Читать книгу DIE HAVARIE - Klaus J. Hennig - Страница 8
VI
ОглавлениеTullius hatte inzwischen den einen oder anderen Ausdruck aus dem Salzwasserjargon aufgeschnappt, war aber, obschon amtlicherseits mit Seesachen befaßt, niemals selbst zur See gefahren. Auf seinem langen Marsch von Trier hatte er sich eine Zeitlang auf einem Rhonekahn mitnehmen lassen, wer würde einem alten Soldaten eine Bitte abschlagen, wenn noch Platz auf der Ruderbank war. Hatte aber einem ständig quasselnden Marseiller bald nicht mehr zuhören mögen, der ihm den Seeweg von seiner Heimatstadt nach Rom schmackhaft machen wollte. Lyon aber hatte ihm gefallen, erst eine Woche später nahm er den Weg in die Alpen unter seine Füße.
D. Aelius Tullius war der älteste Sohn des Verwalters einer der Aquilaeischen Ziegeleien am oberen Tiber, einige zehn Meilen nördlich der Hauptstadt. Dieser sein Erzeuger war als Jugendlicher eher pro forma an den altadeligen Senator M. Aelius Aquila verkauft worden, um auf Besitzungen des Aristos an eine Berufsausbildung und dadurch eines Tages zu der für seinen Freikauf nötigen Summe zu kommen. Er war etwa Mitte zwanzig, als er eine zur Aquilaeischen Klientel gehörige, etwas ältere Freigelassene von ihm schwanger wurde. Allen war klar, daß die aus dem Rätischen stammende Frau es genau darauf angelegt hatte. Tatsächlich wurde mit der erwarteten Freilassung des Ziegeleiverwalters auch seine Ehe mit der inzwischen Hochschwangeren legalisiert. So rutschte der bald darauf geborene Tullius als Nachkomme Freigelassener in den Genuß des römischen Bürgerrechts.
Den rasch folgenden Geschwistern war er ein kleiner Tyrann und heranwachsend zeigte er bei guter Intelligenz nur ein geringes Interesse an formaler Bildung. Jedoch lernte er Lesen, Schreiben und Rechnen, ohne daß es jemanden besonders aufgefallen wäre. Nur seine Neigung, einer Gruppe von Gleichaltrigen und Jüngeren ein Anführer zu sein, der auch vor Gewaltanwendung zur Durchsetzung seines Willens nicht zurückschreckte, blieb vor allem denen länger in Erinnerung, die die Tränen ihrer Sprößlinge abzuwischen hatten.
Eher wortkarg, neigte Tullius auch Älteren oder Erwachsenen gegenüber nicht zu Liebedienerei und Schmeicheleien. Strafen nahm er mit dumpfem Trotz hin, ohne seine Schuld zu bemänteln oder um Milde zu betteln. Nach einem guten Speerwurf, einem gelungenen Bogenschuß zeigte er sich auf eine Art stolz, die den Anderen ärgerlich war, orthographische Fehler in Mauerinschriften korrigierte er dagegen beiläufig mit einem Stück Rötel aus seiner Beuteltasche, in die er niemanden, auch nicht seinen Geschwistern, jemals Einblick erlaubte. Unter den Kindern auf der Ziegelei kursierten sonderbare Gerüchte deswegen. Er stahl nicht und gab Fundsachen an ihre Besitzer zurück, wobei es allerdings vorkommen konnte, daß er bei einer solchen Gelegenheit um deren Überlassung bat. Auch bot er Bezahlung an, wenn er besonderen Gefallen an einem Gegenstand gefunden hatte, wobei es oft unklar blieb, was ihn daran so reizte. Bei einem guten Messer war das keine Frage, so etwas ist für einen Jungen immer von hohem Wert, aber was mochte es bei einer kleinen Bronzeschnalle von einem Pferdezaum sein, bei einem Streifen Leder?
Etwas Geld hatte er fast immer, auch da wußte niemand woher es kam. Manche seiner Altersgenossen waren schon hartherzige Händler, die es verstanden, ihre kleinen Profite aus allem zu schlagen, was durch ihre schmutzigen Hände ging, Gewinnanteile auf ausgeliehene Spielsteine zu berechnen und Schweigegelder für zu wahrende Geheimnisse ihrer Freunde zu verlangen. Tullius war ein verläßlicher Zeuge und Buchhalter für derlei Transaktionen, nicht wucherisch, auch nicht käuflich. Er war nicht sonderlich beliebt, jedoch kein Außenseiter, er schien mit der Zeit eher in die Breite als in die Höhe zu wachsen und hatte bald keine Schlägereien mehr, weil sich niemand mehr darauf einließ. Sein einziger engerer Freund Armanus, der Sohn eines der Ziegeleisklaven, war ihm mehr ein zu behütender Gefährte. Auch schätzte Tullius das warmherzige Miteinander in dessen Familie, in das er sich vor dem immerwährenden Keifen seiner durch die vielen Geburten ausgelaugten Mutter gerne flüchtete.
Die Aquilaeischen Ziegeleien hatten gut zu tun in den Jahren des späten Augustus, flußabwärts in Rom bauten sie, als ob ihnen das Geld niemals ausgehen würde. Unter den Tiberschiffern waren auffällig viele Judäer, kräftige Kerle mit seltsamer Sprache und seltsamen Frisuren, die gerne unter sich blieben. Ihr Latein klang wie eine Halskrankheit und an einem Tag in der Woche arbeiteten sie nicht. Dann machten sie nicht einmal Feuer, um sich das Essen zu wärmen, auch durften sie bei weitem nicht alles essen, was gut schmeckte. Sie waren keine Sklaven, schienen Tullius dennoch irgendwem zu gehören, einem der sie sich erwählt hatte vor langem. Ihre nicht unfreundlichen Erklärungsversuche für ihr Anderssein verstand er nicht recht, es ging um irgendein Gesetz ihres Tempels, aber der war offenbar sehr weit weg.
Als er seinem Vater kräftig genug schien, stellte der ihn an die Ziegelformen, wo er bis zu seinem siebzehnten Geburtstag blieb und, weder faul noch fleißig, den Tagessatz von zweihundertzwanzig Stück bald erfüllte. Er achtete darauf, ihn nicht zu überbieten, wurde dennoch bei seinen Kollegen nicht beliebter. Zeigte sich auch desinteressiert an kleineren Ämtern, Strichlisten zu führen oder Kollegen zu kontrollieren, obwohl es dafür einiges Geld gegeben hätte. Er wollte nicht seines Vaters Zuträger werden, doch half es ihm nicht; er blieb der Sohn des Verwalters.
Niemand war daher sonderlich erstaunt, als er sich zum Militär meldete, einigermaßen volljährig und im Besitz der Bürgerrechte, in die er eben noch rechtzeitig hinein geboren worden war. Er war dann zu einer der regulären Legionen im hintersten Gallien oder Germanien gekommen, mit zweihundertfünfundzwanzig Denaren Grundsold im Jahr, nicht gerechnet die Abzüge oder die Zulagen, für Sohlennägel zum Beispiel. Zwanzig Jahre Dienst bis zum Entlassungsgeld. Den Prätorianern, die immerhin siebenhundertfünfzig einsackten, war er nicht hoch genug gewachsen, der Patron hatte da schon im Vorfeld abgewinkt, und den höheren Sold hätten die Wucherpreise der Hauptstadt sowieso wieder aufgefressen. Wenigstens war er, dem Aquila sei Dank, der Alte hatte wirklich Beziehungen, nicht bei der Flotte gelandet, wo einer für deutlich geringeren Sold noch fünf Jahre länger zu dienen hatte. Und jeden Tag einen nassen Arsch. Unter griechischen Offizieren und auf Gewässern, von deren Farbe es hieß, daß sie nicht blau, sondern so grau sei wie das Blei der Wasserleitungen. Im Winter mit Eis bedeckt.
So kam es dann auch. Die Flüsse Mosel und Rhein strömten, wirbelten in stumpfem Graubraun, im alljährlichen Hochwasser lehmgelb, und das Meer im Norden konnte nur ein Verrückter oder ein friesischer Gott erschaffen haben – es atmete! Zweimal täglich verschwand es hinter den Horizont und kam doch immer wieder, als atmete es tief ein und aus.
Viele Jahre später, schon in Ostia, sollte er einen Reisebericht darüber lesen, der ihm Tränen in die Augen drückte, ihm ein Heimweh nach diesem verschissenen Land machte, nach diesen silberblonden, heftigen Weibern oder vielleicht auch nur nach seiner eigenen, längst vergangenen Jugend. Geschrieben hatte ihn der zweite Plinius, der jüngere.
»Nach Norden bekamen wir auch der Chauken Völkerschaften zu sehen. Dort setzt sich in endloser Ausdehnung der Ocean in Bewegung, den ewigen Streit der Natur in seinem Schoße bergend, und man zweifelt, ob man auf dem Lande ist oder auf Meeresboden. Da wohnen denn die bedauernswerten Menschen auf hohen Erdhügeln oder vielmehr von Menschenhand bis zur Höhe der höchsten Flut aufgetürmten Dämmen, auf die sie dann ihre Hütten gesetzt haben, wenn das Wasser alles bedeckt, Schiffenden ähnlich, wenn es gewichen ist, Schiffbrüchigen, und machen um ihre Katen her Jagd auf die mit der Meeresflut flüchtenden Fische. Ein Stück Vieh zu haben, sich von Milch zu nähren wie ihre Nachbarn, ja mit Tieren zu kämpfen, das Glück wird ihnen nicht zu Teil, denn da ist jeglicher Strauch verbannt. Von Schilf und Moorbinsen flechten sie Stricke, um Netze für den Fang der Fische zu wirken, und mit den Händen aufgefangenen Schlamm mehr am Wind als an der Sonne trocknend, kochen sie mit Erde ihre Speisen und wärmen den vom Nordwind starrenden Magen. Zu trinken haben sie nichts als im Vorhof in Gruben aufgefangenes Regenwasser. Und solch ein Volk mag noch, wenn es heut von den Römern besiegt wird, von Knechtschaft sprechen! Jawohl, es gibt Völker, die das Schicksal zu seiner Strafe verschont.«
Von zwei Sommerexpeditionen her kannte Tullius Friesland und wußte, das Plinius mit seinen Chauken, die wohl noch hinter dem Elbfluß lebten, eigentlich kein anderes Volk beschrieben hatte. An langen Marschtagen hatten die Friesenmädchen die geilsten Phantasien der Legionäre genährt, mit ihren wehenden Silbermähnen, ihrer sorglosen Kleidung. Ihre Augensprache war deutlich, diese dunklen Kerle machten sie unruhig, aber immer war es nur bei Blicken und heimlichen Gesten geblieben. Es mußte ein furchtbares Gesetz sein, das über ihrem Leben hing. Die Männer wurden erst wieder ruhiger, wenn sie sich das Leben an dieser Küste zu Winterzeiten ausmalten. Da blieb man lieber tief im Lande und nährte sich reichlich, schon die normale Truppenverpflegung schlug den Ziegeleifraß seiner frühen Jahre um Längen. Und man kaufte dazu, damit es nicht bei Brot und Speck, Linsen, Kohl und Erbsen, Käse und Wein blieb. An der Mosel machten sie Gepökeltes und Würste, Schwartenmagen und Schmortöpfe, die ihm, wie einem alten Köter, noch jetzt die Zähne naß machten, wenn er nur daran dachte. Fisch, Muscheln, an Feiertagen Austern, die Händler lieferten. Wann hätten sie einmal kein Garum gehabt? Im Winter, und in der Eifel hatten sie Winter, die diesen Namen auch verdienten, gab es das Geschmorte von fetten Siebenschläfern, die in ihren Waldnestern eigentlich bis zum Frühling durchschlafen wollten. Mit Knoblauch, Zwiebeln und eingelegten Oliven, es konnte auch einmal Kohl sein; die Tontöpfe kamen in den Ofen, wenn das Brot heraus war, und blieben dort über Nacht.
Schließlich brachte man Geld unter die Leute, wie sollten sie denn sonst daran kommen? Die saßen doch auf ihren Höfen und was sie brauchten, fertigten sie selbst an. Außer Geld natürlich. Lohnarbeit für ein paar Asse gab es allenfalls in einer Stadt oder im Transportgewerbe auf dem Fluß. War aber selten, denn Sklaven gab es auch hier. Der Soldat hatte bares Geld, nicht soviel wie ein Kaufmann, aber ein Legionär konnte auch nicht pleite gehen. Ins Grab ja, manchmal sogar früher als andere, aber pleite? Alte Soldaten, die sich kein Land kaufen wollten, verliehen ganz gerne mal ein paar Sesterzen, um sie später als Denare zurück zu bekommen. Stieß einem etwas zu, dann trieb immer noch der Zahlmeister die Außenstände aus den kleinen Kreditgeschäften ein und verfuhr damit nach dem Testament, das der schon unter dem Rasen Liegende auf der Schreibstube hinterlegt hatte. In einer Legion herrschte schließlich Ordnung.
Auch die Legion gab Geld aus, hielt eine Menge Gewerbe am Leben. Die Steinmetze für die Grabmäler fanden immer auch Arbeit auf den Baustellen des Militärs. Die Vertragshändler für Verpflegung, Pferdefutter, die Pferdehändler, die Schmiede, die Gerber, die Zeltmacher - der Legionär konnte eine Menge selber machen im Lager, aber eben nicht alles. Unter Claudius wurden dann die feuergefährlichen Werkstätten außerhalb des Lagers angesiedelt, in diesen Budendörfern sammelte sich eine Menge Volks.
Außerdem - wer war man denn? Dreihundert Denare, weiß Gott nicht alles Silber der Welt, waren einem aber sicher. Alles bekam man nicht auf die Hand, die Legion behielt einiges ein davon, für die Verpflegung, für die Rücklagen nach der Entlassung oder für eine ordentliche Bestattung. Dagegen standen die Zulagen, für Salz, für Sohlennägel, für die Feiertagsmahlzeiten. Geldgeschenke, wenn dem Kaiser ein Sohn geboren wurde oder er irgend ein Jubiläum feierte. Die Sonderzahlungen für eine kämpfende Legion gab es jetzt schon für die Kaisermanöver, denn an einen anständigen Feldzug war kaum noch zu denken, und es gab sie abzugslos auf die Hand, man konnte sogar Kredit darauf bekommen.
Tullius' Frau, rothaarig und nicht gerade mager, war keine Städtische aus Mainz, wo er sie aufgegabelt hatte. Oder sie ihn? Jedenfalls hatte sie ihn öfter einmal aus der Kneipe, in der sie bediente, auf ihre Stube mitgenommen, die Mitbewohnerin verschwand dann immer ganz still, und sie hatte eingewilligt, als er ihr eine andere Bleibe zu mieten anbot, in der sie ihm dann außerhalb des Lagers die Küche machte, wie das in den Baracken hieß.
Als er sich schließlich das Entlassungsgeld holen konnte, fragten sie ihn, ob er auch sein Testament wiederhaben wolle. Er nahm es und warf es abends ins Feuer, seit einigen Jahren schon hatte ihm niemand sagen können oder wollen, wo die darin Bedachten abgeblieben waren. Der Junge, rothaarig wie die Mutter, mußte inzwischen acht oder neun sein. Er war noch nicht wasserdicht gewesen, als er ihn zum letzten Mal auf dem Arm hatte. Die Stube war aufgeräumt, blitzsauber wie immer, und die Nachbarin hatte ihm auszurichten gehabt, daß sie nicht wiederkämen. Und daß er nicht auf die Idee kommen sollte, nach ihnen zu suchen. Mehr wüßte sie nicht, hatte die Nachbarin gesagt. Weiteres war nicht zu erfahren, und diese rothaarigen Keltinnen verstanden sich auf allerhand, nur nicht aufs Schreiben. Das war ihnen sogar von ihren Priestern verboten.
Tullius hatte sich auch noch sein Sterbegeld aushändigen lassen. Er war jetzt an die Vierzig, und niemand würde ihn hier an der Mosel auch nur einen Tag länger als nötig sehen. Noch einmal zehn Jahre dranhängen, selbst bei dann dreifachem Sold? Mit den Huren in Trier oder Koblenz, Mainz? In diesen Wintern? Er war schon jetzt kein ganz armer Mann mehr. Die Keltische hatte ihm bestellen lassen, sie ginge dorthin, wo sie hingehörte, und genau das schien ihm nun auch für ihn selbst das Richtige. Er hatte ihr in all den Jahren das Sagen gelassen, auch über ihn, jedenfalls in den häuslichen Angelegenheiten. Was sie für selbstverständlich gehalten hatte. Mit dieser Miene weiblicher Mißbilligung für die törichten Spiele der Männer, die er schon von seiner Mutter, sogar von seinen kleinen Schwestern her kannte. Ob das eine Art Eifersucht war? Weil ihnen irgend etwas fehlte, so wie sie ja auch nicht im Stehen pissen konnten?
Jedenfalls hatte sie auf den Tag seiner Entlassung, an dem er es legal machen wollte, die Ehe und das römische Bürgerrecht für die beiden keltischen Feuerköpfe, nicht mehr zuwarten wollen. Nun war dieser Tag da, und Tullius fühlte sich wie ein vor die Tür getretener, alter Köter. Ob sie auch schon grau wurde? Vor sechs Jahren noch war sie eine brennende Scheune gewesen, in jeder Hinsicht.
Es war ein grauer, windiger Morgen als Tullius seinen Sack geschnürt und sich auf den Weg gemacht hatte. Das für die Reise ausgewürfelte Orakel war weder gut noch schlecht.
»Wende nicht jeden Stein um, damit du nicht auf einen Skorpion triffst«.
Er hatte die fünf Knochen in den Reisesack gesteckt und würde sie so schnell nicht wieder benutzen. Skorpione in der Eifel! Noch hatte er alle unter der Mütze! Dieser Galgenvogel hinter seinem Markstand hatte wissen wollen, warum er unbedingt auf den Glückswürfeln aus den Hinterläufen der Ziege bestanden hatte, vom Schaf seien sie zwar auch nicht billiger, aber er hätte da noch welche vom Schwein, und für den Gallier sei doch gerade das Schwein... Wortlos hatte ihm Tullius das Geld hinübergeschoben. Noch niemals hatte er eine Ziege einen Fehltritt machen sehen und sie waren die waghalsigsten Kletterer von allen. Aber was verstand dieser Marktschreier davon? Er, Tullius, wußte jedenfalls, wo es Skorpione gab. Da wo er jetzt hingehen wollte.
Viele Tage auf guten Straßen, so wie auch er sie mit seinen Männern gebaut hatte. Allein, mit wechselnden Gefährten, den Wind fast immer von rechts. Das lange Gehen schreckte ihn nicht, obschon Gewaltmärsche seit Jahren nicht mehr von ihm verlangt worden waren. Der zweite Tag war immer der schwerste wie er wußte, aber auch wußte, wie dem Rechnung zu tragen war, mit längeren Pausen und weniger Meilen. Er opferte den drei Matronen am Weg, wie das die Keltische auch immer gehalten hatte, und irgendwann gab es keine Matronen mehr, da begannen die Leute anders zu sprechen, akzeptierten immerhin sein Soldatenlatein. Der Wind kam nun öfter aus anderen Richtungen, auch wurde es wärmer.
Kultivierte Ackerflächen drängten den Wald auf die Höhen zurück, an den Bäumen in den Tälern hing Obst. Zwischen den Baumreihen kein Unterholz. Nicht schlecht für die Kavallerie. Abgesessen konnte man sich in Bereitschaft halten und ungehindert, schon im Galopp, aus der Deckung solcher Plantagen hervorbrechen. Überraschung war der halbe Sieg. Auf sanft abfallenden Feldern stellte er seine Kohorten in Schlachtordnung auf, mit der Sonne im Rücken, und vor einer senkrecht aufsteigenden Felswand sah er den idealen Platz für ein Legionslager. Sie ersparte auf der Länge einer ganzen Seite die Arbeit an Wall und Graben, bis ihm einfiel, wie leicht von da oben anzugreifen war mit Steinen und Feuer, Pfeil und Wurfspeer. Weitergehend erteilte er sich einen mittelschweren Verweis, Beförderungssperre nicht unter sechs Monaten.
Seinem Jungen hätte er jetzt allerhand beibringen können: Bogenschießen, Speerwurf, auch wie man einen Stärkeren von den Füßen holt. So was braucht jeder Junge. Sah ja seiner Mutter verrückt ähnlich, nicht nur die Haare. Die Sommersprossen, Augen, Wimpern, Hände, alles. Als ob sie ihn ganz selbst, allein aus sich heraus gezeugt hätte. Eigenen Anteil konnte er nicht erkennen an ihm, niemand hatte das vermocht, obwohl er ihm doch zu guter Letzt noch die Ohren gesäumt hatte. Da war sie schon hoch im neunten Monat, einen Bauch wie eine Kuh, die nassen Klee gefressen hatte, aber geil wie eine rossige Stute. Er hatte dumm geglotzt, als sie ihm damit gekommen war: Na los, jetzt werden die Ohren umsäumt! Wie? Sie hatte in ihr rotes Dickicht gegriffen und ein Ohr freigelegt - ob er blind sei? Diesen Außenrand da am Ohr, den Saum, den hätte doch fast jeder, sogar er. Könne man doch fühlen. Und der Kleine sollte so was nicht haben, mit platten Ohren herumlaufen, daß alle über ihn lachten?
Er hatte gemeint, sich in den letzten Wochen vor der Geburt einen Knoten in den Pimmel machen zu müssen, aber diese Rothaarigen... Schließlich hatte er es ihr von hinten gemacht, mit vorsichtigen kleinen Stößen, so wie man möglicherweise Säume umnähte. Ihren Riesenbauch dabei vorsichtig festgehalten, und, als es ihr kam, Angst gehabt, daß es schon die Wehen sein könnten. Einer der seltenen Ficks, die man niemals vergißt. Zwei Tage danach, er hatte im Lager die Nachtwachen kommandiert, ließen ihn die Weiber morgens nicht in die Stube. Er solle oben im Lager schlafen und frühestens nach drei, vier Tagen wiederkommen, dann könne er ja sehen, was er angerichtet hatte vor einem dreiviertel Jahr. Einzelheiten, ob Junge oder Mädchen - etwa Zwillinge? - waren Frau und Kind gesund, erfuhr er natürlich nicht. Diese Hebammen hatten es mächtig mit ihren keltischen Druiden. Nach denen lebten die Geister der Ungeborenen im Wasser, noch Tage nach der Niederkunft brauchte die Wöchnerin und das Neugeborene magischen Schutz vor Mächten, von denen er keine Ahnung hätte, den nur sie bieten konnten. Bescheuerte Weiber.
Schon Tage vor Rom war er kaum noch allein auf der Straße gewesen. Reise- und Lastwagen, Mulis oder Ochsen davor, Reiter und Fußgänger wie er. Immer öfter hatte es einen gegeben, der seinen Schritt eine Zeitlang mithalten konnte, aber zu längeren Gesprächen war es nur mit denen gekommen, die ihren Marschschritt in einer Legion gelernt hatten. In aller Regel waren sie dann auch keine Grünschnäbel mehr und hatten etwas von der Welt gesehen. Wie er schließlich auch.
In Rom hatten sie ihn dann etwas mitleidig angesehen, als er sich nach einer Straße nach Ostia erkundigte. Dorthin fahre man besser auf einem Tiberkahn, flußabwärts wären sie fast immer leer, und mit den Schiffern sei zu handeln.
Auf dem Vordeck sitzend, den Reisesack neben seinen Füßen, atmete er leichter, als er diese Häuser- und Menschenmassen hinter sich zurückbleiben und nach einigen Flußbiegungen endgültig verschwinden sah. Die Schiffsleute hatten wenig Arbeit stromabwärts. Zwei setzten sich zu ihm, neugierig, auch ihr Wein war nicht schlecht. Judäer, sprachen untereinander anders als die, die er in Trier gekannt hatte. Harte Schwielenhände. Die Halskrankheit – Tullius probierte eine fast vergessene Begrüßung und löste Freude aus. Sie kannten die Aquilaeischen Ziegeleien, doch von Ostia kaum mehr als die Piers, die Lagerhäuser und ihren Tempel vor der Stadtmauer an der Küste. Die Villa eines Aelius Aquila kannten sie nicht. Den Sommerpalast des Claudius natürlich, der war ja groß genug, aber von diesem Kaiser hielten sie immer noch nichts. Zu rüde sei der mit ihnen umgesprungen, nicht bösartig, nein, nur meschugge sei er gewesen, meinte der andere. Er habe nicht mit sich reden lassen wollen, damals, vor zwölf, dreizehn Jahren, als er alle unsere Leute aus der Stadt treiben ließ. Schuld daran waren natürlich wieder die Griechen, Gott soll sie strafen, aber wer habe es wieder ausbaden müssen? Sollte man es sich etwa gefallen lassen, daß sie einem Schweineohren an die Synagogentüren nagelten?
Tullius wollte weder wissen, was den Griechen daraufhin passiert war, noch, worüber der Kaiser nicht mit sich reden ließ. Claudius war seit sechs Jahren tot, die Rede war von einem Pilzgericht, und Tullius hoffte sehr, daß sein Senator noch am Leben war, über den in Rom eine Auskunft zu bekommen sich so unerwartet schwierig gezeigt hatte. Das Aquilaeische Stadtpalais, als er es endlich gefunden hatte, war schon vor Jahren verkauft worden, öffentlich versteigert, wie ein älterer Sklave wissen wollte, der ihm nach längerem Klopfen die Tür einen Fußbreit geöffnet hatte. Er sei damals mit einigen anderen Haussklaven vom neuen Besitzer übernommen worden, der junge Senator habe jedoch nicht verhindern können, daß viele von ihnen in andere Häuser gelangten, der junge Herr habe andere Sorgen gehabt damals, aus dem Senat und den Ämtern auszuscheiden, das sei eben nicht so einfach wie einen Becher Wasser auszugießen. Ja gewiß, den jungen Aquila meine er, den Lucius Aelius Aquila, die alten Herrschaften waren da ja schon lange tot, nein, keine Ahnung, wo der junge Herr sich jetzt aufhielte. Tullius hatte sich nach diesem Gespräch zu erinnern versucht - sein Vater war, wie man auf der Ziegelei immer gewußt haben wollte, an dem Tag freigelassen worden, an dem der junge Aquila zu seinem achtzehnten Geburtstag die Toga virilis nahm; alle hatten sie das zu feiern gehabt. Er war noch nicht geboren damals, habe seiner Mutter aber schon bösartig in die Kaldaunen getreten, von innen. Also war der junge Herr heute an die Sechzig und möglicherweise noch am Leben.
Vor der Kurie hatte er nach längerem Zögern einen der blasierten Bürohengste angesprochen, die dort im Schatten zwischen den Säulen herumlungerten, und im Handumdrehen war unter den Senatsschreibern ein Streit aufgekommen. Eine Mehrzahl war der Meinung, daß, logischerweise, der jüngere Aquila damals nach seinem Abgang hier vom Forum auf Dauer nach Bajae übersiedelt sein müßte, die Nähe zu seinem Landgut in Campanien sei zweifellos das beste Argument dafür. Von irgendwelchen Ziegeleien am oberen Tiber hatte niemand etwas gehört.
Die Prätorianer der Senatswache, sehr erhaben über den Zank von Schreibersklaven, hatten sich an ihren Spießen festgehalten und ihre Blicke über das Gewimmel auf dem alten Versammlungsplatz mit der Rednertribüne hinweg auf die julianische Basilika, auf Saturns und Concordias Tempel gerichtet. Sie schienen im Stehen zu schlafen, mit offenen Augen wie die Hasen. Tullius konnte das auch, hatte es vor vielen Jahren gelernt.
Ein Älterer winkte ihn, als er gehen wollte, zu sich heran. An dem angeblichen Bankrott des Aelius Aquila sei seinerzeit etwas faul gewesen; das kam halblaut aus dem Mundwinkel. Eine Handvoll Senatoren wären damals wegen offen erklärter Mittellosigkeit aus dem Senat ausgeschieden, vom Kaiser auf das Höchste belobt deshalb, und einige mehr habe Claudius wütend rausgeschmissen, weil die ihre Pleiten zu verheimlichen gesucht hatten. Allerdings - im Fall des Aquila seien damals sonderbare Gerüchte aufgekommen, der allzu hastigen Versteigerung seines Stadthauses wegen. Weit unter Wert sei es weggegangen. Irgend etwas sei faul daran gewesen, mehr könne er nicht sagen. Ihm, einem altem Soldaten - ja, ja, dafür habe man einen Blick - würde er gewiß nichts verheimlichen, wenn er verdammt nur mehr darüber wüßte! In der City herumzufragen, hielte er allerdings, schließlich Römer von Geburt, für völlig aussichtslos; da müsse einer schon selber Bankier sein und selbst dann ... Auch an die alten Aristos käme niemand heran, schon gar nicht mit derartigen Fragen nach dem Verbleib eines der ihren, zu viele schon seien über den Styx gegangen, die sähen in jedem einen Spitzel des ... Er unterbrach sich mit einem bedeutungsvollen Blick auf das Tabularium, das alte, hoch hinter dem Concordia Tempel aufragende Archivgebäude. In Rom jedenfalls höre man den Namen Aquila schon lange nicht mehr. Aber, der Graukopf winkte ihn näher zu sich, um seine Stimme noch weiter senken zu können, also wenn einer wirklich zu verschwinden beabsichtige aus Rom, und er betone ausdrücklich das Wort verschwinden, dann ginge so einer doch niemals nach Bajae, wo im Sommer nun wirklich alles herumvögelte, was in Rom einen Namen zu haben glaubte. Worauf er hinaus wolle sei dies: Claudius, ein guter Kaiser, und das meine nicht nur er, da er sei sich mit seinen Kameraden einig, also der Claudius habe seinerzeit ein heftiges Faible für Ostia gezeigt, nicht nur des neuen Hafens wegen, mit dem er gewissermaßen den Plan des großen Caesar zu vollenden trachtete. Ein anzügliches Zwinkern, das Tullius eindeutig nicht auf den großen Cäsar bezog. Das war vertrauter Boden, im Gegensatz zu dem beunruhigenden, nur mimisch erfolgten Hinweis auf das Tabulariumsgebäude. Jedenfalls sei er selbst, so wahr er hier noch Wache schöbe, in seinem Alter und mit diesen Rückenschmerzen, sei er damals zu einer der Personenschutzkohorten detachiert gewesen und habe in Claudius' Gefolge den Weg nach Ostia ein gutes Dutzendmal unter den Füßen gehabt, und damals sei anfänglich auch der jüngere Aquila, der da jedenfalls mit dem Kaiser auf freundschaftlichem Fuß gestanden hatte, wie man so sagt, und der da auch selbst irgend etwas laufen gehabt hatte, geschäftlich vielleicht oder auch so etwas wie der Kaiser, wer weiß, der jüngere Aquila sei jedenfalls damals des öfteren ganz gerne dabeigewesen. Wenn er selbst also, aus welchen Gründen auch immer, nach dem jüngeren Aquila zu suchen hätte, er würde damit in Ostia anfangen und nirgendwo anders. Dann war er wieder zur Statue eines alten Prätorianers geworden, die er vorher auch schon gewesen, erhaben, blicklos und stumm.
Am linken Ufer wurde eine Nekropole sichtbar, dann eine gut befestigte, massiv aufgeführte Toranlage mit einem Aquädukt dahinter - Ostia. Auf den Kais wimmelte es wie in einem Ameisenhaufen auf dem der Specht hockt. Rechts vom Tiber Claudius' neuer Hafen, weitläufig in flaches Land gelegt und kaum ausreichend Schutz vor einem plötzlichen Seesturm zeigend. Die Masten standen dicht wie Waldbäume, Tullius sah kaum Himmelsblau zwischen ihnen. Wie Arme bogen sich die neuen Molen zu dem stufigen Turm hinaus, auf dessen oberster Plattform nachts das Feuer brannte. Leicht hinkend, ging er steifbeinig durch die fuchtelnden, zeternden Orientalen über die Piers. Doppelstreifen aus der Feuerwehrkaserne standen an jeder Ecke, Speer und Schild eng am Körper, den Blick auf niemand gerichtet. Seinem Auge waren sie wohlgefällig, es war dies auch sein Leben gewesen, in ihnen fand er sich wieder. Doch war es an der Mosel ruhiger zugegangen, gemessener, dort wußten sie, was sie an ihren Römern hatten, benahmen sich entsprechend. Nicht alle natürlich. Aber hier? Floß durch dieses Ostia noch der Tiber, nicht schon der Orontes?