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7 „PAT UND PATACHON“

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Frankfurt, Montag, 19. Juli 2010, 21:20 Uhr, Sinrots Büro

Sinrot saß, die Arme hinterm Kopf und unter losen Lidern heraus den Sonnenuntergang betrachtend, in seinem Schreibtischsessel. Es war kühl und roch nach Kaffee. Die Deckenbeleuchtung war ausgeschaltet, der Laptop lief. Arbeitete Sinrot in den Abend hinein, bevorzugte er dieses Beleuchtungssetting. Er konnte sich dann besser auf den Bildschirm konzentrieren – und bedurfte er eines erholsamen Blickes, spendete der Abendhimmel, ohne von dieser grellen Deckenbeleuchtung gestört zu sein, deutlich üppigere Regeneration. Sinrot schaute auf die Uhr.

Wann kam der Kerl denn endlich? Der war schon fünf ...

Sinrot horchte auf. Über den Marmorboden des Foyers schlurften schwere Schritte. Die Tür zu seinem Büro hatte Sinrot offen, die von Frau Messerschmidts Vorraum zum Foyer angelehnt gelassen, damit er nicht verpasse, wenn Herr Mayer (einer der beiden Wachmänner, die in dieser Nacht Dienst hatten) vorbeikomme. Sinrot stand auf, nahm, als wäre er in wichtiger Obliegenheit unterwegs, eine Akte in die Hand und schlich in den Vorraum. Er stellte sich mit der rechten Schulter an die Tür zum Foyer und versetzte den Kopf durch annähernd S–förmiges Verschieben des Halses leicht zur Seite, sodass das rechte Ohr wie ein Lauschtrichter knapp über der Tür zu schweben kam. Sinrot horchte. Die Schritte näherten sich, das Ohr zuckte – und erstarrte.

Jetzt musste Mayer am Büro vorbeilaufen!, dachte Sinrot. Die Schritte entfernten sich. Sinrots Ohr entspannte, er öffnete die Tür einen Spalt, und lugte hinaus. Tatsächlich! Mayers Fettarsch! Der war wirklich spät dran heute, doch gekommen!

Behutsam schloss Sinrot die Tür und ging zurück in sein Zimmer, wo er sich an den Schreibtisch setzte. Er zog sein Handy aus der Innentasche seines Sakkos, überprüfte, ob es angeschaltet war, und legte es vor sich auf den Tisch. Ruhig nahm er den Hörer des Tischtelefons ab, tippte eine Nummer ein, und wartete.

„Guten Abend Herr Lippert!“, sagte er auf einmal, horchte, griff sein Handy, und schickte eine SMS ab. Herr Lippert war der zweite Wachmann. Er wechselte sich mit Herrn Mayer bei den Rundgängen ab. Mit dem Anruf in die Sicherheitszentrale hatte Sinrot gewartet, bis er Herrn Mayer auf Patrouille wisse und er folglich Herrn Lippert am Apparat habe. Diese „kommunikative Präferenz“ Sinrots hing mit einer „kreativen“ Eigenart Herrn Lipperts zusammen: Reproduzierbar malte dieser Figürchen auf die Schreibtischunterlage, wenn er telefonierte, und hatte dabei die Überwachungsbildschirme nicht im Auge. Sinrot wusste um diese Eigenart, weil er selbst sie jüngst bemängelt hatte. Und er machte sie sich nun zunutze, um Herrn Lippert entgehen zu lassen, was er ihm entgehen lassen wolle. „Genau der!“, sagte Sinrot, seinen Namen bestätigend, „Herr Lippert, ich hab da ein kleines Problem: ...“ Sinrot war unterbrochen worden. Er lächelte verständnisvoll wie der liebende Vater, der dem Sohn das vorlaute Geplapper, dessentwegen man ihm besser eins hinter die Löffel geben würde, dass es nur so krache, gerne durchgehen lasse, weil dummerweise die Großtante im Raum sei und zusehe. „Ja, es ist spät“, kam er wieder zu Wort, „und ja, ich bin noch im Büro. Es geht um Folgendes: Mir ist der Schlüssel zu meinem Aktenschrank abgebrochen und ich bräuchte dringend eine Akte ...“ Wieder war Sinrot unterbrochen worden. Aber auch diese Unterbrechung nahm er gelassen, ja, sie kam ihm sogar entgegen, denn sie schenkte ihm willkommene Zeit. „Ja, ich weiß, dass Sie kein Schlüsseldienst sind“, sagte er unvermittelt, „Die Akte brauche ich trotzdem!“

Diese Tränentüte wollte sich wirklich um jede Arbeit drücken!, schüttelte er den Kopf. Doch was sollte es, dieses Mal. Sinrot schaute auf die Uhr. Noch dreißig Sekunden müsste er diesen Trottel hinhalten. Na, besser fünfzig. Sicher war sicher.

Eine Minute zuvor im zweiten Souterrain der „RTO–Bank“

Die Hände in den Hosentaschen und eine flache Kakerlake vor seinen Füßen betrachtend lehnte Tornis mit dem Rücken an der Wand eines weißen, hellbeleuchteten Flurs. Er wartete auf eine SMS von Sinrot.

Nachdem an diesem Morgen beide begriffen hatten, dass es sie nun in zwei Versionen gab in dieser Realität, hatte sich die Frage gestellt, wie diese zwei Versionen aus der Bank heraus kämen, ohne Aufsehen zu erregen. Ein „doppelter Sinrot“ wäre schwer zu begründen gewesen. Klar war: Sie mussten warten, bis alle Mitarbeiter das Haus verlassen hatten. Doch auch dann bestand ein Problem: Der Flur zu den Tiefgaragen und diese selbst waren mit Kameras überwacht. Sinrot und Tornis hatten sich daher das Manöver mit dem Aktenschrankschlüssel ausgedacht: Wäre Herr Lippert durch Sinrots Anruf von den Überwachungsbildschirmen abgelenkt, könnte sich Tornis unbemerkt zu seinem Wagen begeben und auf dem Rücksitz verstecken.

Unvermeidbares Manko des Plans war, dass Tornis’ Weg von dem Flur, der zu der Tiefgarage führte, bis zu seinem Wagen, der eben in der Tiefgarage stand, auf jeden Fall im System aufgezeichnet würde. Dieses Manko wog indes nicht schwer, denn niemand würde die Aufzeichnung kontrollieren, ereignete sich in dieser Nacht nicht noch eine Katastrophe in der „RTO–Bank“, wovon jedoch kaum auszugehen war. – Tornis’ Handy vibrierte.

Eine SMS!, lächelte er. „Nokia“ war wirklich zuverlässig. Geräte dieser Firma funktionierten sogar in einer anderen Realität! Wie alles, was Tornis bei seiner Dopplung am Leib getragen hatte, hatte sich auch sein Handy mit ihm gedoppelt, und dies habe er begrüßt, nicht nur, was das Handy betreffe, denn es wäre ihm doch unangenehm gewesen, die gute Messerschmidt mit seiner Nacktheit konfrontiert haben zu müssen. Tornis nahm sein Handy aus der Innentasche seines Sakkos und schaute nach: Ah ja! Die Nachricht von seinem zweiten Handy, einem „Ericsson“, das, wie es aussah, nicht minder zuverlässig war in fernen Realitäten. Aber wichtiger: Sein Alter–Ego sprach nun mit Lippert, dieser Pfeife, und zwar in dieser Realität.

Tornis löschte die SMS – man wisse nie, welche fehlende Spur man irgendwann willkommen heiße! –, steckte sein Handy ein, ging den Flur entlang und bog nach drei Metern in einen anderen, den überwachten Flur ein, der zu den Tiefgaragen führte. Gespannt fixierte er die Stahltür zur Garage. Er sah auf seine Uhr:

Vierzig Sekunden. Genügend Zeit!

Tornis hatte die Stahltür hinter sich gelassen. Den Wagen, einen schwarzen „Audi A8“, hatte er zehn Meter von ihr entfernt geparkt. Er zog den Schlüssel aus der Hosentasche, rotierte ihn zwischen Daumen und Zeigefinger, und klickte aus der Entfernung die Wagentüren offen. Er näherte sich dem Fahrzeug.

Auch in dieser Realität ein schöner Wagen!, dachte er. Ärgerlich presste er die Lippen zusammen. Eine Schande, dass er sich in seinem eigenen Wagen verstecken musste. Auf der Rückbank! Na ja, lange müsste er dort ja nicht bleiben, wenn sein Alter–Ego diesen Mayer wie geplant zügig abfertigen würde.

Zweieinhalb Minuten später in Sinrots Büro

Die Hände hinterm Kopf saß Sinrot an seinem Schreibtisch und betrachtete unter entspannten Lidern heraus den Sonnenuntergang. Er hatte das Gespräch mit Herrn Lippert gerade beendet. Jetzt wartete er auf Herrn Meyer, der wegen des Aktenschrankschlüssels gleich vorbeikommen würde, – und natürlich auf Tornis’ SMS, die bestätigen würde, dass dieser nun sicher auf der Rückbank weilte. Skeptisch hob Sinrot die rechte Braue und schaute auf die Uhr.

Es ließ sich aber Zeit, sein Neben–Ich. Hoffentlich war nichts schiefgegangen! Aber was sollte schon schiefgegangen sein? Und hätte Lippert es auf einem der Überwachungsbildschirme entdeckt, hätte er garantiert auf dem Handy angerufen, ob Mayer nun doch nicht für den „Schlüsseldienst“ zu kommen brauche. Furchtbar, diese beiden. Die waren wirklich faul wie ...

Plötzlich klingelte Sinrots Handy. Er schaute überrascht – war das Lippert?! –, zog sein Handy aus dem Sakko und betrachtete das Display. Nun schaute Sinrot noch überraschter:

Sein Neben–Ich!

Kopfschüttelnd nahm Sinrot das Gespräch an und sagte:

„Wieso rufst du an? Ich dachte ...“ (War Sinrot diese Unterbrechung recht?) Seine Augen verengten sich und in geordneter Anspannung richtete er sich in seinem Sessel auf. „Im Kofferraum?“, fragte er auf einmal mit einer Vibration in der Stimme, als stürzte sie gerade in sich zusammen, seine Ordnung. Er horchte – das Handy eng ans Ohr gepresst –, stand auf, und fuhr sich mit der Linken durch die Haare. Getrieben lief er durch den Raum. „Scheiße!“, platzte es wie gespien aus ihm heraus. Er blieb stehen, sah, den Atem hinter zusammengekniffenen Lippen eingekerkert, auf seine Uhr und fuhr hektisch fort: „Ja, ja, ist klar. Keine Sorge. Ich krieg das hin. Noch ist ja Zeit. Bleib einfach, wo du bist.“

Sinrot beendete das Gespräch, steckte bedachtsam sein Handy ein, und überlegte:

Bis Mayer wegen des abgebrochenen Schlüssels kommt, werden bestimmt noch fünf Minuten ins Land ziehen. Zeit genug.

Sinrot pfiff die Luft aus und eilte in den Vorraum seines Büros. Flimmernd wie ein Strichcodescanner hetzte sein Blick über Frau Messerschmidts Arbeitsplatz.

Dreieinhalb Minuten zuvor in der Tiefgarage

Als Tornis seinen „A8“ erreichte, ließ er den Schlüsselhalm geschickt in die Innenfläche seiner Rechten rotieren, während seine Linke sich nach dem Griff der hinteren Tür ausstreckte.

„Guten Abend Herr Sinrot“, kikerikite es unverhofft von der Seite, „Noch im Hause?“

Er drehte sich entgeistert um. Frau Messerschmidt stöckelte knöchern auf ihn zu. Offenbar war sie verblüfft, ihn so spät noch an diesem Ort anzutreffen. Säuerlich lächelnd zog sich ihr Gesicht wie eine leergesaugte Brötchentüte zusammen.

„Wie sie sehen“, entgegnete Tornis perplex, doch gefasst, trat einen Schritt vor und blieb neben der Fahrertür stehen. Einem Blitz gleich war ihm die Essenz der Situation ins Bewusstsein geschossen: Die hatte was im Büro vergessen! Er musste unbedingt verhindern, dass sie seinem Alter–Ego dort in die Quere kam! Aber wie? – Erst auf Zeit spielen! Allerdings nicht auf zu viel Zeit, denn Lippert musste jeden Augenblick wieder die Bildschirme begaffen. „Das ist ja eine Überraschung“, sagte Tornis also, und ergänzte streng: „Was machen Sie denn noch hier, zu solch später Stunde?“

Frau Messerschmidt errötete wie eine Frühpubertierende, die man beim Zuknöpfen ihrer Bluse ertappt hatte. Sie stotterte:

„Ich, ich, ich hab meine Blutdrucktabletten vergessen. Also, in der Mittagspause war ich einkaufen und hab meine Einkauftasche oben stehen lassen, als ich nach Haus bin. War heute etwas ...“

„Aber Frau Messerschmidt!“, unterbrach Tornis sie mit väterlicher Wärme in der Stimme, „Sie brauchen sich doch bei mir nicht wegen derartiger Details zu rechtfertigen“, und er beruhigte sie wohlwollend schmunzelnd: „Das kann jedem passieren!“

„Ich dacht ja nur“, meinte sie erleichtert, wenngleich verlegen zu Boden schauend.

„Ist schon gut“, nickte Tornis, der jetzt eine Idee hatte, wie die Lage zu entschärfen sei. „Dann gehen Sie mal besser. Ist schon spät.“

„Ja“, atmete sie auf, „Und schönen Abend noch, Herr Sinrot.“

„Ihnen ebenso“, entgegnete er, und wandte sich dem Wagen zu.

Mit dem Rücken zur Überwachungskamera stand Tornis vor der Fahrertür, wühlte in seinen Taschen, als suchte er etwas, und lauschte. Frau Messerschmidts Schritte waren verklungen, die Tür zu den Tiefgaragen fiel ins Schloss – und sein Wühlen erstarrte. Geduckt wie ein Gejagter blickte er sich um.

Ja, die war weg! Verdammte Scheiße! Er musste sofort seinem Alter–Ego Bescheid sagen! Aber vorher verstecken. Das Telefonat mit Lippert musste jeden Augenblick vorbei sein! Wenn es nicht schon vorbei war!

Er schnellte er zum Kofferraum seines Wagens, riss ihn auf, sprang hinein und knallte den Kofferraumdeckel hinter sich zu. Tornis hatte sich gegen die Rückbank und für den Kofferraum als Versteck entschieden, weil er vermeiden wolle, dass Frau Messerschmidt ihn sähe, wenn sie zurückkäme. Er atmete durch, so gut es ging, „streckte“ sich, so gut es ging, und fluchte, so leise es ging. Hastig zerrte er sein Handy aus der Innentasche seines Sakkos und rief Sinrot an.

Eine halbe Minute später in Frau Messerschmidts Büro

Sinrot hatte schnell gefunden, was er gesucht hatte: Frau Messerschmidts Einkaufstasche hatte an der Garderobe gestanden. Die Tasche in der Linken huschte er in sein Zimmer, schlug den Laptop zu, eilte zurück in Frau Messerschmidts Raum, klatschte im Verlassen des Zimmers das Licht aus, und ließ die Tür hinter sich ins Schloss fallen. Eilig durchschritt er das Foyer.

Er musste unbedingt in den Toiletten sein, bevor die Alte hier oben war, dachte er. – Ach ja! Und Mayer musste auch bald kommen. Obwohl: Wie er diesen Lahmarsch kannte, hatte er da wohl noch einige Minuten. Oder bis morgen. – Oder bis nach seiner nächsten Krankschreibung!

Sinrot schüttelte – vermutlich in einer Art reflektorischen Verstimmung über „diese unzuverlässigen Mitarbeiter heutzutage“ – den Kopf. Sein Plan war, sich zunächst in der Toilette neben den Aufzügen zu verstecken, aus denen Frau Messerschmidt jeden Augenblick herauskäme, und sich die „Dame“ dann in ihrem Büro „vorzuknöpfen“. Sie würde denken, er sei ihr aus der Tiefgarage gefolgt. Und er hätte vermieden, dass sie „ungefiltert“ mit Mayer spräche, wenn dieser denn zur Unzeit erschiene.

Das Foyer hatte Sinrot hinter sich gelassen. Er passierte die Aufzüge – gespannt die geschlossenen Aufzugstüren beäugend – und hatte den Eingang zur Toilette fast erreicht, als er den dezenten Gong vernahm, der ertönte, wenn eine Aufzugstür sich öffnete oder schloss. Sinrot schoss in Richtung Toiletten, die rechte Aufzugstür öffnete sich, heraus kam Frau Messerschmidt – und Sinrot zog behutsam die Toilettentür hinter sich zu.

Er verharrte, bis er Frau Messerschmidts Schuhe leiser auf dem Marmor stöckeln hörte (jetzt musste sie in der Nähe ihres Büros sein!), und spitzte vorsichtig aus der Toilettentür hervor.

Da ging sie, die alte Schnepfe! Noch ein paar Sekunden warten, damit es ihr glaubwürdig erschiene, dass er ihr aus der Tiefgarage hinterher gekommen sei. – Mist! „Käme er von unten“, müsste ja der Aufzug gongen! Also musste er ihn gongen lassen! Aber wie? Klar: Er musste den, mit dem die Alte hoch gefahren war, nach unten schicken! Hoffentlich würde sie sich nicht wundern, warum denn keine der Aufzugstüren offen stehe, wenn sie wieder zurückführe. Doch wahrscheinlich war es einerlei, dies Detail, da sich Madame mit Sicherheit nicht daran erinnern würde, ob es nochmals gegongt habe, während er ihr in ihrem Büro den Kopf gewaschen haben würde, bis ihr die Ohren schäumten! Und wichtiger als ihre gewisslich mangelhafte Beobachtungsgabe war ohnehin, dass er die Alte in der Mangel gehabt hätte, bevor Mayer hier auftauchte. Hoffentlich tauchte der Depp nicht jetzt schon auf! Hoffentlich hatte er sich nicht beeilt, ausnahmsweise! Hoffentlich! Denn vorzugsweise würde er gar nicht als „Filter“ fungieren müssen, zwischen Mayer und der Alten!

Sinrot atmete gepresst aus. Er war – untypisch für ihn – nervös, denn er hatte sich noch nicht überlegt, wie er bei einem möglichen Zusammentreffen zwischen Herrn Mayer und Frau Messerschmidt so „filtern“ sollte, dass Tornis’ Präsenz in der Tiefgarage nicht „thematisiert“ würde. Gespannt schaute Sinrot auf seine Uhr.

Also: Noch fünfzehn Sekunden und dann nichts wie los und diese Scheiße hier hinter sich bringen! – Die Schuhe, verdammt!

Frau Messerschmidt war unterdessen in ihrem Vorraum verschwunden. Sinrot – seine Schuhe hatte er ausgezogen, denn deren Klacken hätte ihn verraten – atmete durch, schaute noch einmal auf seine Uhr, und eilte auf leisen Strumpfsohlen und die Schuhe in der Linken zu den Aufzügen. Dort beugte er sich bedacht– und biegsam wie eine aus ihrem Korb geflötete Kobra über die Lichtschranke des noch von Frau Messerschmidts Ankunft offen stehenden Aufzugs in diesen hinein, drückte den Knopf für den sechzehnten Stock (eins tiefer solle genügen – und so sei auch der Aufzug schneller da, wenn Madame wieder nach unten wolle!), und federte harmonisch zurück. Es gongte, die Tür schloss sich, und Sinrot schlüpfte in seine Schuhe.

Er grinste zufrieden, rückte sich die Krawatte zurecht und machte sich gemessenen Schrittes auf zu den Büros. Mittlerweile hatte er kaum noch Zweifel, dass sein Plan gelingen würde, denn schließlich sei es sein und nicht irgendeines Plan. Zuversichtlich durchquerte er das Foyer.

Sinrot erreichte die Tür zu Frau Messerschmidts Vorraum (drinnen raschele es wie in einem Mäusenest), blieb stehen (ei was möge das bloß sein!) und lugte (wie die Katze in das Mauseloch) hinein. Frau Messerschmidt kauerte vor einem großen Schrank und wühlte (in der Tat wie ein Mäuslein), schien etwas darin zu suchen.

Ein Käsestückchen? (Sinrot grinste.) Warum sperrte er sie nicht einfach ein? Ein kräftiger Tritt ins Chassis und die Tür zu – wie die Hexe in den Ofen! – und ... (Er zögerte und seine Lippen spitzten sich zweifelnd.) Nein, sie musste morgen noch die Baumeister–Sache fertig machen!

Sinrot sammelte und räusperte sich. Frau Messerschmidt fuhr herum, als hätte ihr tatsächlich eine Katze den Schwanz beklopft: Sinrot lehnte mitleidig lächelnd im Türrahmen und Frau Messerschmidts Einkaufstasche baumelte an seinem vorgehaltenen Zeigefinger. Sie stand auf, strich sich – abermals frühpubertierend errötend – den Rock glatt, und sagte:

„Also, also, wo haben Sie die denn ...“

„Frau Messerschmidt, Frau Messerschmidt, wo haben Sie nur ihre Gedanken“, schüttelte er lächelnd den Kopf, „Die Tasche stand neben dem Getränkeautomaten in der Tiefgarage! Vielleicht sollten Sie sich doch besser noch ein bisschen Urlaub nehmen! – Haben Sie übrigens schon mit Doktor Teufel gesprochen?“

„Also, ich kann mir das nicht erklären. Ich war doch gar nicht am Getränkeautomaten. Wie kann denn dann meine Einka...“

„Frau Messerschmidt!“, unterbrach Sinrot sie streng, „Entspannen Sie einfach mal ein bisschen!“, und er fügte mit einem verständnisvollen Vibrato in der Stimme an: „Außerdem kann sich jeder mal verschusseln. Sogar ich mich: Mir ist eben – mit ihrem Fauxpas konfrontiert – eingefallen, dass ich selbst etwas in meinem Büro vergessen habe: Meinen Laptop! Tja, und als ich dann nach oben bin, sehe ich doch glatt ihre Einkaufstasche neben dem Getränkeautomaten stehen!“, und er ergänzte, seinen Blick neugierig in die Tasche richtend: „Das ist doch Ihre Tasche, nicht wahr?“

Beiläufig steckte er seinen Finger hinein und begann, bedachtsam und mit einer Miene darin zu kramen, als wollte er sich über den gemutmaßten Eigentümer des „Fundes“ vergewissern.

„Ja, ja, das ist meine!“, sagte sie hastig und tat einen Schritt nach vorne. Unsicher die Hacken aneinander reibend fuhr sie fort: „Ich weiß wirklich nicht, wie ...“

„Ist schon gut“, blickte Sinrot auf, lächelte wieder und näherte sich ihr drei Schritte.

Frau Messerschmidt nahm betreten die Tasche entgegen und stotterte, diese vor sich festkrallend:

„Jedenfalls vielen Dank. Also ich weiß echt nicht, was mit mir heute los ist!“

„Wie gesagt: Das kann jedem passieren“, fing er sie gewohnt empathisch auf und dachte: Hoffentlich haut die gleich ab, denn Mayer müsste jeden Augenblick hier auftauchen!

Frau Messerschmidt und Sinrot sahen sich an. Er fixierte sie mit höhnisch glitzernden Augen. Sie versuchte, seinem Blick auszuweichen, und endlich tat sie ihm den Gefallen anzukündigen, worauf er so sehnlich gewartet hatte:

„Also, ich geh dann mal besser.“

„Ich denke auch“, lächelte er nachsichtig, „Und eine ausgiebige und erholsame Nachtruhe wünsche ich Ihnen!“

Sie nickte und huschte, die Tasche vor den Brüsten umklammert, aus dem Raum. Sinrot tat zwei Schleichschritte auf die Tür zu, reckte seinen Hals und sah ihr nach. Sie hatte das Foyer durchquert und verschwand in Richtung Aufzüge. Als er den Türgong hörte, blies er erleichtert die Luft aus, schmiss die Tür zum Foyer zu und begab sich gemessenen Schrittes in sein Büro.

Dort setzte er sich an seinen Schreibtisch, schaltete den Laptop an und lehnte sich, die Hände hinterm Kopf, in seinem Sessel zurück. Abwesend betrachtete er unter schlaffen Lidern heraus den Nachthimmel.

Das war gerade noch mal gutgegangen!, dachte er. Es klopfte. Zu guter Letzt! Das war Mayer, diese Tranfunzel.

„Herein“, rief Sinrot, nun gänzlich gelöst, und den Raum betrat ein kleiner, untersetzter Herr Anfang sechzig mit einem dünnen Lockenkranz zwischen der fettigen Glatze und dem speckigen Nacken und einem Gesichtsausdruck, als wundere er sich ständig – wie Sinrot empfand – über seine eigene Blödheit. Dieser unterdrückte das Grinsen, das sich ihm aufdrängte, weil er sich Herrn Lippert dazu denken musste. (Die beiden erinnerten Sinrot an Pat und Patachon.) Sinrot stand auf, knipste das Licht an und sagte, gelangweilt auf den Aktenschrank zeigend: „Da, schauen Sie sich mal diesen Salat an.“

Sie gingen zu Sinrots Aktenschrank, der neben der Tür zum Boudoir stand. Der abgebrochene Schlüssel steckte ostentativ im Schloss. Herr Mayer kniete sich, ob seines Bauchs wie ein im Schlammloch steckender Bulle schnaubend, davor und kramte, sich wie im Wehenschmerz zur Seite krümmend, ein Schweizer Messer aus der Hosentasche. Die Operation begann.

„Sie haben sich ja ganz schön Zeit gelassen“, kommentierte Sinrot nach einem Moment.

„Ich musste mir erst Werkzeug für diese ungewöhnliche Aufgabe besorgen“, entgegnete Herr Mayer mit einer Miene an dem Schloss herumstochernd, als hätte er gerade – in ärztlicher Tätigkeit wider Willen – eine Hämorrhoide zu inspizieren.

„Ach, dieses Schweizer Messer?“

„Genau“, schnaufte Herr Mayer, sich erschöpft über die Stirn wischend.

„Na, dann machen Sie mal!“, lachte Sinrot und dachte:

Dieser Mayer war ja nicht minder inkompetent als Lippert. Sofort morgen würde er die Kündigung für die beiden auf den Weg bringen, denn noch einmal würde ihm die Unzulänglichkeit dieser Herren kaum nutzen.

Sinrot setzte sich an seinen Schreibtisch und „studierte“ ein Dokument. Die Ereignisse gaben ihm zu denken:

Diese „Dopplung“ zu verbergen? Nicht leicht! Und wesentlich: Da es nur eine Vita Sinrot gab, konnte es nur schaden, wenn andere mitbekämen, dass da plötzlich ein zweiter war. Das würde ihn als Geschäfts– und Privatmann diskreditieren! Von den rechtlichen Folgen gar nicht zu sprechen! Im Grunde war jeder Vertrag, den er bis dato geschlossen hatte, ungültig! (Seine Miene verfinsterte sich.) Vielleicht sollte er sein Neben–Ich einfach loswerden! De–realisieren, sozusagen, mit einem netten Kügelchen zwischen die Äugelchen. (Er grinste.) Und dafür könnte man ihn noch nicht mal belangen, denn ein solcher Sachverhalt war maximal und auch bei bösem Willen nur unter „Selbstmord“ zu subsumieren, und der war im deutschen Rechtsraum straffrei! (Sinrot wiegte zweifelnd seinen Kopf.) Nein, Derartiges ließe er besser bleiben! Trotz der „vorteilhaften“ Rechtslage. Er konnte nämlich beileibe nicht beurteilen, wie dieser Eingriff in seine „alternative“ Realität eben die „Seine“ beeinflussen würde. Womöglich gäbe es dann weitere Realitätsstörungen und aus den Gedoppelten würde Nichts! Nein, er musste sich etwas anderes einfallen lassen. Etwas Praktikables. Etwas mit dieser – mit seiner! – Realität Kompatibles. Etwas, das vor allem mit „ihm selbst“ kompatibel war und weitere Realitätsstörungen vermiede. Punkt.

Doppelpunkt?

tornissinrot

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