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SPIELE MIT DEN ÄLTEREN MÄDCHEN

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Nächsten Morgen wurde ich durch mehrere sanfte Küsse auf mein Gesicht geweckt – Stirn, Wange, auch der Mund war unter den liebkosten Örtlichkeiten. Ich war aber noch viel zu schläfrig und kaputt, um die Ursache zu ergründen. Klammheimlich dachte ich aber an die süßen, weichen und ach so wunderbaren Lippen von Janine. Dann ermannte ich mich und machte vorsichtig die Augen auf. Mutti saß, wie so oft, auf meinem Bett und schaute liebevoll auf mich Schlummertüte herab. „Du alter Langschäfer! Aufstehen ist angesagt, ich muss ins Gemeindeamt. Gleich nach dem Frühstück müsst ihr aber die Tiere füttern und zum Simonbäcker gehen. Oma hat sich gestern wieder sehr geärgert, da ihr es schon wieder vergessen habt. Wir müssen von euch verlangen, dass ihr zuverlässiger werdet. Ihr seid doch keine Kleinkinder mehr, Klausmann.“

„Ach, Mutti“, quälte ich aus mir heraus. „Rede doch nicht früh, kurz nach Mitternacht, schon solche Romane und dazu nur Kritiken.“ Mama sagte das, was sie häufig von sich gab und womit sie sich verteidigen und mich noch zusätzlich anklagen wollte: „’S is’ aber ooch wirklich wohr!“ Auf Hochdeutsch hieß das: „Es ist aber auch wirklich wahr!“

Cousin Lothar und ich fütterten die Tiere, kehrten auf Geheiß von Tante Friedel den Vorsaal, gingen zum Simonbäcker und dann wartete ich ungeduldig, dass es endlich 14 : 00 Uhr wurde, wo geplant war, dass die Mädchen antanzen. Nach dem Mittagessen mussten wir noch abtrocknen – was war das heute nur für ein Arbeitstag? Einfach belastend und ekelhaft! Fand auch Lothar. Aber auch diese Zeit verging.

Wir holten die jungen Damen am offenen Tor ab. Wie sie halt so sind, die jungen Dinger, es war ein Gezwitscher, Kichern und teilweise auch ein Gekreische. Es rückten an: die Nürnberger, Marion, Jacobi, Waltraud, Krämer, Petra, Eschinger, Janine und meine Cousine, Lothars Schwester, Schulze, Helga. Der Schwarm kam auf uns zu und es begann das große Liebkosen. Marion gab mir sogar einen Schmatz auf die rechte Wange, strahlte mich an. „Wie geht es dir, kleener, hübscher Klaus?“ Auch die anderen Mädels drückten mich lieb, dabei kicherten sie exaltiert. Ich hatte mir schon ein paar Mal Gedanken über sie gemacht. Mir schwante, dass Mädchen vollkommen anders als wir Jungs sind. Dabei hatte ich aber ein wohliges, kribbeliges Gefühl in mir, als ich an sie dachte. Ich hatte auch schon beobachtet, dass sie sich untereinander küssten (so richtig auf den Mund) und häufig Händchen in Händchen die Dorfstraße entlangliefen. Das verwunderte mich sehr. Ich konnte mir überhaupt nicht vorstellen, dass ich einmal mit dem manchmal etwas knorrigen Lothar mit seinen starken Backenknochen und Basedow-Augen Hand in Hand die Dorfstraße entlanggehen würde. Wenn das der Unsauber, Hubert sehen würde – der würde ja gerade hinausquieken.

„Na, seid ihr gut vorbereitet, Lieblingscousin?“, fragte mich Helga und zwinkerte mir zu. Die Mädchen waren alle vier bis fünf Jahre älter als wir und freuten sich offensichtlich genauso wie ich auf unsere geplanten Spiele, die schon Tradition hatten. Nur Lothar war ziemlich abwartend und hatte keinen rechten Nerv dafür. „Lutt, nun sei mal nicht so griesgrämig – es war doch immer recht lustig mit den Mädchen und ich finde, es ist eine Ehre für uns, dass sie zu uns Kleinen kommen, um mit uns gemeinsam etwas zu unternehmen.“

„Ach, du, immer mit deinen Weibern – ich möchte wissen, was du davon hast.“

„Ich finde die Mädchen in Ordnung und freue mich, dass sie bei uns sind. Am meisten bin ich natürlich glücklich, dass Janine wieder dabei ist. Außerdem sind das nicht meine Weiber!“

„Klaus, du bist eine richtige Pfeife mit deiner Janine – lass uns hochgehen zu Tante Frida, damit wir es hinter uns bringen!“

„Lothar, manchmal bist du einfach unmöglich!“

Also marschierten wir alle durch die offene Haustür und dann die unheimlich steile, stets knarrende Holztreppe hoch in den ersten Stock in den großen Raum von Tante Frida ganz am Ende des langen Ganges. Sie war unsere Großtante. Wie alt sie war, wusste eigentlich keiner – allerdings hatte Mutti einmal erwähnt, dass sie schon weit über achtzig Jahre alt sei. Tante Frida freute sich riesig, wenn etwas in ihrem Zimmer losging. Meist saß sie hier in ihrem rotbraunen Ohrenplüschsessel mit unheimlich langer Lehne, die aber stark nach hinten gewölbt war. Meist, fast immer, saß Tante Frida in diesem Plüschgerät, hatte den Kopf entweder links oder rechts an so einem Plüschohr angelegt und schlummerte. Schlief sie nicht, schaute sie ruhig und sanft in die Welt. Ihre großen, klobigen Hände lagen auf der Schürze in ihrem Schoß. Sie waren gefaltet und die Daumen drehten sich, ganz langsam, einmal in die Richtung, vom Körper weg und einmal in die andere Richtung, zum Körper hin. Lachend, sich gegenseitig schubsend und schiebend, erschienen die Mädchen und im Gefolge wir, vor Tante Fridas Tür. Es wurde stark geklopft. Ohne die Genehmigung von der schläfrigen Frida abzuwarten, stürmte die Corona in das Zimmer. „Guten Tag, Tante, wir sind wieder da. Wie geht es dir? Haben dich die Jungs gut versorgt mit Brot, Brötchen und Butter?“

„Ja, ja, das haben die beiden gut gemacht“, entgegnete sie mit warmherzigem, freudigem Gesichtsausdruck. „Soll ich euch Kaffee machen? Ich habe auch noch drei Brötchen – die anderen sind leider schon eine Woche alt.“

„Ja, Frida, das ist schön so.“ Sie verschwand in dem kleinen rechteckigen Verschlag, der ihre Küche beinhaltete. Nach einer Viertelstunde – es dauerte bei ihr alles immer recht lange – brachte sie den Kathreiner Kaffee mit Milch und Zucker und stellte ein Tablett mit vielen derben Bauerntassen auf den Tisch. Dann schmierte sie die drei Butterbrötchen, legte die sechs Hälften auf ein großes Schneidebrett. Wir waren aber zu siebent. Sofort sagte Janine: „Ich brauche keines, habe vorhin erst Mittag gegessen.“ Ich wollte ihr etwas Liebes tun, schaute sie schüchtern an, spielte den Großzügigen. „Janine, du kannst gern mein halbes Brötchen haben.“ Leider wurde ich dabei rot – ich merkte richtig, wie mir die Hitze von unten in den Kopf stieg. Trotzdem sah ich sie an. Sie senkte zurückhaltend den Blick. Dann ging es aber endlich los. Helga und Marion, die zwei Spielwütigsten, hatten, wie eigentlich immer, für jeden einen vorgeschriebenen Zettel parat und verteilten diese rasch. Ihren Gesichtern sah man an, dass sie süchtig auf das Spiel waren, ihre Augen glänzten förmlich in Vorfreude. Bei Helga kam noch dazu, dass sie einen, immer kleinen, hübsch anzuschauenden, Fehlblick präsentierte. Kam sie aber in Stress, wie zum Beispiel hier, schielte sie schon beträchtlich und mir fiel auf, dass sie dann allerdings nicht mehr so adrett aussah.

Marion kommandierte: „Janine, du buchstabierst jetzt in Gedanken das Alphabet und Helga sagt dann Halt.“ Die Angesprochene veränderte ihr Gesicht – von der lockeren Fröhlichkeit hin zum Nachdenklichen – schließlich hatte sie ja in Gedanken Schwieriges zu bewältigen. Ich schaute in ihr hübsches Gesichtchen. Sie war voll konzentriert. Die rehbraunen Augen schauten ernst und aufmerksam. „Halt“ schrie Marion und Janine rief aufgeregt „F“. „Los geht’s!“ war die nächste Ansage. Alle, einschließlich Lothar und mir, dachten nach und schrieben. Es herrschte Ruhe und Arbeitseifer. Tante Frida schaute sich das alles verwundert an. Unter Garantie verstand sie nichts von dem, was da vor sich ging und welchem Ziel das alles dienen sollte. Auf alle Fälle war es für sie interessant und eine tolle Abwechslung. „Stopp“ war der nächste Befehl von Marion. Manche kritzelten schnell noch etwas und erhielten einen strafenden Blick von der Kommandozentrale, welche die Zettel einsammelte und nachschaute, wer am wenigsten geleistet hatte. Für Lothar und mich – die Küken der Runde – war es mit Sicherheit am schwersten, schnell und gut das Notwendige zu wissen. Es ging immerhin um die Gebiete Name, Stadt, Land, Beruf, Fluss, Berg, Schauspieler. Ich hatte hingekrakelt Friedrich, Frankfurt, Frankreich, Fliesenleger, Fulda – das war’s dann. Lothar war aber nur bis Land gekommen und musste einen Pfand abgeben. „Helga, jetzt bist du mit dem Alphabet dran.“

„Stopp“ schrie diesmal Waltraud. „I“. Schon ging der Zirkus weiter. Ich grübelte – verflucht, ein Name fiel mir partout nicht ein, eine Stadt mit I gibt es auch nicht, Land, auch nicht existent, aber halt – Indien gibt es, ist ja wie verhext – ein Beruf ist auch nicht in meinem Kopf, als Fluss Iller hatte ich schon einmal gehört. Marion hatte längst „Schluss“ gerufen und fragte ab, bzw. kontrollierte die Zettel. „Na, kleiner Klaus, was hast du denn alles? Ich beantworte es gleich selbst – Indien und Iller sind zu wenig – wir verlangen von dir einen Pfand!“ Ich sah es ja ein, dass ich dran war. Ich kramte in meiner Hosentasche. Rechts hatte ich eine grüne Murmel und eine mit blauen und roten Streifen sowie ein Stück Bindfaden, mein Taschentuch und lauter Holzspäne, die von unserer gestrigen Schnitzaktion irgendwie dahin gelangt waren. In meiner linken Hosentasche fand ich zusammengebundenen Kupferdraht, eine Kastanie und den Brocken eines knochenharten Brötchens von Tante Frida. Ich versuchte zu vermeiden, dass Marion all meine Schätze sah, was aber offensichtlich nur teilweise gelang, denn sie sagte zu mir: „Das Stück Bindfaden können wir nicht als Pfand einordnen – gib mir doch die Murmel.“ So ging das halt immer weiter – Lothar und ich verloren viel. Längst musste mein Bindfaden anerkannt werden und Lothars Katapult, welches er erstaunlicherweise in seiner Hosentasche mitführte. Ich hatte mich schon gewundert, was bei ihm rechts so beulte. Ab und zu verlor auch eines der Mädchen, dies war aber eher die Ausnahme. Im Anschluss an Name, Stadt, Land kam nun Alle Vögel fliegen hoch in die Luft an die Reihe. Alle strahlten, sogar die zurückhaltende Janine. Es war aber auch immer wieder lustig. Hauptmacher war auch hier wieder Marion. „Alle Vögel fliegen hooooch in die Luft – Schwalben fliegen, Gänse fliegen, Blumenstöcke fliegen, was ist denn, Klaus und Lothar? Blumenstücke können nun einmal fliegen, wenn sie jemand aus dem dritten Stock herunterwirft, zum Beispiel auf laut grölende Betrunkene. Bälle fliegen, Schweine fliegen – Lothar, du hast wieder einmal nicht aufgepasst. Liefere das Pfand ab! Deinen Kupferdraht kannst du stecken lassen. So was hatte schon der Klaus, aber die Spielkarte kannst du ruhig geben, die gilt als Pfand.“ So in dieser Art ging es dann weiter, aber als ich meine Kastanie als Pfand geben wollte, stoppte Marion das Spiel. „Ich würde vorschlagen, wir hören auf damit und es geht jetzt an das Einlösen aller Pfandsachen. Wem gehört denn dieses leicht angeschmutzte Taschentuch?“ Lothar meldete sich. „Ach, ja – du kleines Ferkel. Was soll der Pfand in meiner Hand, was soll derjenige tun?“ Alle schrien bunt durcheinander. „Zehn Liegestütze machen, ein Gedicht aufsagen, ein Lied singen, Gewitter machen.“

„Ja, mache ein Gewitter Lothar!“ Lothar verdrehte die Augen, kratzte sich mit dem rechten Finger am Kopf (das tat er grundsätzlich immer, wenn ihm etwas nicht passte) und ging zur Tür, welche von Tante Fridas Zimmer auf den Flur führte. Er öffnete die Tür, ging in die Hocke und rubbelte mit seiner Stirn von unten nach oben und dann wieder nach unten am Türgewand. Teilweise schepperte es leicht (eben so wie Gewittergrollen), dann rutschte die Stirn ein Stück und dann gelang es wieder. Alle klatschten begeistert und Lothar kam mit einer roten Stirn, welche er aufgeregt rieb, von seiner Aktion wieder ins Zimmer. „Das tut mitunter ganz schön weh, vor allem dort, wo die Lackfarbe weg ist.“

„Du hast vollkommen Recht, Lothar – tust mir richtig leid. Hier, nimm mal die Creme und reibe ein. Das wird dir gut tun“, half die süße Janine dem traurig in die Welt schauenden Lothar. Dann kam Helga an die Reihe, welche zur Pfandeinlösung jemand drücken musste. Sie wählte ihren Bruder Lothar, den sie, nach seiner Gewitteraktivität, bemitleidete. Leider kam ich auch noch häufig an die Reihe, um meine Pfande zurückzuholen. Unter anderem musste ich ein Lied unter dem Tisch singen. Da ich damit rechnen musste, hatte ich mir schon vorher überlegt, was ich bieten könnte und hatte es schon mehrfach mit Lothar einstudiert. Widerwillig, denn es passte mir überhaupt nicht in den Kram – singen war einfach nicht mein Ding –, kroch ich unter den Tisch und hub an: „Friiiiiiidolin, wir braten eine Leiche, Friiiiiiidolin im Leichenhaus, Friiiiiiidolin, die Knochen sind schon weiche, Friiiiiiidolin zum Leiiiiiichenschmauuuuuus.“ Der Singsang war derb, aber er kam im Allgemeinen gut an. Hätte ich Am Brunnen vor dem Tore … gesungen, wäre es sicherlich zu keinem Beifall gekommen, den ich aber bei meinem kessen Lied, trotz Schelte einzelner Mädchen, dass es zu frech sei, erhielt. Die Aufgaben, um seinen Pfand wieder zu erhalten, waren wahnsinnig breit und interessant gefächert. Ein Mädchen musste zeigen, dass es bügeln kann, dass andere musste gegen eine Wand ballen, sich umdrehen und so den zuvor geworfenen Ball auffangen. Mit am lustigsten war die Aufgabe – sie betraf Helga – das Nachtgeschirr (sprich – den Nachttopf) von Tante Frida heranzuschaffen. Es dauerte sehr lange, bis Helga mit dem Nachttopf in der Tür erschien – alle hatten den Eindruck, dass Helga den Inhalt erst ausschütten und dann den Topf noch ausspülen musste. Endlich aber erhielt ich den von mir sehnlichst erwünschten Auftrag „Kirschen kosten!“ – und zwar bei Janine. Das hatte ich Marion zu verdanken, die genau wusste, was mein sehnlichster Wunsch war. Obwohl es für mich natürlich eine Riesenfreude war, dies von Marion zu hören, so war es doch zunächst ein Schock. Das Blut schoss mir in den Kopf, es wurde heiß, sicher stieg der Adrenalinspiegel enorm – ich wurde zittrig und fisblich. Sofort sah ich zu Janine. Auch sie errötete, schlug die Augen nieder. Langsam erhob ich mich – sicher war ich in der letzten Zeit nie so langsam wie jetzt – ging bedacht um den Tisch herum auf Janine zu. Dabei gingen mir in diesen wenigen Sekunden wahnsinnig viele Gedanken durch den Kopf. Der Hauptgedanke war: Hoffentlich ist sie nicht zu schüchtern und so zurückhaltend wie das letzte Mal, wo erst Marions Machtwort dafür sorgen musste, dass Janine mir ihre wunderschönen Lippen entgegenstreckte. Als ich vor ihrem Stuhl stand, schaute sie immer noch brav nach unten. Langsam ging ich in die Hocke, so dass mein Kopf in ihrer Höhe war und – verhielt mich einfach still in dieser Stellung. Das war alles unbewusst, aber sicherlich richtig, wie ich mir im Nachhinein überlegte. Janine dauerte es zu lange. Als Mädchen war sie natürlich super neugierig und wollte nun endlich wissen, was los war. Also schlug sie die Augen auf und sah meinen Kopf in gleicher Höhe. Ich verhielt mich ruhig (wollte mich ja schließlich auch nicht bis auf die Knochen blamieren) und schaute sie sehr lieb an. Alle schauten gebannt zu und riefen plötzlich, wie im Chor: „Jetzt muss es aber endlich losgehen – wir wollen einen großen, langen Kuss sehen!“ Jetzt wurde Janine aber so richtig rot, blutrot. Ich bewegte meinen Kopf zu ihr hin, aber nicht zu schnell, damit sie nicht geschockt wegdrehte. Plötzlich bekam ich aber doch Angst, dass sie ihren Kopf wegdreht und ich nahm einfach ihren Kopf in meine zwei Hände und küsste sie auf ihre Lippen – na ja, vielleicht war es eine Sekunde zu lang (wenn ich im Nachhinein überlege, man konnte schon in Ruhe die Zahl 2134 in dieser Zeit aussprechen). Danach zog ich mich zurück – ich war wie benebelt und selig. Alle klatschten wie verrückt, riefen laut „Bravo, na endlich!“ oder irgendetwas anderes. Ich setzte mich wieder neben Lothar, der mich zornig, mir kam es fast vor, hasserfüllt, anschaute. Aus meiner Stimmungslage war ich kaum herauszubringen, aber da mir das mit Lothar auffiel, fragte ich nur: „Was hast du denn nun schon wieder zu meckern?“

„So ein Rotz mit diesen Weibern – ich möchte wissen, was der Zirkus soll?“, zischte er.

Anschließend spielten wir alle noch Friseur. Ei, war das fein – ich konnte das so richtig genießen. Dabei ging es mir weniger darum, andere zu kämmen und Haare zu schneiden. Daran hatte ich eigentlich überhaupt kein Interesse. Ich wollte nur selbst genießen, wenn andere mir die Haare waschen, schneiden, föhnen, kämmen oder was weiß ich, sonst noch alles. Also half ich den Mädels bei ihren Aktionen – holte Kämme, Scheren, eine Schüssel mit lauwarmem Wasser von Tante Frida und so weiter und so fort. Irgendwann kam ich dann endlich auch einmal an die Reihe und ergötzte mich am Herumwerkeln an meinem Kopf. Es war einfach ein Riesengenuss. Ich verdrehte die Augen wie ein Schellfisch, später schloss ich sie dann ganz. Es war einfach wunderschön, entspannend, beruhigend, einfach spitzenmäßig. Wenn ich dann aufstand, war ich so in mich gekehrt, dass ich gar nicht mehr richtig beim Aufräumen helfen konnte. Wo war Lothar? Gleich zu Beginn der Frisieraktion hatte er sich verdrückt. So war er nun halt. In der Folge war ich gar nicht so recht bei der Sache. Ich sollte für Mutti Eier holen, tat dies auch, aber meine Gedanken waren bei Janine. So ein hübsches Kind, rückblickend bekam ich (sicherlich vor Erregung) Schüttelfrost. Gedanklich sah ich ihre Lippen vor mir, die schönen schwarzen Haare, die ihr Gesicht umrahmten, aber vor allem die Augen – so schön, so dunkelbraun – sie sahen mich an – nur mich. Ich lieferte die Eier bei Mutti ab, indem ich ihr den Korb hinhielt. Mit der einen Hand nahm sie den Korb, mit der anderen fasste sie meine Schulter, drehte meinen Körper zu sich, so dass unsere Gesichter ganz nah beieinander waren. „Klaus, Klausmann, was ist denn mit dir? So habe ich dich ja noch nie erlebt. Du bist doch ganz in dich gekehrt und schaust mich an, ohne mich zu sehen. Du schaust einfach durch mich durch, als wenn ich gar nicht da wäre.“

„Ach was, Mutti, nichts Besonderes!“

„Nein, nein, nein!“ Sie wurde fuchtig und energisch. „Sag mir doch bitte, was heute los war und was dich so beschäftigt.“

„Wir haben heute mit den großen Mädchen wieder Name, Stadt, Land und so weiter gespielt. Das war alles“, antwortete ich ärgerlich. Plötzlich fragte sie: „Habt ihr wieder geküsst?“ Ich erschrak – woher wusste sie denn das nun schon wieder? „Mutti, du verschweigst mir etwas. Bitte erzähl es mir, unbedingt!“

„Ich habe mit Marion und Helga gesprochen. Sie erzählten mir, dass es wieder sehr lustig und hübsch war.“

„Na, und? Mutti – ich bin dein Sohn. Erzähle mir jetzt, was die erzählt haben!“

„Ich gebe ja zu, ich weiß, dass dir die Janine sehr gut gefällt und du sie küssen musstest, um deine Murmel wieder einzulösen. Ich hätte gar nicht gedacht, Klausmann, dass du schon mit deinen acht Jahren so interessiert an Mädchen bist.“ Natürlich wurde ich wieder ziemlich unsicher und korrigierte. „Ich bin nicht acht, sondern vor einem Monat neun geworden. Das müsstest du als meine Mutti wissen. Du findest wohl unsere Spiele schlecht?“

„Nein, nein – ganz im Gegenteil. Ich bin nur erstaunt, dass du kleines Kerlchen bei den jungen Damen schon so begehrt bist. War es nun sehr aufregend, als du die hübsche Janine auf den Mund geküsst hast?“ Jetzt löste sich plötzlich meine Verspannung, ich wachte auf und schwatzte mit hohem Mitteilungsbedürfnis plötzlich los. „Weißt du, Mutti, das ist ja was ganz Besonderes, wenn man ein Mädchen so berührt, weißt du? Verstehst du das überhaupt? Ich meine, warum ist das denn so anders, als wenn ich den Lothar berühre? In dieser Beziehung interessiert der mich überhaupt nicht, auch, wenn ich mit Jungs zusammen bin, will ich nur wissen, was wir zusammen spielen, wie Armbrustschießen, Räuber und Gendarm oder Katapultschießen. Ist denn das richtig? Woher kommt denn, verdammt nochmal, dieser Unterschied?“

„Liebster Klaus, das ist auf alle Fälle mehr als richtig – es ist nämlich einfach stinknormal, dass man Interesse für das andere Geschlecht hat. Ich freue mich für dich, dass es offensichtlich in dir gekribbelt hat.“ Sie gab mir einen Kuss auf die Wange und schaute mir dann ganz lange sehr, sehr lieb in meine Augen. „Komm, mein Großer, ab jetzt bist du für mich nicht mehr der ganz kleine Junge. Wir gehen Abendbrot essen“.

Streben nach der Erkenntnis

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