.“
„Lass mich mal lesen, Lutt – Daaas Woooochchcheeenbeeett.“
„Schluss jetzt, Klaus, du liest ja wie ein Erstklässler. Bei deinem reichlichen Schuljahr hast du noch nicht viel gelernt. Das dauert ja ewig und keiner kann dich verstehen!“
„Wegen mir, Lutt, da liest eben du. Denke aber daran, dass du ein Jahr älter bist als ich.“
„Auf alle Fälle kommt das Wochenbett nach der Geburt. Also lass uns nochmal dazu lesen. Sobald das Kind im Mutterleibe völlig ausgereift ist, ist die Natur vor die Aufgabe gestellt, den Fötus, wie man die Leibesfrucht auch nennt, ans „Licht der Welt“ zu bringen. Diese Aufgabe – siehst du, hier haben wir es – bezeichnet man als den Geburtsvorgang und die Hilfsmittel, derer sie sich zu diesem Werke der Kindesausstoßung bedient, sind die Wehen, die so genannte Bauchpresse. Das untere Bild links auf der Tafel „Embryo“ zeigt dies. Hier siehst du, Klaus, wie der Fötus, oder wie das Ding heißt – eben das Kind – aus der Mutter herauskommt. Wir haben es geklärt. Es kommt also aus dem Arsch der Frau heraus!“
„Das klingt aber irgendwie gemein, finde ich, Lutt. Könnte man nicht auch After dazu sagen?“
„Sicher, Klaus, du Kleinkind, kannst auch Popo dazu sagen. Tatsache ist, dass wir jetzt wissen, wo es langgeht und keiner kann uns mehr etwas vormachen!“
„Ich denke, wir machen heute erst einmal Schluss. Da wir aber erst in der Mitte des Buches sind, können wir uns den Rest das nächste Mal in Ruhe anschauen.“
„Ach, war das heute wieder ein Mist, bis wir wieder mal an den Schlüssel bei Frida kamen. Sie saß aber auch in ihrem Lehnstuhl wie angeklebt“, schimpfte Lothar. „Meckere nicht so, Lutt, wir haben’s ja noch geschafft. Lass uns noch den Rest anschauen, ist vielleicht ganz interessant.“
„Krankheiten der Haut, Hautpflege, das Jucken, Nesselsucht, Krätze.“
„Lies mal bei Krätze, Lutt, die Mutti und die Oma sagen doch immer: Wenn ihr euch nicht richtig wascht, bekommt ihr die Krätze. Was ist denn das nun aber eigentlich?“
„Krätze ist eine Hautkrankheit, welche durch das Eindringen der Krätzmilbe in die Haut hervorgerufen wird. Die Milbe ist mit bloßem Auge sichtbar, hat die Form einer Schildkröte und besitzt auf der Rückenfläche Dornen und Stacheln, an den Rändern Borsten.“
„Mann Gottes, das ist ja grausig!“, riefen wir beide in großer Aufregung. „Hier, sieh dir mal das Bild der Krätzmilbe an – da kann einem ja richtig angst werden. Stell dir mal vor, wenn die unter unserer Haut ist, was da losgeht. Wie das krabbelt, kratzt und scharrt – einfach fürchterlich.“ Wir schauten beide aufgewühlt und gestanden uns (fast so feierlich wie beim Pionierehrenwort), dass wir die Händewaschaktion in Zukunft mit Seife und vor allem Bürste richtig ausgiebig vornehmen werden. Lothar sagte fast andächtig: „Unsere Mütter, die Oma, der Opa, Onkel Heinel und auch die Tante Marie werden sich noch wundern und uns ein Lob verpassen, ein Lob nach dem andern.“ Später lasen wir noch zu Impotenz und Frigidität, ohne dass wir begriffen, was das war. Danach kamen wir zu Ruhr, Cholera, Malaria, Sumpffieber, Masern, Scharlach und Windpocken. Als wir dann die Bilder dazu sahen, grölten wir beide abwechselnd: „Iiiiiiii, Äääääää – das ist vielleicht widerlich!“
„Weißt du, Lothar, jetzt langt’s! Wir haben das mit der Geburt erkundet – was sollen wir uns jetzt noch diese grauslichen Bilder angucken? Außerdem ist das ja mit der Schlüsselbesorgerei bei Tante Frida immer sehr nervenzerfetzend und geht uns auf die Ketten. Wir bringen jetzt Buch und Schlüssel zurück – und das war’s dann. Einverstanden?“
Am nächsten Morgen schrubbelten Lothar und ich uns beim Waschvorgang dermaßen eifrig die Hände, dass wir knallrot im Gesicht aussahen und der intensive Vorgang der Händebehandlung mit Bürste und Seife als Erstes dem Opa und dann auch der Oma auffielen. Opa knurrte mit seiner tiefen Bassstimme: „Was ist denn heute los? Soll ich euch die Drahtbürsten holen? Wenn ihr weiter so macht, ist der Bast an euren Händen weg und ihr könnt dann anschließend beim Frühstück mit euren verbliebenen Knochen die Butterschnitte anfassen!“ Nun wurde auch Oma aufmerksam. „Erzählt mal, ihr beiden, weshalb ihr heute so eifrig mit der Händesäuberung seid? Da werden sich ja eure Muttis über diesen Eifer freuen, prima von euch. Nun helft mir mal lieber beim Auftragen in die Stube und hört auf mit euren überzogenen Reinigungsaktionen. Das ist ja keine Händewascherei mehr, sondern eher eine Hautzerstörung. Da hat der Opa vollkommen Recht. Nun macht endlich den Mund auf – weshalb tut ihr das?“ Lothar fing an zu stammeln: „In einem Buch“, ich gab ihm mit dem Ellbogen einen Stoß in die Rippen, „äh, äh, wir hörten das von jemand.“ Ich fühlte mich bemüßigt, die Sache zu retten. „Lothar hat das von seiner Lehrerin, der Frau Konrad gehört, die der Klasse aus dem Doktorbuch vorgelesen hat und zwar besonders zur Krätze. Sie hat genau beschrieben wie die Krätzemilben aussehen und den Rest könnt ihr euch denken. Wir haben beide unheimlichen Schiss vor dieser bösartigen Milbe, die wie eine Schildkröte aussieht, nur eben ein Tausendstel kleiner ist.“ Lutt schaute mich für diese Rettungstat erleichtert und dankbar an und wir konnten nun Oma beim Auftragen helfen. Das dachten wir aber nur, denn plötzlich kamen Tante Friedel und Mutti herein. Sie wurden von Oma informiert, wie eifrig wir das Waschen betrieben hätten. Die beiden drückten uns, aber plötzlich schrie Mutti erschreckt auf und zeigte mit dem Zeigefinger der rechten Hand auf meinen Nabel. „Ich hab das jetzt schon mehrfach gesehen und jedes Mal wird mir mehr angst. Dein Nabel steht doch viel zu weit vor, Klaus. War denn das schon immer so?“
„Ich kenne das nicht anders, Mutti.“
„Klaus, wir müssen unbedingt zur Frau Dr. Erler-Dieda gehen. Lothar, lass mal bei dir sehen. Siehst du, das ist ganz anders und irgendwie besser als bei dir.“ Nachmittags, nach der Schule, marschierten wir zur einzigen Ärztin im Dorf. Es wurde zwar erzählt, dass man bei ihr unheimlich lange warten muss – allerdings kamen wir schon nach zwanzig Minuten an die Reihe. Sie drückte an meinem Bauch herum, insbesondere um den Nabel. „Das wurde ja höchste Zeit, Frau Eulenberger. Sie hatten Recht mit Ihrer Vermutung, dass da etwas nicht stimmt. Die Bauchdecke ist an dieser Stelle nicht richtig geschlossen und bei körperlichen Anstrengungen kann es passieren, dass der ohnehin vorhandene Bruch sich vergrößert und sogar das Innenleben nach außen tritt.“ Meine, immer überängstliche, Mutti, schlug die Hände über dem Kopf zusammen. „Um Himmels willen – das Innenleben, sind das nicht die Eingeweide?“
„Sicher, es hat schon Fälle gegeben, wo dieses eingeklemmt wurde. Frau Eulenberger, Sie brauchen aber nicht solche Angst zu haben. Das Ganze ist eine Schwachstelle in der Bauchwand und eher als Riss zu verstehen. Dieser kann entweder angeboren sein oder erworben werden. Auf alle Fälle darf ihr Sohn jetzt keinesfalls Sport in der Schule mitmachen und körperliche Anstrengungen sind in jedem Fall zu vermeiden!“ Das in jedem Fall betonte sie ganz besonders. Da hatte ich nun den Salat – auf alle Fälle war dies nun nicht gerade ein erfreuliches Ereignis. Dementsprechend bedeppert schaute ich in die Welt, vor allem als Frau Dr. Erler-Dieda eröffnete, dass eine Operation unumgänglich sei und möglichst rasch durchgeführt werden müsse. Eine Einweisung in die Poliklinik Freiberg sollte möglichst schnell erfolgen. „Um die Einweisung und den Termin und alles andere, Frau Eulenberger, kümmere ich mich und melde mich bei Ihnen telefonisch im Gemeindeamt.“ Wir marschierten wieder nach Hause und unsere gesamte Corona wurde informiert. Allgemeines Erstaunen. „Armer Klausmann, da hast du nun Schulausfall.“ Lothar schob mich beiseite. „Klaus, wegen dieser Sache muss ich gleich mal mit dir reden. Du kannst da auf keinen Fall die schweren Milchkannen mit auf unsere Karre heben, geschweige denn auf die Milchrampe stellen. Das müssen wir jetzt drinnen gleich einmal klarstellen und außerdem – wenn du nicht mitmachen kannst, ist das Ganze für mich nun damit auch erledigt!“ Alle riefen gleich im Chor, als wir unser Ansinnen vorgebracht hatten. „Das ist doch klar, macht euch ja keine Gedanken! Das erledigen unsere zwei Helferinnen. Hauptsache ist, dass der Klaus bald wieder gesund ist.“ Opa hatte heute wieder einmal (das war in letzter Zeit leider sehr selten der Fall) einen guten Tag. Strahlend über das ganze Gesicht gab er von sich: „Bring das schnell hinter dich, Klaus – das bisschen Operation erledigt doch in der Poli Freiberg der Pförtner, unterstützt von einem Lehrling und in ein paar Tagen bist du wieder strahlend und gesund zurück und wir können sagen: „Ein paar Tage war das Kläuschen krank – nun hüpft es wieder – Gott sei Dank!“
Der Zeitpunkt der Erkennung meines Nabelbruchs fiel in eine Spanne, wo die Zeit unserer Großfamilie auf dem Bauerngut Straßburger irgendwie schrittweise zu Ende ging. Onkel Heinel war der Erste, der für seine Familie einen Umzug nach Zwickau nicht nur ins Auge gefasst hatte – der Umzug sollte schon in zehn Tagen erfolgen. Er hatte dort eine Stelle als Amtsleiter für Tiefbau erhalten und war sehr froh darüber. Mein anderer Onkel, der Schulze, Herbert, war erst seit wenigen Tagen bei uns und beabsichtigte, fast zehn Kilometer von uns entfernt, neben dem Bahnhof Kleinwaltersdorf, eine Mietwohnung zu beziehen. Die gesamten Veränderungen hingen damit zusammen, dass Opa aus Altersgründen die gesamte Leitung nicht mehr packte, Oma über zu viel Arbeit klagte und eigentlich keiner einen so rechten Bock auf das Bauerndasein hatte. Mein Vater war Kaufmann und auch nicht gerade geeignet, mit dem Schimmel oder der Lore oder beiden, den gesamten Tag hinter dem Pflug her zu laufen. Meine Mutti informierte mich eines Abends beim Zubettgehen mit leuchtenden Augen (sie war überglücklich, fast euphorisch und fuchtelte, was ich sonst überhaupt nicht von ihr kannte, fürchterlich aufgeregt mit den Armen), dass sie eine Mitteilung erhalten habe, dass Vater aus dem Krieg heimkehren würde und das schon bald. „Klausmann, überlege dir einmal, was das bedeutet. Der Herbert als dein Vater hat diese entbehrungsreiche Zeit der Kriegsgefangenschaft bei den Russen überstanden. Er lebt also und ist auch scheinbar gesund. Was denkst du denn, Klaus, wie viele deutsche Männer dort vor Hunger und Entbehrung – sie mussten ja unheimlich körperlich schwer, zum Beispiel in Steinbrüchen, schuften – gestorben sind. Du kannst dich riesig freuen, dass dein Vater es geschafft hat und zurückkehren kann. So sind wir wieder eine Familie.“ Sie schaute zur Decke, sagte abschließend „Dem Himmel sei Dank!“ und umarmte mich. In einer neuen Gefühlswallung bekam ich Küsse rechts und links auf die Wangen, auf die Lippen, die Nase, die Stirn und da ich wegen der Feuchtigkeit der Küsse, letztlich war es schon eine Knutscherei, etwas Widerstand leistete, auch auf meine abwehrenden Hände.
Alle hatten, scheinbar schon seit einiger Zeit, eine Bauernfamilie ausfindig gemacht, die unser Gut übernehmen sollte. Das war die Familie Kornblume, Kurt und Selma. Sie hatten vier Söhne – Paul, Lukas, Moritz und Erik, den wir bereits kannten und mit dem wir auch schon Verschiedenes unternommen hatten. Jeden Tag kam irgendeiner von den Kornblumes zu uns, um Angelegenheiten der Zukunft zu besprechen, bereits bei der Tierversorgung mitzuhelfen, sogar beim Essenkochen. Es war ein nettes Miteinander mit dieser Familie und offensichtlich so geplant, dass sie schrittweise in unser Bauerngut „hineinwachsen“. Natürlich waren vor allen Dingen wir Kinder recht traurig. Das betraf Lothar und mich, aber auch ganz stark Helga, welche unglücklich war, dass sie von ihren Freundinnen in der Dorfmitte weg sollte, vor allem von der Nürnberger, Marion, ihrer engsten Freundin. Eines solchen Tages, als die Kornblumes wieder einmal bei uns weilten, sagte die Selma plötzlich zu meiner Mutti: „Gretel, wir wollten, wie ja zwischen uns vereinbart, das Gut schon ab April übernehmen. Wir sollten aber vielleicht den Mai vorsehen. Ich habe zurzeit mit unseren Söhnen etliche Probleme und da wird mir das jetzt alles zu viel.“ Mutti, die im Auftrag von Oma, Opa, Heinel und Friedel die Absprachen mit Kornblumes traf, fragte: „Das ist sicher kein Problem, Selma, aber was hast du denn mit euren Söhnen?“
„Der Paul will zu seiner Freundin nach Berlin ziehen, der Lukas hat sich den Fuß verknackst, der Moritz hat eine ganz schwere Grippe und nun kommt noch der Erik mit einem Riesenproblem. Er muss im Krankenhaus operiert werden.“
„Das tut mir aber sehr leid, Selma. Also – wir verschieben den Termin. Was hat denn da der Erik? Er ist doch noch nicht einmal sieben Jahre alt.“
„Da hast du schon Recht, es ist noch ein ziemlich kleiner Junge. Umso mehr wundert mich, dass er jetzt schon am Nabel operiert werden muss?“
„Waaaaaas?“, schrie meine Mutti in Verzückung. „Da hat er sicherlich das Gleiche wie mein Klaus. Der hat einen Nabelbruch und muss in Freiberg operiert werden!“ Selma lief ein freudiger Schauer übers Gesicht. „Wieso hat mir denn die Dr. Erler-Dieda das nicht von deinem Klaus erzählt? Die haben ja beide das Gleiche. Und, Gretel“, – sie drückten und umarmten sich –, „da können die beiden ja zusammen reingehen. Ich meine, ins Krankenhaus. Hier bist du ja, Klaus, ich hatte vor Aufregung gar nicht darauf geachtet. Ist das nicht wunderbar? Da könnt ihr euch gegenseitig helfen und trösten. Angst müsst ihr aber nicht haben. Klaus, komme doch morgen mal zu uns und besuche Erik. Der wird sich sicherlich sehr freuen und ihr könnt alles besprechen.“
„Mach ich, Frau Kornblume.“
„Aber sag mal, Gretel, wie kommen denn die beiden Jungs hin und zurück?“
„Der Einzige, der ein Auto hat und den ich kenne, ist der Wittasch, Erhard.“
„Sprichst du mal mit ihm, Gretel, das wäre sehr schön?“
„Ich kümmere mich darum, Selma.“