Читать книгу tornissinrot - Klaus M. G. Giehl - Страница 4
PROLOG
ОглавлениеWer hätte sich noch nie gewünscht, diese, ja, genau diese Entscheidung anders getroffen zu haben. Hätt ich doch Thea nie geheiratet! Hätt ich doch Wegners Vorschlag angenommen! Wär ich doch bloß einen Wein früher nachhaus gefahren! Wimmern, Wimmern, Wimmern! All dies Wimmern! Zum Kotzen eigentlich. Und unangebracht. Denn eine Möglichkeit zu wählen, bedeutet nun einmal, die alternative zu eliminieren. Tatsächlich? Bevor die Frage „Tatsächlich?“ näher zu beleuchten sei, stelle man sich vor, die alternative Möglichkeit hätte sich tatsächlich verwirklicht:
So hätte der andere Fred Thea nie geheiratet, den Rosenkrieg vermieden, aber Lea geehelicht – und sich nach ihrem Kindsbetttod ein Leben lang gegrämt. Und der andere Schuster hätte Wegners Vorschlag doch noch akzeptiert, die Prokura doch noch bekommen, aber würde – seit dem letzten „doch noch“ – nach wie vor gesiebte Luft atmen. Und der andere Knoll schließlich hätte sich den letzten Wein verkniffen, wäre früher nachhause gefahren, hätte sich den Entzug des Führerscheins, den verlorenen Job, die zerbrochene Ehe, die ihn auslachenden Kinder, all die Nächte unter all den Brücken erspart. So, wie er sich überhaupt alles erspart hätte –, nachdem er sich auf der einen Wein früheren Nachhausefahrt den Schädel eingefahren hätte. Wimmern also ist nicht angebracht. Eher Erstaunen. Exakt. Erstaunen, um auf die Frage „Tatsächlich?“ zurückzukommen: Erstaunen über die „alternative Realität“.
Die entsteht einer Variante der „Multiverse–Theorie“ zufolge bei jeder Entscheidung: In der Ursprungsrealität gehe es weiter mit der Möglichkeit, für die man sich entschieden habe. Im Moment der Entscheidung aber habe sich von dieser ursprünglichen Realität eine alternative abgespalten, welche die bei der Entscheidung verworfene Möglichkeit weiterspiele. Und zwar nicht nur irgendwie weiterspiele, sondern richtig weiterspiele, als alternative Realität, die sich tatsächlich abgespalten habe von der ursprünglichen. Demnach sei diese alternative Realität eine eigene mit nicht nur der alternativen Version des Menschen, der – „entscheidend“ – die Ursprungsrealität gespalten habe, sondern auch mit dessen alternativem Fernseher, dessen alternativer Familie, dessen alternativem Land – und einer alternativen Erde, einem alternativen Sonnensystem, einem alternativen Universum. Doch nicht genug: Da es Abermilliarden Entscheidungen gegeben habe, gebe es auch Abermilliarden alternative Realitäten, Universen also, die parallel existierten. Ohne miteinander zu tun zu haben. Ohne voneinander zu wissen. Ohne voneinander zu ahnen. – Doch mehr dazu gleich.
Oder genauer: Mehr gleich zu dem, was geschehen kann, wenn etwas schief geht bei der Spaltung der Realität. Weil man sich ein Virus eingefangen hat, zum Beispiel. Das sich in unsere Erbmasse eingebaut hat, still und heimlich. Das deswegen das Gen stört, das Realitäten „sauber“ spaltet. Und sie sich „durchmischen“, die Realitäten. Sich unberechenbar durchmischen, wie Löwen und Hyänen, die nachts ein Gnu umkreisen. Sich schmutzig durchmischen, wie Dreck und Blut der Bestien Schlieren durch die Felle zieht. Sich tödlich durchmischen, wie der sich kühlende Gestank von Blut, Urin und Kot. Und es sich ausgewimmert hat, am Ende. Endlich ausgewimmert hat.