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Wenig Ludwig, noch weniger Adolf. Michael Appel über Revolution und Räterepublik

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1969 kam der Band Revolution und Räterepublik in München 1918/19 in Augenzeugenberichten heraus. Dessen Erzählstruktur hat der Historiker und BR-Regisseur Michael Appel fast fünfzig Jahre später neu belebt. Er arrangiert mit großem Geschick zahlreiche Stimmen von Zeitzeugen – und zwar, was nicht unbedingt üblich ist, Stimmen aus völlig unterschiedlichen politischen Lagern. Die Lebenszeugnisse und Schriften des bekanntermaßen revolutionär gesinnten Oskar Maria Graf, »eigentlich die Idealfigur eines Münchner Strizzis«, sind eine zentrale Quelle, die des konservativ-reaktionären Gymnasiallehrers und Publizisten Josef Hofmiller oder die des Geschichtsprofessors Karl Alexander von Müller sind es ebenfalls. »Alles ist aus der Sicht derjenigen erzählt, die diese Zeit gestalteten, auf sie läuft es zu, und das ist eine in der Geschichtswissenschaft eher ungewöhnliche Herangehensweise.« Wissenschaftler wie Max Weber oder Victor Klemperer werden zitiert, Schriftsteller wie Erich Mühsam, Ernst Toller, Rainer Maria Rilke oder Ricarda Huch, engagierte Frauen wie Lida Gustava Heymann oder Germaine Krull, der kenntnisreiche Jurist Philipp Loewenfeld, Politiker wie Kurt Eisner, Felix Fechenbach oder Ernst Niekisch, aber auch Maximilian von Brettreich, Ernst Müller-Meiningen und andere Vertreter der monarchistischen Ordnung. Nicht zuletzt der Münchner Bahnhofsvorstand Max Siegert, auch ein gewisser Krembs, Jagdgehilfe seiner Majestät. Der Autor entfaltet einen ungewöhnlichen Chor mehr oder minder »authentischer« Stimmen – wobei ihm bewusst ist, wie problematisch dieses »authentisch« sein kann. Er arrangiert nicht nur, er bewertet und deutet auch. Eine wissenschaftliche Studie ist das dennoch nicht. Sondern ein Lesebuch. Es liest sich flüssig und bietet allerhand.

Appel führt zunächst den Münchner Kriegsalltag sowie die rasante Zerstörung der gewohnten monarchisch-bürgerlichen Ordnung vor Augen. Seine Quelleninterpretationen sind oft treffend, bisweilen auch über Gebühr kühn: »Das Leben war, nach heutigem Begriff, eine radikale Hungerkur, und das jahrelang … das Erlebnis des ›Dotschnwinters‹ 1916/1917 war so traumatisch, dass die eigentlich schmackhafte Rübe das gesamte 20. Jahrhundert aus dem kulinarischen Orbit im Land verbannt blieb.« Seine Herangehensweise bewahrt ihn vor vorschnellen Einordnungen und Urteilen: »Die Zukunft war eine große, rätselhafte Glaskugel, in die alle blickten, ohne die Spur einer Gewissheit herauslesen zu können.«

Appel macht plausibel, dass und wie die Nöte und Ängste vieler Menschen zum Agens der Geschichte werden können. Die Regierung nahm die Friedenssehnsucht und Revolutionsstimmung im Lande durchaus wahr, blieb aber unentschlossen und zögerlich – Kurt Eisner hatte leichtes Spiel, als Redner in den Bierkellern ebenso wie am 7. November 1918. »Die Macht des Kriegsministers löst sich innerhalb weniger Stunden völlig friedlich und ohne ein Todesopfer auf. Um etwa acht Uhr abends ist klar, dass die Meuterei alle Kasernen erfasst hat.« Kurt Eisner konnte die Revolution politisch verankern, und König Ludwig III., im Volksmund »Millibauer« genannt, verließ die Hauptstadt in Richtung Chiemgau. »Eine Institution des alten Europa verschwindet. Doch was die hungernden Menschen in München empfinden, ist nicht der Untergang. Sie erleben das Neue, das Werden … Schilder mit der Aufschrift ›Hoflieferant‹ wurden noch in der Revolutionsnacht entfernt.«

Für Michael Appel fängt in dieser Nacht die bis heute nicht abgeschlossene Etablierung einer Zivilgesellschaft an – eine steile These, der man nicht zustimmen muss. Jedenfalls schildert er behutsam und umsichtig, immer auch mit Blick auf bayerische Provinzorte und auf die Reichshauptstadt Berlin, wie es weiterging bis zu den Landtagswahlen am 12. Januar 1919, die der USPD des Ministerpräsidenten lediglich 2,5 Prozent der Stimmen bescherten. Die Schüsse vom 21. Februar nennt Appel »eine Urkatastrophe«, die letztlich dazu geführt habe, aus dem Soldatenrat Adolf Hitler den Führer des deutschen Volkes zu machen. »Mit dem Mord an Eisner begann eine neue Zeit … ›Stabilität‹ wurde nach den Schüssen in München ein Fremdwort in der politischen Begriffswelt. Stattdessen machte das ›Durcheinander‹ als Codewort Karriere und wurde die am meisten benutzte politische Vokabel der Zeit.«

Das »Durcheinander« im Frühjahr 1919, die zweite Räterepublik und ihre Niederschlagung schildert der Autor detailliert und nachvollziehbar. »Die weißen Truppen waren nicht nur mit dem Kampf beschäftigt. Ihre Methode war der durch das Standrecht und den alle Übergriffe deckenden Schießbefehl erlaubte Mord. Die Schilderungen dieser Taten sind zahlreich.« Mit der Legende vom Freiheitskampf der bodenständigen oder gar königstreuen Bayern gegen Kommunisten, Spartakisten und Rote Armee räumt Appel gründlich auf; den Freikorps-Mythos entlarvt er als folkloristischen Fake.

Inwiefern allerdings Adolf Hitler als Spross von Revolution und Räterepublik gesehen werden kann, bleibt, anders als es der Untertitel des Buches suggeriert, weitgehend im Unklaren. Was, zumindest bis 1920, an der dürftigen Quellenlage liegt. Überhaupt führen Titel und Untertitel ein wenig in die Irre – weder Ludwig III. noch Adolf Hitler spielen entscheidende Rollen in dieser bemerkenswerten, methodisch ungewöhnlichen und öfter zum Widerspruch herausfordernden Studie. Im Chor der Jubiläumsneuerscheinungen zu Revolution und Räterepublik in Bayern wird sie ihren Platz behaupten.

Michael Appel: Die letzte Nacht der Monarchie. Wie Revolution und Räterepublik in München Adolf Hitler hervorbrachten. München 2018: dtv Verlagsgesellschaft. 384 S.

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