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ОглавлениеHeavy Southbound Traffic. Auf den Spuren von Johann Andreas Schmeller
Als Jugendlicher hörte ich oft Radio. Meistens AFN – American Forces Network. Wegen der Musik. AFN war aber auch einer der ersten Radiosender, der Verkehrsdurchsagen brachte. Unvergesslich: »Heavy southbound traffic on the Nuremberg-Munich Autobahn, especially in the area of the Holledau Triangle«. Dieses Dreieck kannte ich wohl, und ich wusste, dass halb Europa auf der Fahrt vom hohen Norden nach Rom oder Sizilien durch die Holledau musste1. Später stand ich oft genug selbst am Holledau-Dreieck im Stau, und die mit Büschen und Bäumchen bestandene, von Autobahnen vollkommen eingeschlossene Wiese dort kam mir bald vor wie der heimliche Mittelpunkt von Südbayern. Im Zeitalter des unaufhörlichen Lastwagenverkehrs und der immer hässlicher werdenden Gewerbegebiete könnte das wirkliche Zentrum des Landes doch auch ein Autobahndreieck sein, dachte ich mir. Oder sind es doch die Hopfengärten drumherum?
Wenige Kilometer Luftlinie vom Dreieck sieht die Welt vollkommen anders aus. Von »heavy southbound traffic« keine Spur, im Gegenteil: kaum irgendein Traffic! Ohne Navi schaut man hier recht alt aus – wer auf immer schmaler werdenden Straßen mit Kreuzungen ohne jeden Wegweiser versucht hat, nach Rinnberg zu gelangen, weiß das. Eine bayerische Bauernlandschaft von lieblich-herber Anmut bildet die Kulisse für Johann Andreas Schmellers einstigen, eine gute Stunde dauernden Schulweg nach Pörnbach – und zurück. Viel Wald, viel Mais, einige Pferdekoppeln, und vor allem: Hopfen! Im Sommer zuckelt man zwischen gewaltigen Hopfenwänden durch, entgegenkommen sollte einem niemand, schon gar nicht ein Mähdrescher oder ein Milchlaster. Landkreis Pfaffenhofen an der Ilm, im Tal die Kirche von Rohr, gleich daneben Rinnberg. Endlich!
Ein ausgesprochen schönes, aufgeräumtes Dorf mit viel Luft zwischen den Häusern und vielen Blumen. Beim Nussbaum an der Dorfstraße ist eine Hinweistafel aufgestellt. Hier sind wir richtig! »Zurück zu meinen Lieben / Nach Rimberg schwebt mein Geist«. So lautet die Inschrift auf einem schönen, naturbelassenen Stein, hinter dem orangerote Lilien blühen. Rimberg, Rinberg, Rinnberg – so genau nahm man es damals nicht mit der Schreibung der Ortsnamen. Weiter heißt es auf dem Stein: »Johann Andreas Schmeller. *6.8.1785 – †27.7.1852. Verfasser des Bayerischen Wörterbuchs. Die Heimat gedenkt seiner. Landkreis Pfaffenhofen«. Ein paar Meter weiter an der Straße findet man auch noch eine weiße Stadelmauer mit einer Steintafel, die an den im Alter von drei Jahren aus seiner Geburtsstadt Tirschenreuth (»Türschenreut«, wie er selber schreibt) nach Rinnberg gelangten Buben erinnert: »An dieser Stelle stand das Elternhaus des grossen bairischen Sprachforschers Johann Andreas Schmeller. Von 1787–99 verbrachte er hier seine Kindheit.« Floh die Familie aus der armen Oberpfalz? Vertraut man dem Journalisten Gerhard Matzig, ist Tirschenreuth auch heute nicht reich und auf jeden Fall, statistisch betrachtet, die »billigste Stadt Deutschlands«2.
Der alte Schmeller – nein, nicht Heimito von Doderers Romanfigur aus der Strudlhofstiege3, sondern »dieser wundervolle Gelehrte, der das Mundartlexikon gemacht hat«4 – war schon mal bekannter als heute. Nicht nur in der Wissenschaft, bei den Dialektologen, den Mediävisten und den Historikern, sondern auch bei den an der bairischen Mundart interessierten Bürgern des Freistaats. In vielen Haushalten steht noch heute die vollständige Ausgabe seines Bayerischen Wörterbuchs herum, die zum zweihundertsten Geburtstag des »baierischen Grimm« in vier Bänden erschien5. Ob Schmellers Opus Magnum eifrig benutzt wird? Oder doch eher ein Staubfänger ist? In der Bayerischen Staatsbibliothek in München, die ihrem einstigen Bibliothekar vor fünfunddreißig Jahren eine schöne Gedächtnisausstellung gewidmet hat6, wird sein Nachlass verwahrt. Dort findet man alles von und über den oberpfälzischen Korbmacherssohn aus der Holledau, dessen Verdienste insbesondere um die Handschriftenabteilung des Hauses gar nicht genug herausgestellt werden können. Bis dahin allerdings war es ein weiter Weg – von Pörnbach erst einmal ins Seminar des Klosters Scheyern, dann auf die Gymnasien von Ingolstadt und München. Schon 1801 begann er sein Tagebuch – manchmal mit durchaus merkwürdigen Einträgen wie beispielsweise dem vom 22. Juli: »Ein herrlicher Tag. Gestern fiel aus Baufälligkeit ein Haus zusammen, und erschlug etliche Menschen.«7 Der besonders an Pädagogik und Philologie interessierte Schüler war immer in Geldnot und hing ab von wohlmeinenden Gönnern. In Rinnberg entstand 1803 seine erste wissenschaftliche Arbeit: Über Schrift und Schulunterricht. Ein ABC-Büchlein in die Hände Lehrender. Die Studie ist geprägt von der Faszination, die Person und Werk des Schweizer Pädagogen Johann Heinrich Pestalozzi (1746–1827) auf ihn ausübten. Dem wollte er seine Arbeit persönlich vorstellen – vielleicht war auch eine Stelle in der Schweiz drin? Pestalozzis Absage muss Schmeller schwer getroffen haben, denn 1804 traf der Mittel- und Erwerbslose eine unerwartete Entscheidung: Er trat als Soldat in die Dienste des spanischen Königs Karl IV. und marschierte bald von Solothurn bis nach Tarragona. Soldat? Na ja, nach einiger Zeit wurde Schmeller dann doch Hilfslehrer, für Spanisch, Englisch, Französisch und andere Fächer, und zwar am Real Instituto Pestalozziano Militar in Madrid. Von Spanien ging's dann 1808 nach Basel – fünf Jahre lange unterrichtete er dort, durch Vermittlung Pestalozzis, an einer Privatschule, und im Herbst 1812 stellte er fest: »Mir ward menschlicher Besitzthümer keines, nicht Ahnen, nicht Gold, nicht Äcker – nur die Sprache. Die Worte sind mein Grund und Boden, die mir Brod, vielleicht gar Ehre ertragen soll. Nur für des Vaterlandes Worte kann ich wirken.«8
Nachdem Bayern im Oktober 1813 mit dem Vertrag von Ried der Koalition gegen Napoleon beigetreten war, meldete sich Schmeller freiwillig. Er kam, nachdem er im Januar in Rinnberg die Eltern wiedergesehen hatte9, im Februar 1814 zum Jägerbataillon des Illerkreises, hatte aber zumindest nach 1815 dort kaum mehr etwas zu tun. Dreißig Jahre alt war er schon, als er den »ganz in meinem Sinn Sprach forschenden Bibliothekar Scherer« kennenlernte10. Vor allem dieser Mann, der als Direktor der königlichen Hofbibliothek wirkte und auch als Buchhändler, Verleger und Schriftsteller tätig war, machte Schmeller immer wieder Mut, sich mit aller Kraft an die gründliche Erforschung der Dialekte Bayerns zu machen. Joseph von Scherer (1776–1829) war auch nicht ganz unschuldig daran, dass der hochbegabte, fleißige und begeisterte junge Philologe 1816 auf Antrag der Akademie der Wissenschaften vom Militärdienst beurlaubt wurde, um »an einem Wörterbuche der baierischen Mundart« arbeiten zu können11. In den folgenden Monaten durchwanderte Schmeller fast das gesamte Königreich, um intensive Sprachstudien zu betreiben. »Ich bin nun förmlich als WortKlauber ausgerufen«, schrieb er am 20. Mai 1816 in sein Tagebuch12.
Mit diesen Wanderungen begann die immer glänzender werdende Karriere des Dialektologen und Sprachwissenschaftlers Johann Andreas Schmeller. Die Mundarten Bayerns grammatisch dargestellt erschien 1821, zwei Jahre danach wurde er außerordentliches Mitglied der Akademie und 1826 Privatdozent an der Münchner Universität, die ihm im Jahr darauf die Ehrendoktorwürde zuerkannte und ihn fast zwei Jahrzehnte später – nach einigem Hin und Her – auf ihren Lehrstuhl für altdeutsche Sprache und Literatur berief. Schmeller wurde berühmt – schon als er im Januar 1824 nach Rinnberg kam, konnte er seinen alten Eltern zu deren goldener Hochzeit die Glückwünsche des Königs überbringen13. Über Universität und Akademie hinaus wirkte der Gelehrte, dem lebenslang wenig privates Glück zuteil wurde14, Jahrzehnte hindurch segensreich in der durch die Säkularisation gewaltig angewachsene Münchner Hofbibliothek, die 1843 ihren Neubau in der Ludwigstraße bezog15. Sein Ansehen beim Münchner Bürgertum wuchs Jahr um Jahr, selbst wenn wohl nicht jeder Schmellers aufgeklärte, liberale und patriotische Gesinnung teilte. Bei den Fachkollegen wuchs es ebenfalls: Sie wählten den »Begründer der wissenschaftlichen Dialektologie«16 beim ersten deutschen Germanistenkongress in Frankfurt 1846 zum Vorsitzenden der Sektion Sprache. Einstimmig – was in der Wissenschaft mehr heißen will als anderswo!
Am Ende seines Lebens, 1852, umfasste sein Schriftenverzeichnis mehr als hundertfünfzig Werke, keineswegs nur zur Mundartforschung. Ein großer Mann des 19. Jahrhunderts wurde er, der Sohn einfacher Leute aus Rinnberg! Sein Grab liegt unter den Arkaden des Alten Südlichen Friedhofs in München. Und siehe da: An manchen Herbstwochenenden herrscht auch dort »heavy southbound traffic«. Wie immer mal wieder am Holledau Triangle.
Anmerkungen
1 • Die Literatur über die Holledau ist reichhaltig. Eine erste, wenngleich nicht sehr profunde Orientierung vermittelt ein Werk von Petra Becker: Das große Hallertau-Buch. Hopfenland im Herzen Bayerns. Clenze 2008.
2 • Gerhard Matzig: Gebaute Utopie. In: Süddeutsche Zeitung, 19. August 2016, S. 10.
3 • »Der alte Schmeller war ein Techniker und ein Wiener aus der Vorstadt. Das schließt eigentlich schon alles ein, was über diese nicht sehr interessante Persönlichkeit im Einzelnen noch gesagt werden könnte.« Heimito von Doderer: Die Strudlhofstiege oder Melzer und die Tiefe der Jahre. Roman (1951). München 1995, S. 258. Vgl. dazu auch Klaus Nüchtern: Kontinent Doderer. Eine Durchquerung. München 2016, S. 333.
4 • Carl Amery: Auf d’Wahrheit muß’ herauslaufen, auf die sind wir vereidigt. In: Margot Lehner / Peter Laemmle (Hrsg.), Bayerisches Selbstverständnis – bayerische Perspektiven. Prominente im Gespräch mit Norbert Göttler. Eine Sendereihe des Bayerischen Rundfunks. München 1999. S. 79–86, hier S. 85.
5 • Johann Andreas Schmeller: Bayerisches Wörterbuch (1827 / 1837). 4 Bde. München 1985.
6 • Vgl. den Katalog dazu: Johann Andreas Schmeller 1785–1852. Gedächtnisausstellung zum 200. Geburtsjahr. Bearbeiter: Hermann Hauke, Reinhard Horn, Dieter Kudorfer und Karin Schneider. Redaktion: Dieter Kudorfer. München 1985. Siehe auch Waldemar Fromm / Stephan Kellner (Hrsg.) unter Mitarbeit von Laura Mokrohs: »Darf ich Ihnen meinen Wunschzettel mitteilen?«. Die Bayerische Staatsbibliothek in der Literatur. München 2014, bes. S. 34–37.
7 • Johann Andreas Schmeller: Tagebücher 1801–1852. Hrsg. von Paul Ruf. 2 Bände und Registerband (Schriftenreihe zur bayerischen Landesgeschichte 47, 48, 48a). München 1954/1957. Eine kommentierte, auch für Reisen oder Biergartenbesuche geeignete Taschenbuch-Auswahl aus den Tagebüchern haben Reinhard Bauer und Ursula Münchhoff zusammengestellt: »Lauter gemähte Wiesen für die Reaktion«. Die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts in den Tagebüchern Johann Andreas Schmellers. München / Zürich 1990. Hier S. 30.
8 • Ebd., S. 60.
9 • Ebd., S. 76–82.
10 • Johann Andreas Schmeller: Tagebücher 1801–1852 (s. Anm. 5). Band 1, S. 365.
11 • Katalog (s. Anm. 4), S. 20.
12 • »Lauter gemähte Wiesen für die Reaktion« (s. Anm. 7), S. 99.
13 • Ebd., S. 123.
14 • Katalog (s. Anm. 4), bes. S. 24 f.
15 • Näheres zu Schmellers Bibliotheksarbeit ebd., S. 155–204.
16 • Ebd., S. 43. Näheres über Schmellers Sprach- und Mundartforschung sowie über seine Beiträge zur Sprach- und Literaturgeschichte des Mittelalters ebd., S. 39–152. Vgl. auch Ingo Reiffenstein: Johann Andreas Schmeller und die heutige Dialektforschung. In: Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik 48, 1981, S. 289–298.