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Die Entdeckung der Massenseele für die Propaganda Massenpsychologie: Le Bon
ОглавлениеUm den Ausschluss aus der Demokratie zu legitimieren, wurde der Bevölkerung, den »Massen«, vor allem jede Rationalität und Verantwortungsbereitschaft abgesprochen, weshalb sie unfähig zu einer Führungsposition seien. So werden die Elitenherrschaft und die Notwendigkeit der Führung und Kontrolle der Massen gerechtfertigt. Zugleich konnte man aufzeigen, dass und wie die Massen in aktuellen Zusammenschlüssen tatsächlich emotional aufgeheizt werden können und dadurch manipulierbar sind – etwas, was man ihnen wiederum zum Vorwurf macht. Das geht so weit, dass man sie zum Beispiel für den Faschismus verantwortlich gemacht hat.
Solcherart Psychologie über die Massen gab es sozusagen immer, wo es Klassengesellschaften und entsprechend auch Unruhen und Aufstände gegeben hat, so zum Beispiel bereits in der Elitendemokratie des antiken Griechenland.
Für unsere Zeit war aber vor allem Gustav Le Bons berühmte Schrift Psychologie der Massen (Originaltitel: Psychologie des foules) von 1895 maßgebend, neben den Veröffentlichungen anderer Autoren aus Frankreich und Italien. Die »Massenpsychologie« war natürlich im Nachgang der Französischen Revolution, dann der späteren revolutionären Bewegungen in Frankreich 1848 oder im Aufstand der Pariser Kommune 1871 als Warnung vor dem »Mob« und vor dem Sozialismus zu verstehen. Auch sah man angesichts der aufstrebenden Industrialisierung bereits zu dieser Zeit die Epoche der Masse bedrohlich heraufziehen. Die Massen in der Massensituation seien, so bei Le Bon, vom Irrationalen und Suggestiven beherrscht, reaktiv, leichtgläubig und leicht zu beeinflussen. Masse wird klinisch und kriminologisch beschrieben, sie steht »unter dem Einfluss des Hypnotiseurs«. »Da das Verstandesleben des Hypnotisierten lahmgelegt ist, wird er der Sklave seiner unbewussten Kräfte, die der Hypnotiseur nach seinem Belieben lenkt« (Le Bon 1895/1953, S. 18). Die Massen seien vom Unbewussten und Triebhaften beherrscht (ebd., S. 15), ihre Gefühle seien einfach und überschwänglich (ebd., S. 35). In ihrer »Umformung zu Masse besitzen« die Individuen »eine Art Gemeinschaftsseele« (ebd., S. 13), »in der Gemeinschaftsseele verwischen sich die Verstandesfähigkeiten und damit auch die Persönlichkeit der Einzelnen« (ebd., S. 15 f.). »Der Einzelne ist nicht mehr er selbst, er ist ein Automat geworden, dessen Betrieb sein Wille nicht mehr in der Gewalt hat« (ebd., S. 19).
Unglücklicherweise hat sich Sigmund Freud 1921 dieser Massentheorie von Le Bon angeschlossen – und somit lebt sie auch heute in der Psychoanalyse fort. Hintergrund bei Freud sind sowohl die Arbeiterbewegung im sozialdemokratischen »Roten Wien« als auch die Massen des italienischen Faschismus. Beidem stand er skeptisch gegenüber.
Freud zitiert ausführlich und stets zustimmend Le Bon. Er spricht mit Le Bon von der
Massenseele [als] dem Seelenleben der Primitiven und der Kinder. […] Die Masse ist impulsiv, wandelbar und reizbar. Sie wird fast ausschließlich vom Unbewussten geleitet […]. Nichts ist bei ihr vorbedacht. (Freud, 1921/1999, S. 82)
In der Masse schränken die Individuen ihre »narzisstische Eigenliebe« ein, sie benehmen sich so, »als wären sie gleichförmig, dulden sie die Eigenart des anderen« (ebd., S. 112 f.). Das zeige, dass »das Wesen der Massenbildung in neuartigen libidinösen Bindungen der Massenmitglieder aneinander besteht« (ebd., S. 113), die Individuen regredieren und identifizieren sich miteinander und mit dem Führer gleichzeitig (vgl. ebd., S. 118). Massen seien so über Identifizierung in doppelter Art Bindung gefangen, die Bindung an den Führer und Bindung untereinander. Die affektiven Bindungen würden »den Mangel an Selbstständigkeit und Initiative beim Einzelnen« erklären (ebd., S. 129).
Die linken, kulturkritischen Intellektuellen, aus den Kreisen der kritischen Theorie (Adorno, Horkheimer, Marcuse) hatten sich positiv auf Freuds Massenpsychologie bezogen. Ihr Bezugspunkt waren die tatsächlich emotionalisierten und manipulierten faschistischen Massen (vgl. dazu kritisch Bussemer 2005, S. 92–100). Auch heute ist diese Theorie mit Abstrichen noch innerhalb der Psychoanalyse anerkannt.
Diese Massentheorien – von Le Bon, Freud und auch die des Spaniers José Ortega y Gasset (1930) – drücken die Massenfeindlichkeit des Bürgers, des Intellektuellen aus, sie sind eine elitäre, Herrschaft legitimierende Beschreibung der vermeintlich regressiven und einfältigen Massen. Kritik an Massenpsychologie wendet sich auch gegen die Gleichsetzung von Massen mit unteren Klassen und Gleichsetzung von Massenaufmärschen mit Regression. Letztlich geht es um das Ressentiment gegen untere Klassen und um die Angst davor, dass Massen eigene Meinungen haben oder gar sich durchsetzen wollen, dass also aus der Illusion von Demokratie eine Volksherrschaft würde und die Gedanken der Herrschenden nicht mehr die der Beherrschten wären. Diese Haltung spielt heute zum Beispiel auch in der Ablehnung der direkten Demokratie eine wichtige argumentative Rolle.
Manipulative, emotionale Propaganda aller Art und Inhalte im Sinne der Weckung neuer Bedürfnisse, die Schaffung von Feindbildern, das Schüren von Ängsten oder patriotischen Stimmungen gehören aber zu den täglichen Instrumenten auch solcher bürgerlicher Medien, die es mit einem voneinander isoliertem, auch »seriösem« Publikum zu tun haben, wie bei Presse oder Fernsehen.
Kritik an der Massenpsychologie heißt ja nicht, zu leugnen, dass akute Massen (auf Großveranstaltungen wie Konzerten, Stadien oder Straße) häufig emotionalisiert und angestachelt werden und der Manipulationen und Regression zugänglich sind. Und umgekehrt werden mit dieser Massenpsychologie auch gerechtfertigte und wichtige Emotionen in der Freude oder Empörung denunziert, mit Irrationalität gleichgesetzt.
Massen bei Demonstrationen sind zum Beispiel sicher oft »emotional«, denn diese Menschen sind ja da, weil sie ein Anliegen, eine Sorge bewegt und sie Forderungen haben. Diese Massen haben keine andere Macht als die »Straße«, und tragen ihr Anliegen häufig auch zu Recht emotional – empört, wütend – vor. Und diese Emotion ist nötig, um etwas bewegen zu können. Das aber fürchten die Herrschenden, aber auch die Intellektuellen.
Ganz im Unterschied dazu haben Bürger des Establishments, gar die Mitglieder der – im breiten Sinn – herrschenden Klasse, diese »Straße«, diese Emotion, nicht nötig. Sie haben andere Kanäle, sie haben Macht, gehört zu werden, sie können ihre Interessen ganz ruhig, besonnen, cool vortragen, und sie haben keine ernsten Nöte und Sorgen, die ihnen den Schlaf rauben.