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ERSTES KAPITEL 1 FLACKERN
ОглавлениеHamburg St. Pauli, März 1980
Es roch kühl und feucht und nicht mehr so stark nach Rauch und Suff, denn das Ende der Nacht nahte. Da es neumondete und die Laternen der Straße ausgefallen waren, hätte es stockfinster sein müssen. Aber die dichte Wolkendecke schob das Licht der Stadt diffus zurück und das Leuchtschild des „Safthauses“, eines Bordells am Ende der Straße, schimmerte dünnes Pink über das nasse Kopfsteinpflaster. Häuser waren nur zu ahnen, und die Straße rahmten Bürgersteige schwarz wie tiefe Gräben. Bloß nahe einer Telefonzelle wurde es bisweilen konkret, wenn ihr defektes Licht flackerte. Man sah dann eine Tür, ein Fenster, und jetzt einen Mann. Wie ein Misthaufen kauerte er auf einem Treppensims.
Das Licht flackerte nochmals und man sah das Sims in eine Tordurchfahrt ragen. Die Arme hatte der Mann um die Knie geschlungen. Er trug eine Skimütze, war massig. Eine Weile verging, bis das Licht wieder flackerte. Vor dem Mann lag Unrat, der sich aus einer umgefallenen Mülltonne ergossen hatte. Und dunkel war es.
Plötzlich klackten Schritte. Sie näherten sich vom „Safthaus“, in dessen Richtung sich rechts etwas auf dem Trottoir, das an der Telefonzelle und der Tordurchfahrt vorbeiführen würde, zu bewegen schien. Wie ein Schattenriss zitterte es zwischen dem Pinkglitzern des Kopfsteinpflasters und den Häuserkonturen. Der Schattenriss wurde bestimmter, zeichnete eine schlanke Person.
Das Licht flackerte und man sah den massigen Mann in der Tordurchfahrt stehen und sich zu dem Unrat bücken. Seine Hand griff nach etwas. In der Tat war der Mann massig, nahezu korpulent war er und mindestens zwei Meter zwanzig groß!
Die Tordurchfahrt lag wieder im Dunkeln. Die Schritte klangen jetzt hart. Präzise schlugen sie auf das Trottoir, wie das Ticken eines Metronoms. Der Schattenriss war nun definiert, zitterte nicht mehr, sondern schwang mit den dynamischen Schritten der schlanken Person, bei der es sich – das erkannte man genau, am Habitus, an den breiten Schultern – um einen Mann handelte, eins neunzig groß. Sein kurzgeschnittenes Haar glitzerte wie schwarzer Diamant.
Das Licht in der Telefonzelle flackerte, zwei, drei Mal. Es blendete den schlanken Mann aus, aber man sah, wie der massige Riese sich rücklings gegen die Wand der Tordurchfahrt presste. Er stand an der Ecke zum Trottoir und hielt einen Stab vor der Brust, einen Meter lang, metallisch, ein Kanteisen vermutlich. Den Kopf hatte er überstreckt, die Lippen zusammengepresst. Er wartete.
Das Flackern hatte aufgehört. Die Schritte klangen sehr nah, schlugen scharf auf den Boden. Plötzlich hörte man ein Zischen wie von einem vorbeischießenden Vogel, und jetzt, fast mit dem Zischen begonnen habend, flackerte das Licht mehrmals. In Fragmenten sah man den Riesen das Kanteisen auf den Kopf des ihn schon passiert habenden Mannes schwingen. Kein Bild, nur ein Geräusch, als schabte Metall auf Hartem, auf Knochen. Das nächste Fragment zeigte den schlanken Mann schräg im Raum, als fiele er, als wiche er aus, wobei Arm und Kanteisen des Riesens an seiner Schulter vorbeizugleiten schienen. Kein Bild, nur feistes Schnauben, Schuheklacken wie von einer Steppeinlage und ein Geräusch, als versenkte man einen Vorschlaghammer in einem Mehlsack. Und schließlich sah man im letzten Fragment den Riesen auf dem Weg zum Boden, wellig und einen Schuh des schlanken Mannes im Gesicht, und diesen, die Arme abgespreizt und den Oberkörper nach hinten geneigt, als nähme er gerade aus der Luft eine Flanke an. – „Tor! Tooor! Das ist doch nicht zu fassen! Ribéry wie aus dem Nichts über links, steil von Müller angespielt, stoppt, schaut, und versenkt das Ding einfach trocken oben rechts ins kurze Eck! Endlich das lang ersehnte ...“
Das Flackern hatte aufgehört. Schläge, Stöhnen, Schnaufen. Ein Augenblick der Ruhe. Und ein schleifendes Geräusch, als ob ein schwerer Sack über rauen Boden gezogen würde. Wieder Ruhe. Und nach einem Moment ein plumpsendes Geräusch, als hätte man ein totes Schwein auf das Trottoir geschmissen.
Das Licht flackerte und man sah den Riesen mit den Schultern gegen die Wand der Tordurchfahrt gestaucht. Seine Brust war wulstig angewinkelt gegen den Bauch, der sich auf den fleischigen Lenden über den Boden geschoben hatte. Arme und Beine lagen schlaff wie angestochene Weinschläuche auf dem Pflaster. Der schlanke Mann, in der Hocke über den Riesen gebeugt, hatte das Kanteisen in dessen Magengrube und seine Stirn gegen dessen Stirn gedrückt. Das Gesicht des schlanken Mannes glänzte rot. Das Rot lief auf das Gesicht des Riesen herab.
Wieder war es dunkel. Schnaufen, Stöhnen, in der Klanglage variierendes Wimmern. Das Wimmern hörte sich ungut an, vermittelte die Abwesenheit jeder Hoffnung, gar verzweifeltes Wissen. Wieder ein Schlag, gefolgt von Stille.
„Du hast dir den Falschen ausgesucht, Fettsack!“, flüsterte es gepresst. Wimmern. Noch unguter, wenn man das so sagen kann, aber man kann das so sagen, denn eine Steigerung gibt es bei diesen Eigenschaften immer. Kristallen hörte man ein glitschiges Geräusch, als zöge man zwei blutnasse Sirloin–Steaks auseinander, und erneut flackerte das Licht und beide Männer waren zu sehen. Der Riese lag in die Ecke zwischen Wand und Boden gequetscht, der schlanke Mann beugte sich nach wie vor oder wieder über ihn und hatte das Kanteisen mit der Rechten in dessen Magengrube gestemmt. Die linke, nassrote Hand hielt sich der Mann an die Schläfe. Das glitschige Geräusch hatte vermutlich von dort gestammt. Und dunkel war es. „Du hast mir mein Gesicht ruiniert, du Rotz!“, flüsterte es. Wimmern, dann Ruhe. Schließlich ondulierte sich wieder Wimmern in die Ruhe. „Du hast Glück“, flüsterte es, „Du hast deinen Fettarsch voll Glück.“ Ein Schlag, Knacken und knisterndes Knirschen, als zerquetschte man eine Handvoll Erdnüsse, oder wie von zerbröselnden Zähnen, und nochmals Wimmern, feucht, blubbernd. „Glück, dass wir’s hier nicht lauschig haben“, flüsterte es. Ein Schlag, Prusten, Stöhnen, Wimmern. „Glück, dass wir hier nicht wirklich entre nous sind“, flüsterte es. Ein Schlag, Gurgeln, Wimmern. „Glück, dass ich dich hier nicht länger herumverenden lassen kann!“, flüsterte es.
Lauteres Wimmern. Und Flackern, diesmal heller, fast grell, sodass man glasklar sah – die Essenz der Szene war perfekt getroffen! –, wie der schlanke Mann mit aller Wucht und beiden Händen das Kanteisen nach oben in die Magengrube des Riesen presste, hebelte, rüttelte. Die Augen des Riesen waren aufgerissen, der Mund klaffte modrig wie ein zerfetztes Schlammloch. Das Gesicht des schlanken Mannes glänzte rot und verzerrt. Dunkelheit. Und ein schmatzendes Geräusch, und aushauchendes Ächzen. Das schmatzende Geräusch hatte von dem Kanteisen hergerührt, das sich, nachdem seine aufgestaute Kraft sich in der Perforation von Hemd und Haut entladen hatte, durch das subkutane Fettgewebe des Riesen gebissen hatte, und durch die Bauchmuskeln, das Zwerchfell, den Herzbeutel, den rechten Herzventrikel, die Lungenstammarterie und schließlich den Aortenbogen. Das aushauchende Ächzen hatte von dem Riesen hergerührt, als er mit dem letzten Biss sein Leben ausgehaucht hatte.
Nun folgte Stille und dieser Knirschen, als stünde jemand auf. Das harte Klacken von Ledersohlen auf Stein. Aus dem Dunkel der Einfahrt schob sich der Schatten des schlanken Mannes auf die Telefonzelle zu. Er riss die Tür auf, schritt hinein. Man hörte das federnde Klicken, das die Hörergabel beim Abheben des Hörers verursacht hatte. Das metallische Klirren von Münzen, das trockene Klicken der Wahlknöpfe, und schließlich genervtes Schnaufen. Der Mann schien zu warten, dass sein Anruf angenommen würde. Das Licht flackerte und man sah die Stirn des Mannes (ab den Brauen war das Gesicht von einem Plakat, das auf der Telefonzelle klebte, verdeckt). Über die linke Stirn verlief eine klaffende Wunde, in deren Tiefe man Knochen erkannte. Nach drei Sekunden Dunkel sagte der Mann mit ebener Stimme:
„Hallo Ortwin. Tut mir leid, dich zu wecken, aber ich brauch deine Hilfe.“ Nach einer Pause hob er nochmals an: „Hab Scheiße gebaut, nichts Schlimmes, aber mit meiner besseren Hälfte könnt’s Probleme geben. Erklär ich dir später. – Ist Paul da?“ Pause. Dann sagte der Mann: „Gut. Also, hör mir jetzt bitte genau zu. ...“ Die Zellenbeleuchtung flackerte. Das Rot der Wunde glänzte kalt.