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2 BLITZ
ОглавлениеFrankfurt, Montag, 19. Juli 2010, 10:27 Uhr, RTO–Bank Tower
Die linke Augenhöhle war gerahmt vom Halbmond einer Narbe, der sich von der Stirn über die Schläfe bis unter das Jochbein zog. „Mein Schmiss!“, wie Gerhard Sinrot auf Nachfrage erläutert haben würde. Nun indes hatte er nichts zu erläutern. Er schwieg. Herr Pechthold starrte ihn an.
Das Fenster spiegelte sich scharf in Sinrots graublauen Iriden. Die filigranen Nasenflügel hoben und senkten sich sanft mit der Atmung. Die hochmütig geschwungenen Lippen ruhten aufeinander. Mit kaum sichtbarem Beben hob die obere sich rechts verächtlich an und er fragte Herrn Pechthold leise, aber streng:
„Bitte?“
Herr Pechthold duckte sich, rückte seine Brille zurecht, wirkte nervös, wie immer, wenn Sinrot im Raum war. Es war die Furcht des Schafs, um das der Wolf strich. Zögerlich sah Herr Pechthold wieder auf zu Sinrot.
Dieser stand schlank und erhaben wie ein Denkmal seiner selbst vor dem Schreibtisch. Das feinkörnige Grau seines Anzugs schimmerte wie samtgebürsteter Granit. Die Arme verschränkt, hatte er den kantigen Schädel nach hinten geneigt. Sein kurzes Haar glitzerte wie schwarzer Edelstein. Seine Miene verströmte Frost. Starr. Lichtlos. Sinrots Nasenspitze senkte sich, als erschnupperte er das „Befinden“ seines Gegenübers. Er fixierte Herrn Pechtholds Glatze, die glänzte, und auf ihr eine Schweißperle. Herr Pechthold sammelte sich, hüstelte.
„Na ja“, antwortete er mit einer Stimme, die fast in sich zusammenbrach, „ich meine, wir sollten da ein wenig nachhaken. Mir erscheint das ein bisschen wackelig, das Ganze.“
Sinrot sah Herrn Pechthold in die Augen. Herrn Pechtholds Lider zitterten. Sinrots lagen schlaff auf den Augäpfeln. Er dachte:
Was wagte der sich überhaupt, zu widersprechen, dieser Wicht! Doch recht hatte er: Diesen Kredit würde man besser nicht geben! Richtig erkannt. Das war schon eine Leistung für ein Wesen mit einer ranzigen Nuss auf dem Hals! Dieser dumme Nusskopf. Aber war der Einwand relevant? Diesen könnte er, Sinrot, bei Bedarf schließlich spielend hinwegfegen! Nichtsdestoweniger: Warum die zwar geringe, doch spürbare Mühe eines Disputs? Was hätte er denn davon, wenn Schmauchs den Kredit bekämen? Gut, Emma hatte ihn gebeten, obwohl auch sie nichts davon hätte. Oder? Ach, egal!
Sinrots Oberlippe hob sich leicht und er erwiderte väterlich:
„Machen Sie sich keine Sorge, mein guter Pechthold. Wenn ich Ihnen sage, wir können diesen Kredit geben, dann können wir ihn auch geben. Nicht wahr, Herr Pechthold?“ Herr Pechthold blinzelte ergeben hinter seiner Brille, die jetzt das Licht der Neonröhren verblitzte. Sinrot zuckte mit der rechten Braue in Richtung des Füllers, den Herr Pechthold genau parallel zum rechten Rand des Kreditvertrags platziert hatte. Herr Pechthold nahm den Füller in die Hand. Sinrot lächelte mitleidig. „Haben Sie sonst noch eine Frage, Herr Pechthold?“
„Im Augenblick nicht, Herr Sinrot.“
„Nun, melden Sie sich einfach, wenn etwas ist.“
„Das werde ich. Und vielen Dank, Herr Sinrot.“
„Aber das mache ich doch gerne“, entgegnete Sinrot kühl, und sein Gesicht verlor jeden Ausdruck.
Würdig wie der Prophet, der seine Botschaft nun verkündet hatte, wandte sich Sinrot ab und schritt gemessen zur Tür. Seine Hand griff die Klinke und drückte sie herunter. Er zögerte, überlegte. Zweifelte? Nach einem Moment nickte er unmerklich, öffnete die Tür, und verließ den Raum. Langsam zog er die Tür hinter sich zu. Er hörte Herrn Pechtholds Füller über das Papier kratzen, grinste – und ließ sie ins Schloss schnappen.
Plötzlich schlug eine weiße Lichtwand von vorn wie ein Blitz durch Sinrot hindurch. Sein Körper schien in eine Explosion moskitogroßer schwarzer Splitter zu desintegrieren, doch re–integrierte sofort und fiel vorneüber. Den Sturz abzufangen, schnellten die muskulösen Arme nach vorn, und die breiten Schultern und angewinkelten Armgelenke federten die Wucht des Einschlags ab, sodass dieser nicht zu hören war.
Sinrots Körper entspannte. Nach wenigen Sekunden war das Flimmern in seinen Augen erloschen. Benommen starrte er auf seine feingliedrigen Hände, die ihn abstützten, auf den dunkelgrauen Teppichboden, die hellgraue Fußleiste. Das Benommene war verflogen, die Gedanken wieder klar. Er wunderte sich:
Ungewöhnlich, dieses Phänomen. Was war das gewesen, dieses Licht, dieses Glühen, dieses Flimmern? Wie damals, als er sich dieses Virus von Emma eingefangen hatte! Sinrot schüttelte den Kopf: Quatsch! Damals war nicht heute und heute war er nicht krank. Außerdem flimmerte und glühte nichts mehr. Kein Grund zur Sorge also.
Sinrot konzentrierte sich, stand auf, und strebte zügig den Toiletten zu, die sich links gegenüber dem Büro von Herrn Pechthold befanden. Sinrot war irritiert:
Zum Glück hatte niemand ihn stürzen sehen! Wie afunktionell! Und Seltsam: Die Cholesterinwerte beim letzten Checkup hatten doch wie üblich brilliert, die Blutdruckwerte ebenso.
Mittlerweile stand Sinrot vor dem Waschbecken des Toilettenraums und schaute in den Spiegel. Matt drehte er den Wasserhahn auf, ließ sich mit den Ellenbogen auf den Rand des Waschbeckens sacken und kaltes Wasser über die Handrücken laufen. Sein Kopf legte sich in den Nacken. Sinrot betrachtete seine winzigen Pupillen, das feste Graublau seiner Iriden.
Es strahlte nicht so klar wie sonst! – Ach. Das war der Spiegel mit seiner Brauntönung. Und dieser kitschige Goldrahmen reflektierte auch. Geschmacklos!
Sinrot bevorzugte die sachliche Form und kühle Farbkomposition. Schnörkel lagen ihm nicht. Draußen war das Schnappen eines Schlosses zu hören. Sinrots Kopfhaut spannte sich:
Auf dem Flur hatte jemand eine Tür geschlossen! War das Pechthold? Sinrot drehte den Hahn zu und richtete sich auf. Am besten wartete er noch einen Augenblick.